im vollsten Sinne gibt, ebenso die Vielheit von Kunstwerken, die es in sich schließt; und doch ist das Gebiet der wirklichen Bewegung nicht gewonnen: auch die Malerei fesselt noch einen Moment im Raum und behält dadurch den allgemeinen Charakter aller bildenden Kunst, den der Objectivität. Der Verlust muß aber in tieferem Sinne, als dem einer Reihe von äußeren Vortheilen (vergl. §. 649), zugleich unendlicher Gewinn sein: dieß folgt aus dem Satze §. 54, daß im Schönen das körperliche Dasein in reinen Schein umgewandelt wird; je näher eine Kunstform der gänzlichen Vollziehung dieses Acts steht, desto reicher und tiefer ist ihr Wesen.
Es ist hinreichend auf den Satz zurückgewiesen, daß die einzelnen Kunstgebiete, indem sie gewisse Seiten der Erscheinung mit Abstraction von den andern isoliren, in der Entbehrung gewisser Vollkommenheiten andere um so vollständiger erschöpfen (§. 533, 2.). Es bedarf auch keiner wiederholten Darstellung, welches die Vollkommenheiten sind, die der Bildnerkunst durch ihr Verzichten auf das Ganze der Gesichts-Wahrneh- mung zufallen; nur mit einem Worte sei noch einmal gesagt, daß das naive, ganze, vollwichtige, herzhafte, reale Dastehen und sich Hinpflanzen im Raume, woran eben die Fülle der einzelnen Züge plastischer Vollkom- menheit sich schließt, die Grundvollkommenheit ist, wodurch die Plastik in einer nur ihr eigenen Herrlichkeit neben den andern Künsten thront. Diese Art von Schönheit ist nun aufgegeben; mit der Bestimmung und ausschließenden Annahme Eines Sehpuncts durch den Künstler ist zugleich jene Vielheit von Kunstwerken verloren, die das einzelne plastische Kunst- werk in sich enthält. Die Malerei schreitet aber nicht über das Raum- gesetz hinaus, nicht das gewinnt sie durch das Opfer der plastischen Fülle und Ruhe, daß sie eine Reihe von Momenten successiv in Einem Werke darstellen kann, sie ist noch ohne wirkliche Bewegung, stumm wie alle bildenden Künste, objectiv in dem mehrfach erklärten Sinne (vergl. §. 551). Nach dieser Seite also ist nichts gewonnen und es bleibt dabei, daß alle die Erleichterungen, die der vorh. §. aufgeführt hat, um einen schweren Preis erkauft sind, nämlich auf Kosten der Solidität. Wir be- finden uns nun auf einem Puncte des Schwankens, die Wagschalen des Gewinns und Verlusts bewegen sich unstet hin und wieder. Hier bedarf es eines entscheidenden Gewichts und dieses gibt der aus §. 54 angeführte Satz nebst dem, was in §. 533, 1. für seine Anwendung auf das System der Künste bereits auseinander gesetzt ist. Die Malerei hat einen so wesentlichen Schritt vorwärts zum reinen Scheine gethan, daß ihr Gewinn ungleich größer sein muß, als ihre Opfer. Dieß ist noch nicht begründet durch die erste, allgemeine, erst äußerliche Aufweisung der Vortheile, die sie durch ihr Verfahren erreicht; es muß erst entwickelt werden, was
im vollſten Sinne gibt, ebenſo die Vielheit von Kunſtwerken, die es in ſich ſchließt; und doch iſt das Gebiet der wirklichen Bewegung nicht gewonnen: auch die Malerei feſſelt noch einen Moment im Raum und behält dadurch den allgemeinen Charakter aller bildenden Kunſt, den der Objectivität. Der Verluſt muß aber in tieferem Sinne, als dem einer Reihe von äußeren Vortheilen (vergl. §. 649), zugleich unendlicher Gewinn ſein: dieß folgt aus dem Satze §. 54, daß im Schönen das körperliche Daſein in reinen Schein umgewandelt wird; je näher eine Kunſtform der gänzlichen Vollziehung dieſes Acts ſteht, deſto reicher und tiefer iſt ihr Weſen.
Es iſt hinreichend auf den Satz zurückgewieſen, daß die einzelnen Kunſtgebiete, indem ſie gewiſſe Seiten der Erſcheinung mit Abſtraction von den andern iſoliren, in der Entbehrung gewiſſer Vollkommenheiten andere um ſo vollſtändiger erſchöpfen (§. 533, 2.). Es bedarf auch keiner wiederholten Darſtellung, welches die Vollkommenheiten ſind, die der Bildnerkunſt durch ihr Verzichten auf das Ganze der Geſichts-Wahrneh- mung zufallen; nur mit einem Worte ſei noch einmal geſagt, daß das naive, ganze, vollwichtige, herzhafte, reale Daſtehen und ſich Hinpflanzen im Raume, woran eben die Fülle der einzelnen Züge plaſtiſcher Vollkom- menheit ſich ſchließt, die Grundvollkommenheit iſt, wodurch die Plaſtik in einer nur ihr eigenen Herrlichkeit neben den andern Künſten thront. Dieſe Art von Schönheit iſt nun aufgegeben; mit der Beſtimmung und ausſchließenden Annahme Eines Sehpuncts durch den Künſtler iſt zugleich jene Vielheit von Kunſtwerken verloren, die das einzelne plaſtiſche Kunſt- werk in ſich enthält. Die Malerei ſchreitet aber nicht über das Raum- geſetz hinaus, nicht das gewinnt ſie durch das Opfer der plaſtiſchen Fülle und Ruhe, daß ſie eine Reihe von Momenten ſucceſſiv in Einem Werke darſtellen kann, ſie iſt noch ohne wirkliche Bewegung, ſtumm wie alle bildenden Künſte, objectiv in dem mehrfach erklärten Sinne (vergl. §. 551). Nach dieſer Seite alſo iſt nichts gewonnen und es bleibt dabei, daß alle die Erleichterungen, die der vorh. §. aufgeführt hat, um einen ſchweren Preis erkauft ſind, nämlich auf Koſten der Solidität. Wir be- finden uns nun auf einem Puncte des Schwankens, die Wagſchalen des Gewinns und Verluſts bewegen ſich unſtet hin und wieder. Hier bedarf es eines entſcheidenden Gewichts und dieſes gibt der aus §. 54 angeführte Satz nebſt dem, was in §. 533, 1. für ſeine Anwendung auf das Syſtem der Künſte bereits auseinander geſetzt iſt. Die Malerei hat einen ſo weſentlichen Schritt vorwärts zum reinen Scheine gethan, daß ihr Gewinn ungleich größer ſein muß, als ihre Opfer. Dieß iſt noch nicht begründet durch die erſte, allgemeine, erſt äußerliche Aufweiſung der Vortheile, die ſie durch ihr Verfahren erreicht; es muß erſt entwickelt werden, was
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[515/0023]
im vollſten Sinne gibt, ebenſo die Vielheit von Kunſtwerken, die es in ſich
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auch die Malerei feſſelt noch einen Moment im Raum und behält dadurch
den allgemeinen Charakter aller bildenden Kunſt, den der Objectivität.
Der Verluſt muß aber in tieferem Sinne, als dem einer Reihe von äußeren
Vortheilen (vergl. §. 649), zugleich unendlicher Gewinn ſein: dieß folgt aus
dem Satze §. 54, daß im Schönen das körperliche Daſein in reinen Schein
umgewandelt wird; je näher eine Kunſtform der gänzlichen Vollziehung dieſes
Acts ſteht, deſto reicher und tiefer iſt ihr Weſen.
Es iſt hinreichend auf den Satz zurückgewieſen, daß die einzelnen
Kunſtgebiete, indem ſie gewiſſe Seiten der Erſcheinung mit Abſtraction
von den andern iſoliren, in der Entbehrung gewiſſer Vollkommenheiten
andere um ſo vollſtändiger erſchöpfen (§. 533, 2.). Es bedarf auch keiner
wiederholten Darſtellung, welches die Vollkommenheiten ſind, die der
Bildnerkunſt durch ihr Verzichten auf das Ganze der Geſichts-Wahrneh-
mung zufallen; nur mit einem Worte ſei noch einmal geſagt, daß das
naive, ganze, vollwichtige, herzhafte, reale Daſtehen und ſich Hinpflanzen
im Raume, woran eben die Fülle der einzelnen Züge plaſtiſcher Vollkom-
menheit ſich ſchließt, die Grundvollkommenheit iſt, wodurch die Plaſtik in
einer nur ihr eigenen Herrlichkeit neben den andern Künſten thront.
Dieſe Art von Schönheit iſt nun aufgegeben; mit der Beſtimmung und
ausſchließenden Annahme Eines Sehpuncts durch den Künſtler iſt zugleich
jene Vielheit von Kunſtwerken verloren, die das einzelne plaſtiſche Kunſt-
werk in ſich enthält. Die Malerei ſchreitet aber nicht über das Raum-
geſetz hinaus, nicht das gewinnt ſie durch das Opfer der plaſtiſchen Fülle
und Ruhe, daß ſie eine Reihe von Momenten ſucceſſiv in Einem Werke
darſtellen kann, ſie iſt noch ohne wirkliche Bewegung, ſtumm wie alle
bildenden Künſte, objectiv in dem mehrfach erklärten Sinne (vergl.
§. 551). Nach dieſer Seite alſo iſt nichts gewonnen und es bleibt dabei,
daß alle die Erleichterungen, die der vorh. §. aufgeführt hat, um einen
ſchweren Preis erkauft ſind, nämlich auf Koſten der Solidität. Wir be-
finden uns nun auf einem Puncte des Schwankens, die Wagſchalen des
Gewinns und Verluſts bewegen ſich unſtet hin und wieder. Hier bedarf
es eines entſcheidenden Gewichts und dieſes gibt der aus §. 54 angeführte
Satz nebſt dem, was in §. 533, 1. für ſeine Anwendung auf das Syſtem
der Künſte bereits auseinander geſetzt iſt. Die Malerei hat einen ſo
weſentlichen Schritt vorwärts zum reinen Scheine gethan, daß ihr Gewinn
ungleich größer ſein muß, als ihre Opfer. Dieß iſt noch nicht begründet
durch die erſte, allgemeine, erſt äußerliche Aufweiſung der Vortheile,
die ſie durch ihr Verfahren erreicht; es muß erſt entwickelt werden, was
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/23>, abgerufen am 16.02.2025.
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