Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
der Stimmungen und Triebe, in die sie blicken läßt, kann und soll doch Nachdem wir nun vom Prinzip dieses Styls den Vorwurf des Na-
der Stimmungen und Triebe, in die ſie blicken läßt, kann und ſoll doch Nachdem wir nun vom Prinzip dieſes Styls den Vorwurf des Na- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0234" n="726"/> der Stimmungen und Triebe, in die ſie blicken läßt, kann und ſoll doch<lb/> dem Geiſte, deſſen Aeußeres ſie einmal iſt, als flüſſiges und geſchmeidiges<lb/> Organ dienen. Da aber eben ſitzt der Mangel, da geht jenes Maaß des<lb/> Plaſtiſchen ab, ohne das der ächt maleriſche Styl ſelbſt durchaus unreif<lb/> bleiben muß. Es herrſcht ein völliges Unverſtändniß des Geſammt-Or-<lb/> ganiſmus der Geſtalt; dürr, ſteif, hölzern, trocken ſcheint er zu knarren<lb/> wie eine ungeölte Thür, wenn er ſich im Dienſte der Seele bewegen ſoll.<lb/> Dieſer tiefe Mangel weicht nicht, ſondern ſetzt ſich, wie wir ſehen werden,<lb/> in der Zeit der relativ höchſten Reife vollends als Manier feſt und läßt<lb/> nun das Eckige, Dornige nur in um ſo eigenwilligeren Ranken auswach-<lb/> ſen. Bleibt nun die äußere Form und Bewegung in dieſer Weiſe ge-<lb/> bunden, ſo kann ſich auch die Welt der Affecte nicht zu ihrem Reichthum<lb/> entfalten; die Seele, die nicht über ihre Schwelle kann, die ſich am eige-<lb/> nen Körper ſtößt, kann auch nicht als Leidenſchaft herausſtrömen. Dort<lb/> die Welle des Runden, hier die Welle der Leidenſchaft: vor beiden ſcheint<lb/> die winterlich eckige Natur des Deutſchen eine wahre Scheue zu haben.<lb/> Die Italiener ſind nach der letztern Seite ungleich mehr maleriſch. Doch wird<lb/><hi rendition="#g">dieſer</hi> Mangel in der Zeit der großen Meiſter Deutſchlands ungleich mehr<lb/> überwunden, als der erſtere. Trotz den großen Schwächen gibt nun aber jene<lb/> Tiefe des Ausdrucks einer im innerſten Mittelpuncte ſo abſtoßend mangel-<lb/> haften Kunſtwelt dennoch die <hi rendition="#g">Großheit</hi>, die das Merkmal des <hi rendition="#g">Styls</hi><lb/> im intenſiven Sinne des Worts begründet: ein feierliches „Stilleſein vor<lb/> dem Herrn“ beherrſcht das Ganze und gibt auch der armen Form Würde;<lb/> ein tiefer Seelenſchatz von Ehrfurcht legt ſich als hohe, ernſte Feſtlichkeit<lb/> in die Bewegungen. — Daß dieſe in ihren Grundzügen durchaus male-<lb/> riſche Auffaſſung zugleich ein ganz beſonderer Beruf zur <hi rendition="#g">Farbe</hi> war,<lb/> liegt in der Sache. Die Deutſchen gehen hierin voran und erreichen mit<lb/> raſchem Schritte eine bewundernswerthe Höhe. Nur Eines kann unter<lb/> den geſchilderten Bedingungen nicht erreicht werden: die löſende, Umriß<lb/> lockernde Wirkung der Farbe. Die Geſtalten ſind eigentlich ſo behandelt,<lb/> als wagten ſie keine ſchwungvolle, freie Bewegung, um ihren Umriß<lb/> nicht zu zerbrechen, wie Einer wohl fürchten mag, die Beinkleider möchten<lb/> ihm berſten, wenn er laufe oder ſpringe. Hier tritt ſtatt der fehlenden<lb/> wahren eine falſche Art von Plaſtik ein: die Schärfe und Härte des pla-<lb/> ſtiſchen Elements der Zeichnung ohne die <hi rendition="#g">Schönheit</hi>, welche aus dem<lb/><hi rendition="#g">Geiſte</hi> der plaſtiſchen Auffaſſung fließt. In <hi rendition="#g">dieſem</hi> Sinn iſt auch die<lb/> deutſche Malerei im Mittelalter noch zu plaſtiſch. Schon zu §. 694, <hi rendition="#sub">2</hi>.<lb/> haben wir dieſer Erſcheinung bei Anlaß der Skizze gedacht; ſie erſtreckt<lb/> ſich aber in die volle Ausführung hinein.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Nachdem wir nun vom Prinzip dieſes Styls den Vorwurf des Na-<lb/> turalismus, den Begriff im tadelnden Sinne genommen, abgewehrt haben,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [726/0234]
der Stimmungen und Triebe, in die ſie blicken läßt, kann und ſoll doch
dem Geiſte, deſſen Aeußeres ſie einmal iſt, als flüſſiges und geſchmeidiges
Organ dienen. Da aber eben ſitzt der Mangel, da geht jenes Maaß des
Plaſtiſchen ab, ohne das der ächt maleriſche Styl ſelbſt durchaus unreif
bleiben muß. Es herrſcht ein völliges Unverſtändniß des Geſammt-Or-
ganiſmus der Geſtalt; dürr, ſteif, hölzern, trocken ſcheint er zu knarren
wie eine ungeölte Thür, wenn er ſich im Dienſte der Seele bewegen ſoll.
Dieſer tiefe Mangel weicht nicht, ſondern ſetzt ſich, wie wir ſehen werden,
in der Zeit der relativ höchſten Reife vollends als Manier feſt und läßt
nun das Eckige, Dornige nur in um ſo eigenwilligeren Ranken auswach-
ſen. Bleibt nun die äußere Form und Bewegung in dieſer Weiſe ge-
bunden, ſo kann ſich auch die Welt der Affecte nicht zu ihrem Reichthum
entfalten; die Seele, die nicht über ihre Schwelle kann, die ſich am eige-
nen Körper ſtößt, kann auch nicht als Leidenſchaft herausſtrömen. Dort
die Welle des Runden, hier die Welle der Leidenſchaft: vor beiden ſcheint
die winterlich eckige Natur des Deutſchen eine wahre Scheue zu haben.
Die Italiener ſind nach der letztern Seite ungleich mehr maleriſch. Doch wird
dieſer Mangel in der Zeit der großen Meiſter Deutſchlands ungleich mehr
überwunden, als der erſtere. Trotz den großen Schwächen gibt nun aber jene
Tiefe des Ausdrucks einer im innerſten Mittelpuncte ſo abſtoßend mangel-
haften Kunſtwelt dennoch die Großheit, die das Merkmal des Styls
im intenſiven Sinne des Worts begründet: ein feierliches „Stilleſein vor
dem Herrn“ beherrſcht das Ganze und gibt auch der armen Form Würde;
ein tiefer Seelenſchatz von Ehrfurcht legt ſich als hohe, ernſte Feſtlichkeit
in die Bewegungen. — Daß dieſe in ihren Grundzügen durchaus male-
riſche Auffaſſung zugleich ein ganz beſonderer Beruf zur Farbe war,
liegt in der Sache. Die Deutſchen gehen hierin voran und erreichen mit
raſchem Schritte eine bewundernswerthe Höhe. Nur Eines kann unter
den geſchilderten Bedingungen nicht erreicht werden: die löſende, Umriß
lockernde Wirkung der Farbe. Die Geſtalten ſind eigentlich ſo behandelt,
als wagten ſie keine ſchwungvolle, freie Bewegung, um ihren Umriß
nicht zu zerbrechen, wie Einer wohl fürchten mag, die Beinkleider möchten
ihm berſten, wenn er laufe oder ſpringe. Hier tritt ſtatt der fehlenden
wahren eine falſche Art von Plaſtik ein: die Schärfe und Härte des pla-
ſtiſchen Elements der Zeichnung ohne die Schönheit, welche aus dem
Geiſte der plaſtiſchen Auffaſſung fließt. In dieſem Sinn iſt auch die
deutſche Malerei im Mittelalter noch zu plaſtiſch. Schon zu §. 694, 2.
haben wir dieſer Erſcheinung bei Anlaß der Skizze gedacht; ſie erſtreckt
ſich aber in die volle Ausführung hinein.
Nachdem wir nun vom Prinzip dieſes Styls den Vorwurf des Na-
turalismus, den Begriff im tadelnden Sinne genommen, abgewehrt haben,
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