Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
ist allerdings zu zeigen, daß derselbe zu einer Seitenthüre hereinbricht. Ein Rückblick auf die Lehre vom Komischen zeigt, wie natürlich im
iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht. Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0235" n="727"/> iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht.<lb/> Um die Terminologie genauer feſtzuſtellen, wiederholen wir, daß wir im<lb/> Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das ſchärfere Erfaſſen<lb/> der beſondern Zuſtände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimiſchung von<lb/> Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenſo das ſchärfere Erfaſſen der<lb/> Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verſtehen. Naturalismus im ge-<lb/> meinen und tadelnden Sinne bezieht ſich auf <hi rendition="#g">beide</hi> Seiten und bezeichnet<lb/> ein wahlloſes Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlaſſung des Rück-<lb/> führens der aufgegriffenen Formen auf ſolche, worin das Ideale mit jenem<lb/> berechtigten Naturalismus und Individualismus ſich in dem Maaße verbindet,<lb/> das im Stylgeſetz einer beſtimmten Kunſt liegt. Die Deutſchen ſind nun<lb/> naturaliſtiſch und individualiſtiſch zunächſt nur in dem Sinne, wie es der<lb/> ächt maleriſche Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organiſchen<lb/> Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus-<lb/> drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu ſchützen. So bricht<lb/> denn, man weiß nie ſicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben<lb/> würdigen, geiſtig ſprechenden Formen und Köpfen die albernſten, gröbſten,<lb/> geiſtloſeſten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutſcher Hausknecht als<lb/> Apoſtel, ein Bauer als Heiliger; wo es abſolute Perſonen, Gott<lb/> Vater, Chriſtus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür-<lb/> lich vollends bis zur gröbſten Naivetät fort. Es iſt hier gemäß dem oben<lb/> Geſagten ebenſo von dem Gepräge der Zuſtände, Lebensbedingungen u. ſ. w.,<lb/> wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn-<lb/> berger Bürgersfrau, ſo ſieht man zugleich, daß eine beſtimmte copirt iſt.<lb/> Die Deutſchen ſind nun alſo dieſem Naturalismus nie ganz verfallen,<lb/> aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachſen. Die Italiener<lb/> dagegen verfielen zwar vorübergehend dieſer Taktloſigkeit (namentlich die<lb/> Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber raſch mit ſicherem Gang<lb/> ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer<lb/> Stylrichtung freilich auch leichter war.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im<lb/> Gefühle dieſes Bruchs und Widerſpruchs zwiſchen Inhalt und Form der<lb/> Uebergang in dieſes Gebiet ſein mußte. Nur iſt auch hier zwiſchen freier<lb/> Erzeugung einer äſthetiſchen Form und einer Flucht in dieſelbe zu unter-<lb/> ſcheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker ſein, als er iſt, wenn<lb/> er mehr Komiſches und weniger komiſch gedichtet hätte. Er abſolvirt ſich<lb/> für eine tiefe Kluft in ſeiner Poeſie durch wilde Schößlinge des Humors.<lb/> Die deutſche Malerei ſchwankt, wie zwiſchen maleriſch berechtigtem und<lb/> unberechtigtem Naturalismus, ſo zwiſchen einem Humor, der motivirt iſt<lb/> (z. B. in der Charakteriſtik der Feinde Chriſti), und einem Humor, worin<lb/> der Künſtler das Mißverhältniß ſeiner Kräfte ironiſirt: ein Bildungstrieb,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [727/0235]
iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht.
Um die Terminologie genauer feſtzuſtellen, wiederholen wir, daß wir im
Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das ſchärfere Erfaſſen
der beſondern Zuſtände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimiſchung von
Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenſo das ſchärfere Erfaſſen der
Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verſtehen. Naturalismus im ge-
meinen und tadelnden Sinne bezieht ſich auf beide Seiten und bezeichnet
ein wahlloſes Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlaſſung des Rück-
führens der aufgegriffenen Formen auf ſolche, worin das Ideale mit jenem
berechtigten Naturalismus und Individualismus ſich in dem Maaße verbindet,
das im Stylgeſetz einer beſtimmten Kunſt liegt. Die Deutſchen ſind nun
naturaliſtiſch und individualiſtiſch zunächſt nur in dem Sinne, wie es der
ächt maleriſche Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organiſchen
Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus-
drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu ſchützen. So bricht
denn, man weiß nie ſicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben
würdigen, geiſtig ſprechenden Formen und Köpfen die albernſten, gröbſten,
geiſtloſeſten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutſcher Hausknecht als
Apoſtel, ein Bauer als Heiliger; wo es abſolute Perſonen, Gott
Vater, Chriſtus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür-
lich vollends bis zur gröbſten Naivetät fort. Es iſt hier gemäß dem oben
Geſagten ebenſo von dem Gepräge der Zuſtände, Lebensbedingungen u. ſ. w.,
wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn-
berger Bürgersfrau, ſo ſieht man zugleich, daß eine beſtimmte copirt iſt.
Die Deutſchen ſind nun alſo dieſem Naturalismus nie ganz verfallen,
aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachſen. Die Italiener
dagegen verfielen zwar vorübergehend dieſer Taktloſigkeit (namentlich die
Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber raſch mit ſicherem Gang
ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer
Stylrichtung freilich auch leichter war.
Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im
Gefühle dieſes Bruchs und Widerſpruchs zwiſchen Inhalt und Form der
Uebergang in dieſes Gebiet ſein mußte. Nur iſt auch hier zwiſchen freier
Erzeugung einer äſthetiſchen Form und einer Flucht in dieſelbe zu unter-
ſcheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker ſein, als er iſt, wenn
er mehr Komiſches und weniger komiſch gedichtet hätte. Er abſolvirt ſich
für eine tiefe Kluft in ſeiner Poeſie durch wilde Schößlinge des Humors.
Die deutſche Malerei ſchwankt, wie zwiſchen maleriſch berechtigtem und
unberechtigtem Naturalismus, ſo zwiſchen einem Humor, der motivirt iſt
(z. B. in der Charakteriſtik der Feinde Chriſti), und einem Humor, worin
der Künſtler das Mißverhältniß ſeiner Kräfte ironiſirt: ein Bildungstrieb,
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