Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
geometrisch und vegetabilisch, thierisch, menschlich organische Gestalten gehen
geometriſch und vegetabiliſch, thieriſch, menſchlich organiſche Geſtalten gehen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0279" n="771"/> geometriſch und vegetabiliſch, thieriſch, menſchlich organiſche Geſtalten gehen<lb/> phantaſtiſch ineinander über. Dieſe Phantaſtik iſt aber kein Chaos, auch<lb/> nicht blos äußerlich von dem geometriſchen Schema der Baukunſt geordnet;<lb/> das Geſetz der organiſchen Bildung dringt vielmehr, nachdem es in der<lb/> Grundlage abgeſchafft iſt, in einer neuen Form wieder ein, nämlich als<lb/> ein Geſetz der künſtleriſchen Entwicklung einer Form aus der andern. Es<lb/> macht ſich hier der Begriff des Motivs ſowohl im Sinne von §. 493, <hi rendition="#sub">1.</hi>,<lb/> wo in der Anm. auch wirklich das Ornament ſchon berührt iſt, als auch im<lb/> Sinne von §. 499, <hi rendition="#sub">2.</hi> geltend: jede Form ſoll begründend und jede ſoll<lb/> begründet ſein; wie Ranken und Blätter laufen, ſich ſpalten, ſich zurück-<lb/> wenden, wie Pflanzenform in Thierform übergeht und umgekehrt, wie<lb/> Genien aus Blumenkelchen lauſchen u. ſ. w.: das Alles geſtaltet ſich durch<lb/> einen in der Tiefe des Kunſtgefühls treibenden Keim, der Eines aus dem<lb/> Andern hervorwachſen läßt. Nun aber legt ſich in dieſe Welt erſt der<lb/> tiefere Sinn, der Gedanke. Er webt und ſchwebt durch ſie hin und her<lb/> wie die tiefere Bedeutung durch das Mährchen, mit dem man die Arabeske<lb/> oft genug verglichen hat. Hiedurch iſt denn die Bahn eröffnet, wodurch<lb/> die Arabeske in unendlichen geiſtreichen Andeutungen Sinn und Idee des<lb/> Raums, der Kunſtwerke, die ſie umſäumt, wiederholen, ernſt und hu-<lb/> moriſtiſch accompagniren, paraphraſiren wird, wie die Muſik im Phanta-<lb/> ſiren ein Thema umſpielt. Zugleich iſt es ihr unbenommen, in ihre<lb/> Felder und Oeffnungen auch ganze kleine Scenen, organiſch regelmäßige<lb/> Geſtalten in naturgemäßerer Handlung einzuflechten. — Die Arabeske wirft<lb/> ſich nun auch auf ein kleineres Feld, auf vergänglicheres Material, geſellt<lb/> ſich zur Caricatur, zur Illuſtration. Die Grundlage bleibt auch hier<lb/> architektoniſch: ſie umrankt Einfaſſungen einer geregelten Compoſition, ſie<lb/> ſpielt an der architektoniſchen Form von Buchſtaben (Initialen), Colonnen<lb/> hin und her und läßt den Inhalt des Textes phantaſtiſch ausathmen, aus-<lb/> blühen. Hier iſt der Ort für die Kunſt der <hi rendition="#g">Miniatur-Malerei</hi> in<lb/> Farben, hier für die künſtleriſche Genialität, welche, auf völlige Aus-<lb/> führung mit den Mitteln der Farbe verzichtend, dem inneren Ueberfluß der<lb/> Schöpfung ſein Bett in der Zeichnung, in Holzſchnitt, Stich, Lithographie<lb/> anweist. Der deutſche Geiſt hat, wie wir in dem Abriß der Geſchichte<lb/> angeführt, frühe ſchon auf dieſe geiſtreichen Spiele nur zu viel Kraft<lb/> verſchwendet, aber er hat auch immer gezeigt, welche Fülle ſie in ſich<lb/> aufnehmen könne. — Endlich wirft die Malerei, wie die Plaſtik, einen<lb/> Abglanz ihres höheren Lebens ſelbſt auf die kleine Welt des nächſten Be-<lb/> dürfniſſes, auf die Werke der Zierplaſtik bis hinunter auf Doſen und<lb/> Tabakspfeifen, wir verfolgen dieſe im Kleinen verſchwindenden Strahlen,<lb/> nachdem wir ſie ſchon zu §. 596, <hi rendition="#sub">2.</hi> angedeutet und namentlich die Vaſen-<lb/> malerei berührt haben, nicht weiter.</hi> </p> </div><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [771/0279]
geometriſch und vegetabiliſch, thieriſch, menſchlich organiſche Geſtalten gehen
phantaſtiſch ineinander über. Dieſe Phantaſtik iſt aber kein Chaos, auch
nicht blos äußerlich von dem geometriſchen Schema der Baukunſt geordnet;
das Geſetz der organiſchen Bildung dringt vielmehr, nachdem es in der
Grundlage abgeſchafft iſt, in einer neuen Form wieder ein, nämlich als
ein Geſetz der künſtleriſchen Entwicklung einer Form aus der andern. Es
macht ſich hier der Begriff des Motivs ſowohl im Sinne von §. 493, 1.,
wo in der Anm. auch wirklich das Ornament ſchon berührt iſt, als auch im
Sinne von §. 499, 2. geltend: jede Form ſoll begründend und jede ſoll
begründet ſein; wie Ranken und Blätter laufen, ſich ſpalten, ſich zurück-
wenden, wie Pflanzenform in Thierform übergeht und umgekehrt, wie
Genien aus Blumenkelchen lauſchen u. ſ. w.: das Alles geſtaltet ſich durch
einen in der Tiefe des Kunſtgefühls treibenden Keim, der Eines aus dem
Andern hervorwachſen läßt. Nun aber legt ſich in dieſe Welt erſt der
tiefere Sinn, der Gedanke. Er webt und ſchwebt durch ſie hin und her
wie die tiefere Bedeutung durch das Mährchen, mit dem man die Arabeske
oft genug verglichen hat. Hiedurch iſt denn die Bahn eröffnet, wodurch
die Arabeske in unendlichen geiſtreichen Andeutungen Sinn und Idee des
Raums, der Kunſtwerke, die ſie umſäumt, wiederholen, ernſt und hu-
moriſtiſch accompagniren, paraphraſiren wird, wie die Muſik im Phanta-
ſiren ein Thema umſpielt. Zugleich iſt es ihr unbenommen, in ihre
Felder und Oeffnungen auch ganze kleine Scenen, organiſch regelmäßige
Geſtalten in naturgemäßerer Handlung einzuflechten. — Die Arabeske wirft
ſich nun auch auf ein kleineres Feld, auf vergänglicheres Material, geſellt
ſich zur Caricatur, zur Illuſtration. Die Grundlage bleibt auch hier
architektoniſch: ſie umrankt Einfaſſungen einer geregelten Compoſition, ſie
ſpielt an der architektoniſchen Form von Buchſtaben (Initialen), Colonnen
hin und her und läßt den Inhalt des Textes phantaſtiſch ausathmen, aus-
blühen. Hier iſt der Ort für die Kunſt der Miniatur-Malerei in
Farben, hier für die künſtleriſche Genialität, welche, auf völlige Aus-
führung mit den Mitteln der Farbe verzichtend, dem inneren Ueberfluß der
Schöpfung ſein Bett in der Zeichnung, in Holzſchnitt, Stich, Lithographie
anweist. Der deutſche Geiſt hat, wie wir in dem Abriß der Geſchichte
angeführt, frühe ſchon auf dieſe geiſtreichen Spiele nur zu viel Kraft
verſchwendet, aber er hat auch immer gezeigt, welche Fülle ſie in ſich
aufnehmen könne. — Endlich wirft die Malerei, wie die Plaſtik, einen
Abglanz ihres höheren Lebens ſelbſt auf die kleine Welt des nächſten Be-
dürfniſſes, auf die Werke der Zierplaſtik bis hinunter auf Doſen und
Tabakspfeifen, wir verfolgen dieſe im Kleinen verſchwindenden Strahlen,
nachdem wir ſie ſchon zu §. 596, 2. angedeutet und namentlich die Vaſen-
malerei berührt haben, nicht weiter.
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