ist allerdings zu zeigen, daß derselbe zu einer Seitenthüre hereinbricht. Um die Terminologie genauer festzustellen, wiederholen wir, daß wir im Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das schärfere Erfassen der besondern Zustände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimischung von Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenso das schärfere Erfassen der Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verstehen. Naturalismus im ge- meinen und tadelnden Sinne bezieht sich auf beide Seiten und bezeichnet ein wahlloses Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlassung des Rück- führens der aufgegriffenen Formen auf solche, worin das Ideale mit jenem berechtigten Naturalismus und Individualismus sich in dem Maaße verbindet, das im Stylgesetz einer bestimmten Kunst liegt. Die Deutschen sind nun naturalistisch und individualistisch zunächst nur in dem Sinne, wie es der ächt malerische Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organischen Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus- drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu schützen. So bricht denn, man weiß nie sicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben würdigen, geistig sprechenden Formen und Köpfen die albernsten, gröbsten, geistlosesten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutscher Hausknecht als Apostel, ein Bauer als Heiliger; wo es absolute Personen, Gott Vater, Christus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür- lich vollends bis zur gröbsten Naivetät fort. Es ist hier gemäß dem oben Gesagten ebenso von dem Gepräge der Zustände, Lebensbedingungen u. s. w., wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn- berger Bürgersfrau, so sieht man zugleich, daß eine bestimmte copirt ist. Die Deutschen sind nun also diesem Naturalismus nie ganz verfallen, aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachsen. Die Italiener dagegen verfielen zwar vorübergehend dieser Taktlosigkeit (namentlich die Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber rasch mit sicherem Gang ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer Stylrichtung freilich auch leichter war.
Ein Rückblick auf die Lehre vom Komischen zeigt, wie natürlich im Gefühle dieses Bruchs und Widerspruchs zwischen Inhalt und Form der Uebergang in dieses Gebiet sein mußte. Nur ist auch hier zwischen freier Erzeugung einer ästhetischen Form und einer Flucht in dieselbe zu unter- scheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker sein, als er ist, wenn er mehr Komisches und weniger komisch gedichtet hätte. Er absolvirt sich für eine tiefe Kluft in seiner Poesie durch wilde Schößlinge des Humors. Die deutsche Malerei schwankt, wie zwischen malerisch berechtigtem und unberechtigtem Naturalismus, so zwischen einem Humor, der motivirt ist (z. B. in der Charakteristik der Feinde Christi), und einem Humor, worin der Künstler das Mißverhältniß seiner Kräfte ironisirt: ein Bildungstrieb,
iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht. Um die Terminologie genauer feſtzuſtellen, wiederholen wir, daß wir im Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das ſchärfere Erfaſſen der beſondern Zuſtände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimiſchung von Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenſo das ſchärfere Erfaſſen der Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verſtehen. Naturalismus im ge- meinen und tadelnden Sinne bezieht ſich auf beide Seiten und bezeichnet ein wahlloſes Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlaſſung des Rück- führens der aufgegriffenen Formen auf ſolche, worin das Ideale mit jenem berechtigten Naturalismus und Individualismus ſich in dem Maaße verbindet, das im Stylgeſetz einer beſtimmten Kunſt liegt. Die Deutſchen ſind nun naturaliſtiſch und individualiſtiſch zunächſt nur in dem Sinne, wie es der ächt maleriſche Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organiſchen Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus- drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu ſchützen. So bricht denn, man weiß nie ſicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben würdigen, geiſtig ſprechenden Formen und Köpfen die albernſten, gröbſten, geiſtloſeſten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutſcher Hausknecht als Apoſtel, ein Bauer als Heiliger; wo es abſolute Perſonen, Gott Vater, Chriſtus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür- lich vollends bis zur gröbſten Naivetät fort. Es iſt hier gemäß dem oben Geſagten ebenſo von dem Gepräge der Zuſtände, Lebensbedingungen u. ſ. w., wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn- berger Bürgersfrau, ſo ſieht man zugleich, daß eine beſtimmte copirt iſt. Die Deutſchen ſind nun alſo dieſem Naturalismus nie ganz verfallen, aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachſen. Die Italiener dagegen verfielen zwar vorübergehend dieſer Taktloſigkeit (namentlich die Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber raſch mit ſicherem Gang ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer Stylrichtung freilich auch leichter war.
Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im Gefühle dieſes Bruchs und Widerſpruchs zwiſchen Inhalt und Form der Uebergang in dieſes Gebiet ſein mußte. Nur iſt auch hier zwiſchen freier Erzeugung einer äſthetiſchen Form und einer Flucht in dieſelbe zu unter- ſcheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker ſein, als er iſt, wenn er mehr Komiſches und weniger komiſch gedichtet hätte. Er abſolvirt ſich für eine tiefe Kluft in ſeiner Poeſie durch wilde Schößlinge des Humors. Die deutſche Malerei ſchwankt, wie zwiſchen maleriſch berechtigtem und unberechtigtem Naturalismus, ſo zwiſchen einem Humor, der motivirt iſt (z. B. in der Charakteriſtik der Feinde Chriſti), und einem Humor, worin der Künſtler das Mißverhältniß ſeiner Kräfte ironiſirt: ein Bildungstrieb,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0235"n="727"/>
iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht.<lb/>
Um die Terminologie genauer feſtzuſtellen, wiederholen wir, daß wir im<lb/>
Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das ſchärfere Erfaſſen<lb/>
der beſondern Zuſtände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimiſchung von<lb/>
Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenſo das ſchärfere Erfaſſen der<lb/>
Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verſtehen. Naturalismus im ge-<lb/>
meinen und tadelnden Sinne bezieht ſich auf <hirendition="#g">beide</hi> Seiten und bezeichnet<lb/>
ein wahlloſes Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlaſſung des Rück-<lb/>
führens der aufgegriffenen Formen auf ſolche, worin das Ideale mit jenem<lb/>
berechtigten Naturalismus und Individualismus ſich in dem Maaße verbindet,<lb/>
das im Stylgeſetz einer beſtimmten Kunſt liegt. Die Deutſchen ſind nun<lb/>
naturaliſtiſch und individualiſtiſch zunächſt nur in dem Sinne, wie es der<lb/>
ächt maleriſche Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organiſchen<lb/>
Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus-<lb/>
drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu ſchützen. So bricht<lb/>
denn, man weiß nie ſicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben<lb/>
würdigen, geiſtig ſprechenden Formen und Köpfen die albernſten, gröbſten,<lb/>
geiſtloſeſten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutſcher Hausknecht als<lb/>
Apoſtel, ein Bauer als Heiliger; wo es abſolute Perſonen, Gott<lb/>
Vater, Chriſtus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür-<lb/>
lich vollends bis zur gröbſten Naivetät fort. Es iſt hier gemäß dem oben<lb/>
Geſagten ebenſo von dem Gepräge der Zuſtände, Lebensbedingungen u. ſ. w.,<lb/>
wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn-<lb/>
berger Bürgersfrau, ſo ſieht man zugleich, daß eine beſtimmte copirt iſt.<lb/>
Die Deutſchen ſind nun alſo dieſem Naturalismus nie ganz verfallen,<lb/>
aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachſen. Die Italiener<lb/>
dagegen verfielen zwar vorübergehend dieſer Taktloſigkeit (namentlich die<lb/>
Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber raſch mit ſicherem Gang<lb/>
ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer<lb/>
Stylrichtung freilich auch leichter war.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im<lb/>
Gefühle dieſes Bruchs und Widerſpruchs zwiſchen Inhalt und Form der<lb/>
Uebergang in dieſes Gebiet ſein mußte. Nur iſt auch hier zwiſchen freier<lb/>
Erzeugung einer äſthetiſchen Form und einer Flucht in dieſelbe zu unter-<lb/>ſcheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker ſein, als er iſt, wenn<lb/>
er mehr Komiſches und weniger komiſch gedichtet hätte. Er abſolvirt ſich<lb/>
für eine tiefe Kluft in ſeiner Poeſie durch wilde Schößlinge des Humors.<lb/>
Die deutſche Malerei ſchwankt, wie zwiſchen maleriſch berechtigtem und<lb/>
unberechtigtem Naturalismus, ſo zwiſchen einem Humor, der motivirt iſt<lb/>
(z. B. in der Charakteriſtik der Feinde Chriſti), und einem Humor, worin<lb/>
der Künſtler das Mißverhältniß ſeiner Kräfte ironiſirt: ein Bildungstrieb,<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[727/0235]
iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht.
Um die Terminologie genauer feſtzuſtellen, wiederholen wir, daß wir im
Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das ſchärfere Erfaſſen
der beſondern Zuſtände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimiſchung von
Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenſo das ſchärfere Erfaſſen der
Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verſtehen. Naturalismus im ge-
meinen und tadelnden Sinne bezieht ſich auf beide Seiten und bezeichnet
ein wahlloſes Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlaſſung des Rück-
führens der aufgegriffenen Formen auf ſolche, worin das Ideale mit jenem
berechtigten Naturalismus und Individualismus ſich in dem Maaße verbindet,
das im Stylgeſetz einer beſtimmten Kunſt liegt. Die Deutſchen ſind nun
naturaliſtiſch und individualiſtiſch zunächſt nur in dem Sinne, wie es der
ächt maleriſche Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organiſchen
Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus-
drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu ſchützen. So bricht
denn, man weiß nie ſicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben
würdigen, geiſtig ſprechenden Formen und Köpfen die albernſten, gröbſten,
geiſtloſeſten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutſcher Hausknecht als
Apoſtel, ein Bauer als Heiliger; wo es abſolute Perſonen, Gott
Vater, Chriſtus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür-
lich vollends bis zur gröbſten Naivetät fort. Es iſt hier gemäß dem oben
Geſagten ebenſo von dem Gepräge der Zuſtände, Lebensbedingungen u. ſ. w.,
wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn-
berger Bürgersfrau, ſo ſieht man zugleich, daß eine beſtimmte copirt iſt.
Die Deutſchen ſind nun alſo dieſem Naturalismus nie ganz verfallen,
aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachſen. Die Italiener
dagegen verfielen zwar vorübergehend dieſer Taktloſigkeit (namentlich die
Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber raſch mit ſicherem Gang
ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer
Stylrichtung freilich auch leichter war.
Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im
Gefühle dieſes Bruchs und Widerſpruchs zwiſchen Inhalt und Form der
Uebergang in dieſes Gebiet ſein mußte. Nur iſt auch hier zwiſchen freier
Erzeugung einer äſthetiſchen Form und einer Flucht in dieſelbe zu unter-
ſcheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker ſein, als er iſt, wenn
er mehr Komiſches und weniger komiſch gedichtet hätte. Er abſolvirt ſich
für eine tiefe Kluft in ſeiner Poeſie durch wilde Schößlinge des Humors.
Die deutſche Malerei ſchwankt, wie zwiſchen maleriſch berechtigtem und
unberechtigtem Naturalismus, ſo zwiſchen einem Humor, der motivirt iſt
(z. B. in der Charakteriſtik der Feinde Chriſti), und einem Humor, worin
der Künſtler das Mißverhältniß ſeiner Kräfte ironiſirt: ein Bildungstrieb,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/235>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.