stürmische Bewegtheit, aber in besonders ausgesprochenem Sinne plastisch durch das volle Uebergewicht, das er auf die Form, recht auf die nackte Form legt. Er hat wenig Individualität, nur die allgemeineren Typen der Affecte und Charaktere nimmt er auf; er veredelt sie nicht durch plastisch schönes Profil, seine Köpfe sind bisweilen gemein. Dieß scheint wieder eine malerische Verirrung, allein was ihn vom schönen Ebenmaaß abführt, ist nicht Ueberschuß des Ausdrucks über die Form, sondern ein Ideal der Kraft, das ein Riesengeschlecht von übergewaltigen Muskeln und Knochen in den Titanenkampf mit einer göttlichen Macht führt, die nicht im linden Säuseln, sondern im Zorneseifer des auf Wetterwolken fahrenden Jehovah erscheint. Dieses Kraft-Ideal ist und bleibt aber mehr plastisch, als ächt malerisch; es ist das Erhabene im Sinne bildneri- scher Auffassung. Selten ergreift M. Angelo auch die Grazie, aber auch sie wird in seiner Hand erhaben und führt uns weibliche Gestalten vor Augen, die bei aller runderen Welle der Form doch demselben Riesen- geschlecht angehören wie seine schrecklichen Männer. Am meisten malerisch ist ein Ausdruck tiefer, divinatorischer Verzückung, den er besonders jenen Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria geliehen. Dieser Zug vererbt sich vorzüglich auf einen Meister aus jener florentinischen, an die großen Vorbilder sich anschließenden Gruppe von Classikern im Sinne vollende- ter Virtuosität, denen in der durchgebildeten Beherrschung der Form öfters die Seele entschwindet, auf Fra Bartolomeo. Andrea del Sarto, bald würdig, bald bürgerlich gemüthlich, oft gewöhnlich im Aus- druck, hat doch auch häufig dieses mystische Blicken und Kreisen der in beschattete Höhle gestellten Augen.
Neben diesem Maler der Erhabenheit, diesem gewaltsamen M. Angelo, steht nun die reinste Blume italienischer Malerei, Raphael, mit dem vollen Dufte der Anmuth. Diese Anmuth ist die der inneren Seelenschönheit; Raphael ist Umbrier und geht von der umbrischen Schule aus, von welcher er auch die Wärme der Farbe mitbringt. So scheint er zu stehen oder steht wirklich, was die Grundformen des Schönen an sich betrifft, auf der Seite des einfach Schönen gegenüber dem Erhabenen; was die geschicht- lichen Hauptstufen des Styls betrifft, die wir nun hier wieder aufnehmen, auf dem Boden des reizenden und rührenden Styls gegenüber dem hohen, und was die Richtungen der Malerei betrifft, auf der Linie der relativ malerischen im Gegensatze gegen die plastische. Allein Raphael ergreift von seinem Boden aus die gegenüberstehenden Formen in ganz anderer Tiefe, Fülle, Ausdehnung, als von umgekehrter Seite M. Angelo: er öffnet den geschlossenen Kern, worin der Eintritt des Göttlichen in die Welt als stilles Leben der Liebe sich zusammenhält, zur reichen Handlung, zur vollen Energie der Charaktere; starke Männerseelen in starken Körpern schreiten
ſtürmiſche Bewegtheit, aber in beſonders ausgeſprochenem Sinne plaſtiſch durch das volle Uebergewicht, das er auf die Form, recht auf die nackte Form legt. Er hat wenig Individualität, nur die allgemeineren Typen der Affecte und Charaktere nimmt er auf; er veredelt ſie nicht durch plaſtiſch ſchönes Profil, ſeine Köpfe ſind bisweilen gemein. Dieß ſcheint wieder eine maleriſche Verirrung, allein was ihn vom ſchönen Ebenmaaß abführt, iſt nicht Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form, ſondern ein Ideal der Kraft, das ein Rieſengeſchlecht von übergewaltigen Muskeln und Knochen in den Titanenkampf mit einer göttlichen Macht führt, die nicht im linden Säuſeln, ſondern im Zorneseifer des auf Wetterwolken fahrenden Jehovah erſcheint. Dieſes Kraft-Ideal iſt und bleibt aber mehr plaſtiſch, als ächt maleriſch; es iſt das Erhabene im Sinne bildneri- ſcher Auffaſſung. Selten ergreift M. Angelo auch die Grazie, aber auch ſie wird in ſeiner Hand erhaben und führt uns weibliche Geſtalten vor Augen, die bei aller runderen Welle der Form doch demſelben Rieſen- geſchlecht angehören wie ſeine ſchrecklichen Männer. Am meiſten maleriſch iſt ein Ausdruck tiefer, divinatoriſcher Verzückung, den er beſonders jenen Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria geliehen. Dieſer Zug vererbt ſich vorzüglich auf einen Meiſter aus jener florentiniſchen, an die großen Vorbilder ſich anſchließenden Gruppe von Claſſikern im Sinne vollende- ter Virtuoſität, denen in der durchgebildeten Beherrſchung der Form öfters die Seele entſchwindet, auf Fra Bartolomeo. Andrea del Sarto, bald würdig, bald bürgerlich gemüthlich, oft gewöhnlich im Aus- druck, hat doch auch häufig dieſes myſtiſche Blicken und Kreiſen der in beſchattete Höhle geſtellten Augen.
Neben dieſem Maler der Erhabenheit, dieſem gewaltſamen M. Angelo, ſteht nun die reinſte Blume italieniſcher Malerei, Raphael, mit dem vollen Dufte der Anmuth. Dieſe Anmuth iſt die der inneren Seelenſchönheit; Raphael iſt Umbrier und geht von der umbriſchen Schule aus, von welcher er auch die Wärme der Farbe mitbringt. So ſcheint er zu ſtehen oder ſteht wirklich, was die Grundformen des Schönen an ſich betrifft, auf der Seite des einfach Schönen gegenüber dem Erhabenen; was die geſchicht- lichen Hauptſtufen des Styls betrifft, die wir nun hier wieder aufnehmen, auf dem Boden des reizenden und rührenden Styls gegenüber dem hohen, und was die Richtungen der Malerei betrifft, auf der Linie der relativ maleriſchen im Gegenſatze gegen die plaſtiſche. Allein Raphael ergreift von ſeinem Boden aus die gegenüberſtehenden Formen in ganz anderer Tiefe, Fülle, Ausdehnung, als von umgekehrter Seite M. Angelo: er öffnet den geſchloſſenen Kern, worin der Eintritt des Göttlichen in die Welt als ſtilles Leben der Liebe ſich zuſammenhält, zur reichen Handlung, zur vollen Energie der Charaktere; ſtarke Männerſeelen in ſtarken Körpern ſchreiten
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ſtürmiſche Bewegtheit, aber in beſonders ausgeſprochenem Sinne plaſtiſch
durch das volle Uebergewicht, das er auf die Form, recht auf die nackte
Form legt. Er hat wenig Individualität, nur die allgemeineren Typen
der Affecte und Charaktere nimmt er auf; er veredelt ſie nicht durch
plaſtiſch ſchönes Profil, ſeine Köpfe ſind bisweilen gemein. Dieß ſcheint
wieder eine maleriſche Verirrung, allein was ihn vom ſchönen Ebenmaaß
abführt, iſt nicht Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form, ſondern ein
Ideal der Kraft, das ein Rieſengeſchlecht von übergewaltigen Muskeln
und Knochen in den Titanenkampf mit einer göttlichen Macht führt, die
nicht im linden Säuſeln, ſondern im Zorneseifer des auf Wetterwolken
fahrenden Jehovah erſcheint. Dieſes Kraft-Ideal iſt und bleibt aber
mehr plaſtiſch, als ächt maleriſch; es iſt das Erhabene im Sinne bildneri-
ſcher Auffaſſung. Selten ergreift M. Angelo auch die Grazie, aber auch
ſie wird in ſeiner Hand erhaben und führt uns weibliche Geſtalten vor
Augen, die bei aller runderen Welle der Form doch demſelben Rieſen-
geſchlecht angehören wie ſeine ſchrecklichen Männer. Am meiſten maleriſch
iſt ein Ausdruck tiefer, divinatoriſcher Verzückung, den er beſonders jenen
Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria geliehen. Dieſer Zug vererbt
ſich vorzüglich auf einen Meiſter aus jener florentiniſchen, an die großen
Vorbilder ſich anſchließenden Gruppe von Claſſikern im Sinne vollende-
ter Virtuoſität, denen in der durchgebildeten Beherrſchung der Form
öfters die Seele entſchwindet, auf Fra Bartolomeo. Andrea del
Sarto, bald würdig, bald bürgerlich gemüthlich, oft gewöhnlich im Aus-
druck, hat doch auch häufig dieſes myſtiſche Blicken und Kreiſen der in
beſchattete Höhle geſtellten Augen.
Neben dieſem Maler der Erhabenheit, dieſem gewaltſamen M. Angelo,
ſteht nun die reinſte Blume italieniſcher Malerei, Raphael, mit dem vollen
Dufte der Anmuth. Dieſe Anmuth iſt die der inneren Seelenſchönheit;
Raphael iſt Umbrier und geht von der umbriſchen Schule aus, von welcher
er auch die Wärme der Farbe mitbringt. So ſcheint er zu ſtehen oder ſteht
wirklich, was die Grundformen des Schönen an ſich betrifft, auf der
Seite des einfach Schönen gegenüber dem Erhabenen; was die geſchicht-
lichen Hauptſtufen des Styls betrifft, die wir nun hier wieder aufnehmen,
auf dem Boden des reizenden und rührenden Styls gegenüber dem hohen,
und was die Richtungen der Malerei betrifft, auf der Linie der relativ
maleriſchen im Gegenſatze gegen die plaſtiſche. Allein Raphael ergreift von
ſeinem Boden aus die gegenüberſtehenden Formen in ganz anderer Tiefe,
Fülle, Ausdehnung, als von umgekehrter Seite M. Angelo: er öffnet
den geſchloſſenen Kern, worin der Eintritt des Göttlichen in die Welt als
ſtilles Leben der Liebe ſich zuſammenhält, zur reichen Handlung, zur vollen
Energie der Charaktere; ſtarke Männerſeelen in ſtarken Körpern ſchreiten
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/224>, abgerufen am 16.07.2024.
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