Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
Menschlichkeit, in welche er einen kirchlich mythischen Stoff umsetzt: so in §. 732. Zwei bezeichnende Erscheinungen treten als Ausläufer dieses Zeitraums Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal
Menſchlichkeit, in welche er einen kirchlich mythiſchen Stoff umſetzt: ſo in §. 732. Zwei bezeichnende Erſcheinungen treten als Ausläufer dieſes Zeitraums Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0246" n="738"/> Menſchlichkeit, in welche er einen kirchlich mythiſchen Stoff umſetzt: ſo in<lb/> der herrlichen Gruppe der Madonna und der Bürgermeiſterfamilie in<lb/> Dresden. Aber er kann auf dieſem Wege nicht fortgehen, die Nation,<lb/> die Zeit trägt ihn nicht, die erforderlichen Zweige der Kunſt ſind noch<lb/> nicht reif zum Ausſchlüpfen und ſo wirft er ſich mit ſeiner plaſtiſch geläu-<lb/> terten Phyſiognomik zuletzt ganz auf das Porträt; von dieſer Seite haben<lb/> wir die wunderbare Natur des Mannes ſchon zu §. 708 beſprochen. —<lb/> H. Holbein ſteht allerdings nicht ganz allein; in der fränkiſchen Gruppe<lb/> der Schüler Dürers und verwandter Richtungen leuchtet M. <hi rendition="#g">Grünewald</hi><lb/> mit ſeinem tieferen Gefühl der Grazie hervor, in Ulm eignet ſich der<lb/> offene, milde M. <hi rendition="#g">Schaffner</hi> italieniſchen Zug der Zeichnung an, der<lb/> Gmünder <hi rendition="#g">Hans Baldung Grien</hi> zeigt vollere Formen und Kenntniß<lb/> des Correggio; allein auch dieſe Männer ſtehen vereinzelt und der Sinn<lb/> für die gereinigte Form hat in ihnen weit nicht die Kraft und Fülle wie<lb/> in H. Holbein. So bleibt es dabei, daß es für eine wahre innere Ver-<lb/> ſchmelzung des nöthigen Maaßes plaſtiſcher Schönheit mit dem ſtreng<lb/> maleriſchen Style zu ſpät und zu früh war. Unter wachſender ſittenbild-<lb/> licher Behandlung der religiöſen Stoffe ſehen wir auch am Niederrhein<lb/> ſeelenvolle Empfindung mitten in ſcharf individueller Umgebung ſich in<lb/> anmuthvollere Form kleiden; wir erinnern an den Kölner Meiſter vom<lb/> Tode der Maria (ſonſt mit Schoreel verwechſelt) und Andere; beſonders<lb/> intereſſant aber wendet ſich die Sache in den Niederlanden, was zum<lb/> Schluß noch ausdrücklich hervorzuheben iſt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 732.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Zwei bezeichnende Erſcheinungen treten als Ausläufer dieſes Zeitraums<lb/> in den Niederlanden hervor: die erſten Uebergänge zum reinen Sittenbild und zur<lb/> Landſchaft, zugleich aber ſtatt einer organiſchen Fortbildung jener Einflüſſe des<lb/> italieniſchen Styls eine völlig unfreie, des eigenen Geiſtes ſich entäußernde,<lb/> leere Nachahmung ſeiner Formen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal<lb/> hinüberweiſe, wie die venetianiſche Schule, bildet die in das ſechzehnte<lb/> Jahrhundert tiefer hineinlaufenden Schlußpuncte dieſer Periode der deut-<lb/> ſchen Malerei. Eine ſolche hätte ja nur in einer entſchiedenen, ſchwung-<lb/> haften Wendung zu dem ſogenannten Profanen und in einer Läuterung<lb/> des Styls zu reinen Formen beſtehen können. Jene Wendung tritt noch<lb/> nicht ein, aber vereinzelte merkwürdige Uebergänge, und zwar da, wo<lb/> ſpäter die betreffenden Zweige zuerſt aufblühen ſollten: in Flandern und<lb/> Holland. Merkwürdiger Weiſe wirft ein und derſelbe Künſtler, der im<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [738/0246]
Menſchlichkeit, in welche er einen kirchlich mythiſchen Stoff umſetzt: ſo in
der herrlichen Gruppe der Madonna und der Bürgermeiſterfamilie in
Dresden. Aber er kann auf dieſem Wege nicht fortgehen, die Nation,
die Zeit trägt ihn nicht, die erforderlichen Zweige der Kunſt ſind noch
nicht reif zum Ausſchlüpfen und ſo wirft er ſich mit ſeiner plaſtiſch geläu-
terten Phyſiognomik zuletzt ganz auf das Porträt; von dieſer Seite haben
wir die wunderbare Natur des Mannes ſchon zu §. 708 beſprochen. —
H. Holbein ſteht allerdings nicht ganz allein; in der fränkiſchen Gruppe
der Schüler Dürers und verwandter Richtungen leuchtet M. Grünewald
mit ſeinem tieferen Gefühl der Grazie hervor, in Ulm eignet ſich der
offene, milde M. Schaffner italieniſchen Zug der Zeichnung an, der
Gmünder Hans Baldung Grien zeigt vollere Formen und Kenntniß
des Correggio; allein auch dieſe Männer ſtehen vereinzelt und der Sinn
für die gereinigte Form hat in ihnen weit nicht die Kraft und Fülle wie
in H. Holbein. So bleibt es dabei, daß es für eine wahre innere Ver-
ſchmelzung des nöthigen Maaßes plaſtiſcher Schönheit mit dem ſtreng
maleriſchen Style zu ſpät und zu früh war. Unter wachſender ſittenbild-
licher Behandlung der religiöſen Stoffe ſehen wir auch am Niederrhein
ſeelenvolle Empfindung mitten in ſcharf individueller Umgebung ſich in
anmuthvollere Form kleiden; wir erinnern an den Kölner Meiſter vom
Tode der Maria (ſonſt mit Schoreel verwechſelt) und Andere; beſonders
intereſſant aber wendet ſich die Sache in den Niederlanden, was zum
Schluß noch ausdrücklich hervorzuheben iſt.
§. 732.
Zwei bezeichnende Erſcheinungen treten als Ausläufer dieſes Zeitraums
in den Niederlanden hervor: die erſten Uebergänge zum reinen Sittenbild und zur
Landſchaft, zugleich aber ſtatt einer organiſchen Fortbildung jener Einflüſſe des
italieniſchen Styls eine völlig unfreie, des eigenen Geiſtes ſich entäußernde,
leere Nachahmung ſeiner Formen.
Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal
hinüberweiſe, wie die venetianiſche Schule, bildet die in das ſechzehnte
Jahrhundert tiefer hineinlaufenden Schlußpuncte dieſer Periode der deut-
ſchen Malerei. Eine ſolche hätte ja nur in einer entſchiedenen, ſchwung-
haften Wendung zu dem ſogenannten Profanen und in einer Läuterung
des Styls zu reinen Formen beſtehen können. Jene Wendung tritt noch
nicht ein, aber vereinzelte merkwürdige Uebergänge, und zwar da, wo
ſpäter die betreffenden Zweige zuerſt aufblühen ſollten: in Flandern und
Holland. Merkwürdiger Weiſe wirft ein und derſelbe Künſtler, der im
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