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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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dringungsprozeß das classische Bildungsferment in sich aufnehmen wird.
Der Humanismus wirkt mehr ethisch, als künstlerisch; die Fabeln des
Alterthums erfreuen wohl, bilden aber das Schönheitsgefühl nicht und
nähren die Liebe zur Allegorie, die jetzt recht aufkommt und die Erfindung
befruchtet, ohne zum qualitativ Schönen zu führen. Wahrhaft naiv sind
bekanntlich die mit classischen Namen getauften Studien Dürers und
L. Kranachs nach dem Nackten. Die räumliche Ferne der Antike und
der italienischen Kunst bringt auch äußerlich ein Hinderniß hinzu. Der
Fall in den gemeinen Naturalismus findet auch jetzt keinen Damm; ein
Albrecht Dürer ist darin so haltlos, als die Meister des fünfzehnten Jahr-
hunderts, und stellt die gemeinsten, albernsten Köpfe neben die charakter-
vollsten. Das Komische findet nun bestimmtere Nahrung durch den Humor
der Zeit, der die Illusionen und Vorrechte des Mittelalters zersetzt und
verlacht, zugleich aber allgemein sich zum erstenmal ein deutliches Bewußt-
sein von den Widersprüchen des Lebens gibt. Wir befinden uns nicht
mehr ferne von Fischart. Aber dieser Humor bedarf ebenfalls formelle
Durchbildung und hat sie noch nicht. So schlägt er denn gerade jetzt
recht in Phantastik aus, sei es in Erfindungen der eigentlichen Kunst, sei
es im Zweige des Ornaments und der Arabeske. Er paart sich wie bei
Dante mit dem Gespenstischen, traumhaft Schauerlichen. Wir erinnern an
Dürers Holzschnitte zur Offenbarung Johannis, seine Composition: Ritter,
Tod und Teufel und And., an seine von Erfindung sprudelnden Rand-
zeichnungen, an die mährchenhaft wundersamen Compositionen L. Kranachs,
an die Todtentänze, besonders H. Holbeins, an die immer noch beliebten
Caricaturen der Widersacher Christi bei Allen. Es ist immer der deutsche Geist
mit seinem tiefen Berufe zur Komik, mit seiner tiefsinnigen Traumwelt und
mit seinem Eigensinn, die edelsten Kräfte da walten zu lassen, wo sie nicht
hingehören, und eine Fülle von Leben in phantastische Ranken zu treiben,
statt als organischen Bildungstrieb im Mittelpuncte der Kunst wirken zu
lassen; es ist die Absonderlichkeit, die "Schrulle", die wir so schwer los
werden. Was nun aber früher nur ein ungeläutertes Fühlen war, das
wird, da der Geist zu sich kommt und doch nicht in die Zucht der reinen
Form genommen wird, nun erst eigentlich Manier. Dieß gilt vom Style
ganz allgemein und abgesehen von besondern Einfällen und Erfindungen;
die knorrigen Ausbiegungen der Linie in der Zeichnung menschlicher Gestalt,
die unmotivirten Nester und Knäuel eckig geknitterter und fahrig aufge-
rollter Falten werden bei vollkommenem Können, höchster Meisterschaft
der Zeichnung jetzt aus Grille, aus Caprice beliebt.

Die Reformation ist im zweiten Theile des Systems mehrfach be-
sprochen. Wirft man die Schuld der Stockung, welche nun bald in der
deutschen Kunst eintrat, auf sie, so ist, sofern der Vorwurf sich auf die

dringungsprozeß das claſſiſche Bildungsferment in ſich aufnehmen wird.
Der Humaniſmus wirkt mehr ethiſch, als künſtleriſch; die Fabeln des
Alterthums erfreuen wohl, bilden aber das Schönheitsgefühl nicht und
nähren die Liebe zur Allegorie, die jetzt recht aufkommt und die Erfindung
befruchtet, ohne zum qualitativ Schönen zu führen. Wahrhaft naiv ſind
bekanntlich die mit claſſiſchen Namen getauften Studien Dürers und
L. Kranachs nach dem Nackten. Die räumliche Ferne der Antike und
der italieniſchen Kunſt bringt auch äußerlich ein Hinderniß hinzu. Der
Fall in den gemeinen Naturaliſmus findet auch jetzt keinen Damm; ein
Albrecht Dürer iſt darin ſo haltlos, als die Meiſter des fünfzehnten Jahr-
hunderts, und ſtellt die gemeinſten, albernſten Köpfe neben die charakter-
vollſten. Das Komiſche findet nun beſtimmtere Nahrung durch den Humor
der Zeit, der die Illuſionen und Vorrechte des Mittelalters zerſetzt und
verlacht, zugleich aber allgemein ſich zum erſtenmal ein deutliches Bewußt-
ſein von den Widerſprüchen des Lebens gibt. Wir befinden uns nicht
mehr ferne von Fiſchart. Aber dieſer Humor bedarf ebenfalls formelle
Durchbildung und hat ſie noch nicht. So ſchlägt er denn gerade jetzt
recht in Phantaſtik aus, ſei es in Erfindungen der eigentlichen Kunſt, ſei
es im Zweige des Ornaments und der Arabeske. Er paart ſich wie bei
Dante mit dem Geſpenſtiſchen, traumhaft Schauerlichen. Wir erinnern an
Dürers Holzſchnitte zur Offenbarung Johannis, ſeine Compoſition: Ritter,
Tod und Teufel und And., an ſeine von Erfindung ſprudelnden Rand-
zeichnungen, an die mährchenhaft wunderſamen Compoſitionen L. Kranachs,
an die Todtentänze, beſonders H. Holbeins, an die immer noch beliebten
Caricaturen der Widerſacher Chriſti bei Allen. Es iſt immer der deutſche Geiſt
mit ſeinem tiefen Berufe zur Komik, mit ſeiner tiefſinnigen Traumwelt und
mit ſeinem Eigenſinn, die edelſten Kräfte da walten zu laſſen, wo ſie nicht
hingehören, und eine Fülle von Leben in phantaſtiſche Ranken zu treiben,
ſtatt als organiſchen Bildungstrieb im Mittelpuncte der Kunſt wirken zu
laſſen; es iſt die Abſonderlichkeit, die „Schrulle“, die wir ſo ſchwer los
werden. Was nun aber früher nur ein ungeläutertes Fühlen war, das
wird, da der Geiſt zu ſich kommt und doch nicht in die Zucht der reinen
Form genommen wird, nun erſt eigentlich Manier. Dieß gilt vom Style
ganz allgemein und abgeſehen von beſondern Einfällen und Erfindungen;
die knorrigen Ausbiegungen der Linie in der Zeichnung menſchlicher Geſtalt,
die unmotivirten Neſter und Knäuel eckig geknitterter und fahrig aufge-
rollter Falten werden bei vollkommenem Können, höchſter Meiſterſchaft
der Zeichnung jetzt aus Grille, aus Caprice beliebt.

Die Reformation iſt im zweiten Theile des Syſtems mehrfach be-
ſprochen. Wirft man die Schuld der Stockung, welche nun bald in der
deutſchen Kunſt eintrat, auf ſie, ſo iſt, ſofern der Vorwurf ſich auf die

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[734/0242] dringungsprozeß das claſſiſche Bildungsferment in ſich aufnehmen wird. Der Humaniſmus wirkt mehr ethiſch, als künſtleriſch; die Fabeln des Alterthums erfreuen wohl, bilden aber das Schönheitsgefühl nicht und nähren die Liebe zur Allegorie, die jetzt recht aufkommt und die Erfindung befruchtet, ohne zum qualitativ Schönen zu führen. Wahrhaft naiv ſind bekanntlich die mit claſſiſchen Namen getauften Studien Dürers und L. Kranachs nach dem Nackten. Die räumliche Ferne der Antike und der italieniſchen Kunſt bringt auch äußerlich ein Hinderniß hinzu. Der Fall in den gemeinen Naturaliſmus findet auch jetzt keinen Damm; ein Albrecht Dürer iſt darin ſo haltlos, als die Meiſter des fünfzehnten Jahr- hunderts, und ſtellt die gemeinſten, albernſten Köpfe neben die charakter- vollſten. Das Komiſche findet nun beſtimmtere Nahrung durch den Humor der Zeit, der die Illuſionen und Vorrechte des Mittelalters zerſetzt und verlacht, zugleich aber allgemein ſich zum erſtenmal ein deutliches Bewußt- ſein von den Widerſprüchen des Lebens gibt. Wir befinden uns nicht mehr ferne von Fiſchart. Aber dieſer Humor bedarf ebenfalls formelle Durchbildung und hat ſie noch nicht. So ſchlägt er denn gerade jetzt recht in Phantaſtik aus, ſei es in Erfindungen der eigentlichen Kunſt, ſei es im Zweige des Ornaments und der Arabeske. Er paart ſich wie bei Dante mit dem Geſpenſtiſchen, traumhaft Schauerlichen. Wir erinnern an Dürers Holzſchnitte zur Offenbarung Johannis, ſeine Compoſition: Ritter, Tod und Teufel und And., an ſeine von Erfindung ſprudelnden Rand- zeichnungen, an die mährchenhaft wunderſamen Compoſitionen L. Kranachs, an die Todtentänze, beſonders H. Holbeins, an die immer noch beliebten Caricaturen der Widerſacher Chriſti bei Allen. Es iſt immer der deutſche Geiſt mit ſeinem tiefen Berufe zur Komik, mit ſeiner tiefſinnigen Traumwelt und mit ſeinem Eigenſinn, die edelſten Kräfte da walten zu laſſen, wo ſie nicht hingehören, und eine Fülle von Leben in phantaſtiſche Ranken zu treiben, ſtatt als organiſchen Bildungstrieb im Mittelpuncte der Kunſt wirken zu laſſen; es iſt die Abſonderlichkeit, die „Schrulle“, die wir ſo ſchwer los werden. Was nun aber früher nur ein ungeläutertes Fühlen war, das wird, da der Geiſt zu ſich kommt und doch nicht in die Zucht der reinen Form genommen wird, nun erſt eigentlich Manier. Dieß gilt vom Style ganz allgemein und abgeſehen von beſondern Einfällen und Erfindungen; die knorrigen Ausbiegungen der Linie in der Zeichnung menſchlicher Geſtalt, die unmotivirten Neſter und Knäuel eckig geknitterter und fahrig aufge- rollter Falten werden bei vollkommenem Können, höchſter Meiſterſchaft der Zeichnung jetzt aus Grille, aus Caprice beliebt. Die Reformation iſt im zweiten Theile des Syſtems mehrfach be- ſprochen. Wirft man die Schuld der Stockung, welche nun bald in der deutſchen Kunſt eintrat, auf ſie, ſo iſt, ſofern der Vorwurf ſich auf die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/242>, abgerufen am 23.11.2024.