Frost des direct idealen Styls und eröffnet in positiver Entscheidung den Ent- wicklungsgang der modernen Malerei. Das erste große Stadium dieser Be- wegung stellt sich in dem Belgier Rubens dar, dessen großartiger Naturalismus mit den mythischen Stoffen noch nicht völlig bricht, zugleich jedoch das Ge- biet der reinen Wirklichkeit in Besitz nimmt und unedle, aber im Geiste des M. Angelo gewaltige Formen durch dramatisches Feuer der Leidenschaft und Handlung, so wie durch die Lebensgluth eines Colorits verklärt, das er insbe- besondere am Muster der Venetianer ausgebildet hat und wodurch er jener im nordisch malerischen Style selbst bis dahin herrschenden falschen Plastik des Umrisses (§. 726) ein Ende macht.
Was die Venetianer vorbereitet, aber nicht durchgeführt haben, wozu die Deutschen den höchsten Beruf zeigen, ohne es doch anders, als ver- einzelt, in's Werk zu setzen, was auch jene italienischen Naturalisten nur mangelhaft beginnen, das übernimmt mit entscheidendem, wiewohl noch nicht nach allen Seiten gleich vordringendem Schritte jener Stamm, der sich jetzt von der Gemeinschaft der deutschen Nation abgesondert und die Kämpfe, welche die Reformation hervorrief, glücklich überstanden hat: die Niederländer. Das moderne Ideal der Malerei soll dem Stoffe nach die Transcendenz abwerfen und die reine Wirklichkeit in Besitz nehmen, der Form nach dem streng malerischen Style das richtige Maaß des pla- stischen beimischen. Der erste Theil dieser Aufgabe wird von den Nieder- ländern erfüllt: es siegt der Geist der Immanenz, der Realität; der zweite Theil wird noch nicht erfüllt, in der außerordentlichen Vervollkomm- nung aller Momente des Malerischen, insbesondere der Farbe, fehlt noch die Zumischung des reineren, höheren Formgefühls. Doch läßt sich das in gewisser Beziehung in Frage stellen; wir kommen auf diesen ver- wickelten Punct zurück. Es wiederholt sich nun hier dieselbe Gruppe, wie im vorh. §., zunächst so, daß die Belgier zusammen mit den Hol- ländern, die der §. noch nicht ausdrücklich nennt, den Kampf gegen den nach Norden verbreiteten kalten, conventionellen Idealismus ebenso übernehmen, wie jene italienischen Naturalisten. Den Gegner brauchen wir nicht noch einmal zu schildern: es ist jener geistlose Formalismus der Nachahmung des reifen italienischen Styls, der in §. 732 aufgeführt ist und in den Niederlanden immer weiter eingedrungen war (Franz Floris "der belgische Raphael" u. And.). Der Zorn dagegen schlägt nun in hellen Flammen durch und wirft absichtlich mit dem steifen Zwang der todten Regel zuerst auch das wahre Maaß zu Boden. Vergleicht man aber Rubens und seine Stylgenossen nicht mit jenem ihrem Gegner, sondern unterscheidet sie von den Holländern, so haben sie in dieser Beziehung doch selbst noch einen Rest von Transcendenz und etwas von der Aristokratie des
Froſt des direct idealen Styls und eröffnet in poſitiver Entſcheidung den Ent- wicklungsgang der modernen Malerei. Das erſte große Stadium dieſer Be- wegung ſtellt ſich in dem Belgier Rubens dar, deſſen großartiger Naturaliſmus mit den mythiſchen Stoffen noch nicht völlig bricht, zugleich jedoch das Ge- biet der reinen Wirklichkeit in Beſitz nimmt und unedle, aber im Geiſte des M. Angelo gewaltige Formen durch dramatiſches Feuer der Leidenſchaft und Handlung, ſo wie durch die Lebensgluth eines Colorits verklärt, das er insbe- beſondere am Muſter der Venetianer ausgebildet hat und wodurch er jener im nordiſch maleriſchen Style ſelbſt bis dahin herrſchenden falſchen Plaſtik des Umriſſes (§. 726) ein Ende macht.
Was die Venetianer vorbereitet, aber nicht durchgeführt haben, wozu die Deutſchen den höchſten Beruf zeigen, ohne es doch anders, als ver- einzelt, in’s Werk zu ſetzen, was auch jene italieniſchen Naturaliſten nur mangelhaft beginnen, das übernimmt mit entſcheidendem, wiewohl noch nicht nach allen Seiten gleich vordringendem Schritte jener Stamm, der ſich jetzt von der Gemeinſchaft der deutſchen Nation abgeſondert und die Kämpfe, welche die Reformation hervorrief, glücklich überſtanden hat: die Niederländer. Das moderne Ideal der Malerei ſoll dem Stoffe nach die Tranſcendenz abwerfen und die reine Wirklichkeit in Beſitz nehmen, der Form nach dem ſtreng maleriſchen Style das richtige Maaß des pla- ſtiſchen beimiſchen. Der erſte Theil dieſer Aufgabe wird von den Nieder- ländern erfüllt: es ſiegt der Geiſt der Immanenz, der Realität; der zweite Theil wird noch nicht erfüllt, in der außerordentlichen Vervollkomm- nung aller Momente des Maleriſchen, insbeſondere der Farbe, fehlt noch die Zumiſchung des reineren, höheren Formgefühls. Doch läßt ſich das in gewiſſer Beziehung in Frage ſtellen; wir kommen auf dieſen ver- wickelten Punct zurück. Es wiederholt ſich nun hier dieſelbe Gruppe, wie im vorh. §., zunächſt ſo, daß die Belgier zuſammen mit den Hol- ländern, die der §. noch nicht ausdrücklich nennt, den Kampf gegen den nach Norden verbreiteten kalten, conventionellen Idealiſmus ebenſo übernehmen, wie jene italieniſchen Naturaliſten. Den Gegner brauchen wir nicht noch einmal zu ſchildern: es iſt jener geiſtloſe Formaliſmus der Nachahmung des reifen italieniſchen Styls, der in §. 732 aufgeführt iſt und in den Niederlanden immer weiter eingedrungen war (Franz Floris „der belgiſche Raphael“ u. And.). Der Zorn dagegen ſchlägt nun in hellen Flammen durch und wirft abſichtlich mit dem ſteifen Zwang der todten Regel zuerſt auch das wahre Maaß zu Boden. Vergleicht man aber Rubens und ſeine Stylgenoſſen nicht mit jenem ihrem Gegner, ſondern unterſcheidet ſie von den Holländern, ſo haben ſie in dieſer Beziehung doch ſelbſt noch einen Reſt von Tranſcendenz und etwas von der Ariſtokratie des
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Froſt des direct idealen Styls und eröffnet in poſitiver Entſcheidung den Ent-
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mit den mythiſchen Stoffen noch nicht völlig bricht, zugleich jedoch das Ge-
biet der reinen Wirklichkeit in Beſitz nimmt und unedle, aber im Geiſte des
M. Angelo gewaltige Formen durch dramatiſches Feuer der Leidenſchaft und
Handlung, ſo wie durch die Lebensgluth eines Colorits verklärt, das er insbe-
beſondere am Muſter der Venetianer ausgebildet hat und wodurch er jener im
nordiſch maleriſchen Style ſelbſt bis dahin herrſchenden falſchen Plaſtik des
Umriſſes (§. 726) ein Ende macht.
Was die Venetianer vorbereitet, aber nicht durchgeführt haben, wozu
die Deutſchen den höchſten Beruf zeigen, ohne es doch anders, als ver-
einzelt, in’s Werk zu ſetzen, was auch jene italieniſchen Naturaliſten nur
mangelhaft beginnen, das übernimmt mit entſcheidendem, wiewohl noch
nicht nach allen Seiten gleich vordringendem Schritte jener Stamm, der
ſich jetzt von der Gemeinſchaft der deutſchen Nation abgeſondert und die
Kämpfe, welche die Reformation hervorrief, glücklich überſtanden hat: die
Niederländer. Das moderne Ideal der Malerei ſoll dem Stoffe nach
die Tranſcendenz abwerfen und die reine Wirklichkeit in Beſitz nehmen,
der Form nach dem ſtreng maleriſchen Style das richtige Maaß des pla-
ſtiſchen beimiſchen. Der erſte Theil dieſer Aufgabe wird von den Nieder-
ländern erfüllt: es ſiegt der Geiſt der Immanenz, der Realität; der
zweite Theil wird noch nicht erfüllt, in der außerordentlichen Vervollkomm-
nung aller Momente des Maleriſchen, insbeſondere der Farbe, fehlt noch
die Zumiſchung des reineren, höheren Formgefühls. Doch läßt ſich das
in gewiſſer Beziehung in Frage ſtellen; wir kommen auf dieſen ver-
wickelten Punct zurück. Es wiederholt ſich nun hier dieſelbe Gruppe,
wie im vorh. §., zunächſt ſo, daß die Belgier zuſammen mit den Hol-
ländern, die der §. noch nicht ausdrücklich nennt, den Kampf gegen den nach
Norden verbreiteten kalten, conventionellen Idealiſmus ebenſo übernehmen,
wie jene italieniſchen Naturaliſten. Den Gegner brauchen wir nicht noch
einmal zu ſchildern: es iſt jener geiſtloſe Formaliſmus der Nachahmung
des reifen italieniſchen Styls, der in §. 732 aufgeführt iſt und in den
Niederlanden immer weiter eingedrungen war (Franz Floris „der belgiſche
Raphael“ u. And.). Der Zorn dagegen ſchlägt nun in hellen Flammen
durch und wirft abſichtlich mit dem ſteifen Zwang der todten Regel zuerſt
auch das wahre Maaß zu Boden. Vergleicht man aber Rubens und
ſeine Stylgenoſſen nicht mit jenem ihrem Gegner, ſondern unterſcheidet
ſie von den Holländern, ſo haben ſie in dieſer Beziehung doch ſelbſt
noch einen Reſt von Tranſcendenz und etwas von der Ariſtokratie des
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 742. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/250>, abgerufen am 17.02.2025.
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