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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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fort zu dem Sturm und Blitze der That, worin der Geist mit gehobenem
Arme ganz als Macht wirkt, und vom Bilde des Kampfes erhebt er uns
zur thronenden Majestät göttlicher Hoheit und in die reine Luft wunder-
barer Begeisterung; Raphael ist nicht blos der Maler still rührender,
lieblicher Madonnen, heiliger Familien, reizender Engelknaben, sondern
ebensosehr mächtig bewegter Action und zugleich höchster Verherrlich-
ung, visionärer Entrückung jenes in Maria und Christus persönlich
beschlossenen Ideals, das er wie kein Anderer durch alle Stadien begleitet,
über alles Irdische; so fällt er denn auch nicht einem hohen Style gegen-
über auf die Seite des reizenden und rührenden Styls, sondern er vereinigt
damit den hohen, nur daß dieser in seiner Trennung und Ausschließlich-
keit durch M. Angelo allerdings eine Gewalt erreicht, die in jener Harmonie,
worin das Erhabene selbst schön bleibt, nicht möglich war, die aber ein
Raphael auch nicht wollen konnte. Die Einheit der Anmuth und Würde,
die wir in Leonardo da Vinci fanden, ist in Raphael zu einer ganzen
Welt ausgebreitet, aber die Anmuth ist in dieser Welt das Herrschende,
beherrscht auch die Würde. Diese weltumfassende Weite wäre nun nicht
denkbar, wenn Raphael nicht nach der spezifisch künstlerischen Seite vom
umbrischen Standpunct aus die florentinische Zeichnung in ganz anderem
Maaß, als sein Meister Pietro, und dazu die florentinische Composition
sich angeeignet hätte. Nun aber enthielt diese Reinheit der florentinischen
Formgebung bereits den angeeigneten Geist antiken Formgefühls in sich;
wenn Raphael zugleich durch Anschauen der Antike selbst sich bildet, so
schöpft er aus doppelter Quelle und zu diesem Schöpfen bringt er das
griechische Auge bei romantischem Herzen mit. Er vorzüglich stellt also auch
jene Einheit des Classischen und Romantischen (§. 723 Anm. 2) in sich
dar und faßt den goldenen Inhalt des christlichen Geistes in die silbernen
Schaalen des Alterthums; dieselbe Einheit bestimmt sich aber näher als
die Einheit der florentinischen und umbrischen Schule. Raphael hat einen
Zauber der Linie, eine Welle, ein Oval der Köpfe, ein Neigen, Beugen
des Hauptes und Halses, eine Zeichnung der Figur, der Hand, des
Beins und darin einen Ausdruck himmlischer Liebe, Reinheit des Daseins,
die nur ihm eigen ist, so nicht wiederkehren kann. Mit diesem Steuer
des Schönheitsgesetzes in der Hand ist er nun auch schlechthin sicher, die
rechte Mittel-Linie in Einlassung der Individualität zu treffen, und
wenn bisher diese Seite des Malerischen von den Florentinern kräftiger, als
von den in anderer Beziehung mehr malerischen Umbriern, gepflegt war,
so ist es jetzt der Eine Mann, der Umbrier, der auch hierin das Höchste
erreicht und in weiterer Ausdehnung und Entwicklung dessen, was schon
Leonardo da Vinci gethan, jenes in §. 723, 2. ausgesprochene absolute
Maaß der Verbindung des normal Schönen mit dem Individuellen inner-

fort zu dem Sturm und Blitze der That, worin der Geiſt mit gehobenem
Arme ganz als Macht wirkt, und vom Bilde des Kampfes erhebt er uns
zur thronenden Majeſtät göttlicher Hoheit und in die reine Luft wunder-
barer Begeiſterung; Raphael iſt nicht blos der Maler ſtill rührender,
lieblicher Madonnen, heiliger Familien, reizender Engelknaben, ſondern
ebenſoſehr mächtig bewegter Action und zugleich höchſter Verherrlich-
ung, viſionärer Entrückung jenes in Maria und Chriſtus perſönlich
beſchloſſenen Ideals, das er wie kein Anderer durch alle Stadien begleitet,
über alles Irdiſche; ſo fällt er denn auch nicht einem hohen Style gegen-
über auf die Seite des reizenden und rührenden Styls, ſondern er vereinigt
damit den hohen, nur daß dieſer in ſeiner Trennung und Ausſchließlich-
keit durch M. Angelo allerdings eine Gewalt erreicht, die in jener Harmonie,
worin das Erhabene ſelbſt ſchön bleibt, nicht möglich war, die aber ein
Raphael auch nicht wollen konnte. Die Einheit der Anmuth und Würde,
die wir in Leonardo da Vinci fanden, iſt in Raphael zu einer ganzen
Welt ausgebreitet, aber die Anmuth iſt in dieſer Welt das Herrſchende,
beherrſcht auch die Würde. Dieſe weltumfaſſende Weite wäre nun nicht
denkbar, wenn Raphael nicht nach der ſpezifiſch künſtleriſchen Seite vom
umbriſchen Standpunct aus die florentiniſche Zeichnung in ganz anderem
Maaß, als ſein Meiſter Pietro, und dazu die florentiniſche Compoſition
ſich angeeignet hätte. Nun aber enthielt dieſe Reinheit der florentiniſchen
Formgebung bereits den angeeigneten Geiſt antiken Formgefühls in ſich;
wenn Raphael zugleich durch Anſchauen der Antike ſelbſt ſich bildet, ſo
ſchöpft er aus doppelter Quelle und zu dieſem Schöpfen bringt er das
griechiſche Auge bei romantiſchem Herzen mit. Er vorzüglich ſtellt alſo auch
jene Einheit des Claſſiſchen und Romantiſchen (§. 723 Anm. 2) in ſich
dar und faßt den goldenen Inhalt des chriſtlichen Geiſtes in die ſilbernen
Schaalen des Alterthums; dieſelbe Einheit beſtimmt ſich aber näher als
die Einheit der florentiniſchen und umbriſchen Schule. Raphael hat einen
Zauber der Linie, eine Welle, ein Oval der Köpfe, ein Neigen, Beugen
des Hauptes und Halſes, eine Zeichnung der Figur, der Hand, des
Beins und darin einen Ausdruck himmliſcher Liebe, Reinheit des Daſeins,
die nur ihm eigen iſt, ſo nicht wiederkehren kann. Mit dieſem Steuer
des Schönheitsgeſetzes in der Hand iſt er nun auch ſchlechthin ſicher, die
rechte Mittel-Linie in Einlaſſung der Individualität zu treffen, und
wenn bisher dieſe Seite des Maleriſchen von den Florentinern kräftiger, als
von den in anderer Beziehung mehr maleriſchen Umbriern, gepflegt war,
ſo iſt es jetzt der Eine Mann, der Umbrier, der auch hierin das Höchſte
erreicht und in weiterer Ausdehnung und Entwicklung deſſen, was ſchon
Leonardo da Vinci gethan, jenes in §. 723, 2. ausgeſprochene abſolute
Maaß der Verbindung des normal Schönen mit dem Individuellen inner-

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[717/0225] fort zu dem Sturm und Blitze der That, worin der Geiſt mit gehobenem Arme ganz als Macht wirkt, und vom Bilde des Kampfes erhebt er uns zur thronenden Majeſtät göttlicher Hoheit und in die reine Luft wunder- barer Begeiſterung; Raphael iſt nicht blos der Maler ſtill rührender, lieblicher Madonnen, heiliger Familien, reizender Engelknaben, ſondern ebenſoſehr mächtig bewegter Action und zugleich höchſter Verherrlich- ung, viſionärer Entrückung jenes in Maria und Chriſtus perſönlich beſchloſſenen Ideals, das er wie kein Anderer durch alle Stadien begleitet, über alles Irdiſche; ſo fällt er denn auch nicht einem hohen Style gegen- über auf die Seite des reizenden und rührenden Styls, ſondern er vereinigt damit den hohen, nur daß dieſer in ſeiner Trennung und Ausſchließlich- keit durch M. Angelo allerdings eine Gewalt erreicht, die in jener Harmonie, worin das Erhabene ſelbſt ſchön bleibt, nicht möglich war, die aber ein Raphael auch nicht wollen konnte. Die Einheit der Anmuth und Würde, die wir in Leonardo da Vinci fanden, iſt in Raphael zu einer ganzen Welt ausgebreitet, aber die Anmuth iſt in dieſer Welt das Herrſchende, beherrſcht auch die Würde. Dieſe weltumfaſſende Weite wäre nun nicht denkbar, wenn Raphael nicht nach der ſpezifiſch künſtleriſchen Seite vom umbriſchen Standpunct aus die florentiniſche Zeichnung in ganz anderem Maaß, als ſein Meiſter Pietro, und dazu die florentiniſche Compoſition ſich angeeignet hätte. Nun aber enthielt dieſe Reinheit der florentiniſchen Formgebung bereits den angeeigneten Geiſt antiken Formgefühls in ſich; wenn Raphael zugleich durch Anſchauen der Antike ſelbſt ſich bildet, ſo ſchöpft er aus doppelter Quelle und zu dieſem Schöpfen bringt er das griechiſche Auge bei romantiſchem Herzen mit. Er vorzüglich ſtellt alſo auch jene Einheit des Claſſiſchen und Romantiſchen (§. 723 Anm. 2) in ſich dar und faßt den goldenen Inhalt des chriſtlichen Geiſtes in die ſilbernen Schaalen des Alterthums; dieſelbe Einheit beſtimmt ſich aber näher als die Einheit der florentiniſchen und umbriſchen Schule. Raphael hat einen Zauber der Linie, eine Welle, ein Oval der Köpfe, ein Neigen, Beugen des Hauptes und Halſes, eine Zeichnung der Figur, der Hand, des Beins und darin einen Ausdruck himmliſcher Liebe, Reinheit des Daſeins, die nur ihm eigen iſt, ſo nicht wiederkehren kann. Mit dieſem Steuer des Schönheitsgeſetzes in der Hand iſt er nun auch ſchlechthin ſicher, die rechte Mittel-Linie in Einlaſſung der Individualität zu treffen, und wenn bisher dieſe Seite des Maleriſchen von den Florentinern kräftiger, als von den in anderer Beziehung mehr maleriſchen Umbriern, gepflegt war, ſo iſt es jetzt der Eine Mann, der Umbrier, der auch hierin das Höchſte erreicht und in weiterer Ausdehnung und Entwicklung deſſen, was ſchon Leonardo da Vinci gethan, jenes in §. 723, 2. ausgeſprochene abſolute Maaß der Verbindung des normal Schönen mit dem Individuellen inner-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 717. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/225>, abgerufen am 27.11.2024.