Die Caricatur. -- Die vervielfältigende Technik. -- Die Decorationsmalerei. -- Die schöne Gartenkunst.
§. 742.
1.
Die Malerei bewegt sich frei und wirkungsreich in dem Gebiete, worin die Tendenz unter der Satyre sich versteckt (vergl. §. 547). In dieser nimmt die Idee zu der Wirklichkeit entweder die Stellung ein, daß der strafende Ernst über den Scherz oder daß dieser über jenen vorwiegt, und das letztere, freiere Ver- hältniß erhebt sich bis an die Grenze des rein komischen Sittenbildes, das sich in dem flüchtigeren Theile seiner Erfindungen wirklich an dieses Gebiet knüpft. 2.Das allgemeine Hauptmittel der satyrischen Malerei ist die Uebertreibung des Charakteristischen: die Caricatur (vergl. §. 151), übrigens durchläuft sie auf diesem Boden die Formen der Posse, dient vorzüglich dem Witze und liebt mit dem Humor (vergl. §. 214 und 440) die grotteske Verschlingung der Ge- stalten. Der Anschluß an die Literatur, der vorzüglich diesem Uebenzweige der Kunst zusteht, ist sowohl ein Ausdruck seiner Unselbständigkeit, als auch ein Mittel seines fruchtbaren Eindringens in das Leben.
1. Wir heben unter den anhängenden Gebieten zuerst dasjenige her- aus, welches in dieser Kunst das bedeutendste ist. Will man es gerecht beurtheilen, so darf man nicht den Maaßstab des rein Aesthetischen, son- dern muß den gemischten des ästhetischen und des ethisch historischen Stand- puncts anlegen: was an eigentlicher, reiner Kunst verloren geht, wird an directem Einfluß auf das Leben, eindringlicher Durchsäuerung und Durch- salzung seiner trägen und schlechten Stoffe gewonnen. Man erinnere sich nur an die unendlichen Caricaturen der Reformationszeit, den äzenden Ausdruck ihrer kritischen Schärfe, ihres erwachten Bewußtseins. -- Schon zu §. 547 ist gesagt, daß die Malerei auf dem Boden, der sich nun vor uns ausbreitet, unendlich freier und fruchtbarer sich bewegt, als die Plastik; dieß erklärt sich einfach aus ihrem Kunstverfahren und aus der Geltung, welche durch ihr Stylgesetz denjenigen Momenten gegeben ist, deren aus- drückliche Verschärfung eben das Hauptmittel satyrischer Darstellung be- gründet: der volleren Naturnachahmung und der Individualisirung. --
Anhang.
Die Caricatur. — Die vervielfältigende Technik. — Die Decorationsmalerei. — Die ſchöne Gartenkunſt.
§. 742.
1.
Die Malerei bewegt ſich frei und wirkungsreich in dem Gebiete, worin die Tendenz unter der Satyre ſich verſteckt (vergl. §. 547). In dieſer nimmt die Idee zu der Wirklichkeit entweder die Stellung ein, daß der ſtrafende Ernſt über den Scherz oder daß dieſer über jenen vorwiegt, und das letztere, freiere Ver- hältniß erhebt ſich bis an die Grenze des rein komiſchen Sittenbildes, das ſich in dem flüchtigeren Theile ſeiner Erfindungen wirklich an dieſes Gebiet knüpft. 2.Das allgemeine Hauptmittel der ſatyriſchen Malerei iſt die Uebertreibung des Charakteriſtiſchen: die Caricatur (vergl. §. 151), übrigens durchläuft ſie auf dieſem Boden die Formen der Poſſe, dient vorzüglich dem Witze und liebt mit dem Humor (vergl. §. 214 und 440) die grotteske Verſchlingung der Ge- ſtalten. Der Anſchluß an die Literatur, der vorzüglich dieſem Uebenzweige der Kunſt zuſteht, iſt ſowohl ein Ausdruck ſeiner Unſelbſtändigkeit, als auch ein Mittel ſeines fruchtbaren Eindringens in das Leben.
1. Wir heben unter den anhängenden Gebieten zuerſt dasjenige her- aus, welches in dieſer Kunſt das bedeutendſte iſt. Will man es gerecht beurtheilen, ſo darf man nicht den Maaßſtab des rein Aeſthetiſchen, ſon- dern muß den gemiſchten des äſthetiſchen und des ethiſch hiſtoriſchen Stand- puncts anlegen: was an eigentlicher, reiner Kunſt verloren geht, wird an directem Einfluß auf das Leben, eindringlicher Durchſäuerung und Durch- ſalzung ſeiner trägen und ſchlechten Stoffe gewonnen. Man erinnere ſich nur an die unendlichen Caricaturen der Reformationszeit, den äzenden Ausdruck ihrer kritiſchen Schärfe, ihres erwachten Bewußtſeins. — Schon zu §. 547 iſt geſagt, daß die Malerei auf dem Boden, der ſich nun vor uns ausbreitet, unendlich freier und fruchtbarer ſich bewegt, als die Plaſtik; dieß erklärt ſich einfach aus ihrem Kunſtverfahren und aus der Geltung, welche durch ihr Stylgeſetz denjenigen Momenten gegeben iſt, deren aus- drückliche Verſchärfung eben das Hauptmittel ſatyriſcher Darſtellung be- gründet: der volleren Naturnachahmung und der Individualiſirung. —
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Anhang.
Die Caricatur. — Die vervielfältigende Technik. — Die
Decorationsmalerei. — Die ſchöne Gartenkunſt.
§. 742.
Die Malerei bewegt ſich frei und wirkungsreich in dem Gebiete, worin
die Tendenz unter der Satyre ſich verſteckt (vergl. §. 547). In dieſer nimmt
die Idee zu der Wirklichkeit entweder die Stellung ein, daß der ſtrafende Ernſt
über den Scherz oder daß dieſer über jenen vorwiegt, und das letztere, freiere Ver-
hältniß erhebt ſich bis an die Grenze des rein komiſchen Sittenbildes, das ſich
in dem flüchtigeren Theile ſeiner Erfindungen wirklich an dieſes Gebiet knüpft.
Das allgemeine Hauptmittel der ſatyriſchen Malerei iſt die Uebertreibung des
Charakteriſtiſchen: die Caricatur (vergl. §. 151), übrigens durchläuft ſie auf
dieſem Boden die Formen der Poſſe, dient vorzüglich dem Witze und liebt mit
dem Humor (vergl. §. 214 und 440) die grotteske Verſchlingung der Ge-
ſtalten. Der Anſchluß an die Literatur, der vorzüglich dieſem Uebenzweige
der Kunſt zuſteht, iſt ſowohl ein Ausdruck ſeiner Unſelbſtändigkeit, als auch
ein Mittel ſeines fruchtbaren Eindringens in das Leben.
1. Wir heben unter den anhängenden Gebieten zuerſt dasjenige her-
aus, welches in dieſer Kunſt das bedeutendſte iſt. Will man es gerecht
beurtheilen, ſo darf man nicht den Maaßſtab des rein Aeſthetiſchen, ſon-
dern muß den gemiſchten des äſthetiſchen und des ethiſch hiſtoriſchen Stand-
puncts anlegen: was an eigentlicher, reiner Kunſt verloren geht, wird an
directem Einfluß auf das Leben, eindringlicher Durchſäuerung und Durch-
ſalzung ſeiner trägen und ſchlechten Stoffe gewonnen. Man erinnere
ſich nur an die unendlichen Caricaturen der Reformationszeit, den äzenden
Ausdruck ihrer kritiſchen Schärfe, ihres erwachten Bewußtſeins. — Schon
zu §. 547 iſt geſagt, daß die Malerei auf dem Boden, der ſich nun vor
uns ausbreitet, unendlich freier und fruchtbarer ſich bewegt, als die Plaſtik;
dieß erklärt ſich einfach aus ihrem Kunſtverfahren und aus der Geltung,
welche durch ihr Stylgeſetz denjenigen Momenten gegeben iſt, deren aus-
drückliche Verſchärfung eben das Hauptmittel ſatyriſcher Darſtellung be-
gründet: der volleren Naturnachahmung und der Individualiſirung. —
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 756. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/264>, abgerufen am 05.07.2024.
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