Schooß, worein die Strahlen des farbigen Lichtes schießen und worin ihre erste Einfachheit in ein neues, reflectirteres Leben übergeht. Dieß führt denn auf die Behandlung des geistigen Ausdrucks der Figur zurück: an das blicklose Statuen-Auge gewöhnt, wird man hier durch ein glühendes Herausleuchten inneren Seelenlebens überrascht, das selbst bis zu so ge- gemischten Empfindungen wie der Kampf einer Medea fortschreitet, welche, die Hand am Schwert, zwischen Rachegeist und Mutterliebe noch getheilt erscheint: zugleich ein ächtes Beispiel dramatischer Spannung. Und doch fehlt der Ausdruck jener vertieften Resonanz im Innern, der im Wesen und Geiste der Malerei liegt; er muß fehlen, weil jene Welt der Inner- lichkeit nicht entwickelt ist, auf welcher er ruht (vergl. §. 682). Ebendarum kann auch die Eigenheit des Individuums nicht bis zu der Spitze geführt sein, welche das generelle Maaß der Plastik in eine unendliche Welt selbständiger Charakter-Monaden theilt.
Demungeachtet legt die griechische Malerei einen Kreislauf zurück, welcher dieselben organischen Stufen nach Styl und Stoff darstellt, die wir in der ersten großen Periode der neueren Malerei bis zum Schlusse des Mittelalters finden. Zugleich begegnen wir im Wesentlichen den großen Hauptformen der Styl-Entwicklung, die in §. 531 aufgestellt und in der Geschichte der Plastik (§. 640 ff.) nachgewiesen sind. Auf den alterthümlich strengen und harten folgt auch hier der hohe oder erhaben schöne Styl, ihn vertritt die attische Schule, an ihrer Spitze Polygnot, der "Ethographos", der nur die großen, würdigen Stoffe der ernsten Götterwelt und Heldensage behandelt. Der anmuthige, reizende, rührende Styl, wie ihn darauf die jonische Schule, Zeuxis, Parrhasius, Timanthes ausbildet, entspricht der Wendung der Plastik, die in Skopas und Praxi- teles sich darstellt. Dieser Styl ist aber zugleich ein wesentlicher Fort- schritt im spezifisch Malerischen und hier drängt sich denn die interessante Beobachtung auf, daß die alte Malerei, so streng plastisch sie auch ist, doch in ihrem Gange selbst auch den Gegensatz der zwei Style, freilich in schattenhafter Zartheit, kennt und ihn successiv ausbildet. Apollodorus hatte in der Schattengebung vorgearbeitet; die Modellirung versteht jetzt den Schein völliger Rundung zu geben, das Colorit erfüllt sich mit den Unterschieden der Töne und Uebergänge, der Gesichtsausdruck belebt sich, es wird Illusion erzielt. Die Stoffe sind noch Mythus und Heldensage, aber in jenem Gebiete wirft sich der Zug nach Anmuth auf das weibliche Ideal, in diesem die subjectiver bewegte, Erschütterung suchende Stimmung auf die tragischen Momente. Dieser Styl nun erreicht eine weitere Fortbil- dung durch die Sikyonische Schule, die dem entspricht, was in der Bildner- kunst die Lysippische war, aber mit dem Unterschiede, daß, wenn dort die Sculptur an einer zweideutigen Gränze angekommen ist (vergl. §. 641
Vischer's Aesthetik. 3. Band. 46
Schooß, worein die Strahlen des farbigen Lichtes ſchießen und worin ihre erſte Einfachheit in ein neues, reflectirteres Leben übergeht. Dieß führt denn auf die Behandlung des geiſtigen Ausdrucks der Figur zurück: an das blickloſe Statuen-Auge gewöhnt, wird man hier durch ein glühendes Herausleuchten inneren Seelenlebens überraſcht, das ſelbſt bis zu ſo ge- gemiſchten Empfindungen wie der Kampf einer Medea fortſchreitet, welche, die Hand am Schwert, zwiſchen Rachegeiſt und Mutterliebe noch getheilt erſcheint: zugleich ein ächtes Beiſpiel dramatiſcher Spannung. Und doch fehlt der Ausdruck jener vertieften Reſonanz im Innern, der im Weſen und Geiſte der Malerei liegt; er muß fehlen, weil jene Welt der Inner- lichkeit nicht entwickelt iſt, auf welcher er ruht (vergl. §. 682). Ebendarum kann auch die Eigenheit des Individuums nicht bis zu der Spitze geführt ſein, welche das generelle Maaß der Plaſtik in eine unendliche Welt ſelbſtändiger Charakter-Monaden theilt.
Demungeachtet legt die griechiſche Malerei einen Kreislauf zurück, welcher dieſelben organiſchen Stufen nach Styl und Stoff darſtellt, die wir in der erſten großen Periode der neueren Malerei bis zum Schluſſe des Mittelalters finden. Zugleich begegnen wir im Weſentlichen den großen Hauptformen der Styl-Entwicklung, die in §. 531 aufgeſtellt und in der Geſchichte der Plaſtik (§. 640 ff.) nachgewieſen ſind. Auf den alterthümlich ſtrengen und harten folgt auch hier der hohe oder erhaben ſchöne Styl, ihn vertritt die attiſche Schule, an ihrer Spitze Polygnot, der „Ethographos“, der nur die großen, würdigen Stoffe der ernſten Götterwelt und Heldenſage behandelt. Der anmuthige, reizende, rührende Styl, wie ihn darauf die joniſche Schule, Zeuxis, Parrhaſius, Timanthes ausbildet, entſpricht der Wendung der Plaſtik, die in Skopas und Praxi- teles ſich darſtellt. Dieſer Styl iſt aber zugleich ein weſentlicher Fort- ſchritt im ſpezifiſch Maleriſchen und hier drängt ſich denn die intereſſante Beobachtung auf, daß die alte Malerei, ſo ſtreng plaſtiſch ſie auch iſt, doch in ihrem Gange ſelbſt auch den Gegenſatz der zwei Style, freilich in ſchattenhafter Zartheit, kennt und ihn ſucceſſiv ausbildet. Apollodorus hatte in der Schattengebung vorgearbeitet; die Modellirung verſteht jetzt den Schein völliger Rundung zu geben, das Colorit erfüllt ſich mit den Unterſchieden der Töne und Uebergänge, der Geſichtsausdruck belebt ſich, es wird Illuſion erzielt. Die Stoffe ſind noch Mythus und Heldenſage, aber in jenem Gebiete wirft ſich der Zug nach Anmuth auf das weibliche Ideal, in dieſem die ſubjectiver bewegte, Erſchütterung ſuchende Stimmung auf die tragiſchen Momente. Dieſer Styl nun erreicht eine weitere Fortbil- dung durch die Sikyoniſche Schule, die dem entſpricht, was in der Bildner- kunſt die Lyſippiſche war, aber mit dem Unterſchiede, daß, wenn dort die Sculptur an einer zweideutigen Gränze angekommen iſt (vergl. §. 641
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 46
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Schooß, worein die Strahlen des farbigen Lichtes ſchießen und worin ihre
erſte Einfachheit in ein neues, reflectirteres Leben übergeht. Dieß führt
denn auf die Behandlung des geiſtigen Ausdrucks der Figur zurück: an
das blickloſe Statuen-Auge gewöhnt, wird man hier durch ein glühendes
Herausleuchten inneren Seelenlebens überraſcht, das ſelbſt bis zu ſo ge-
gemiſchten Empfindungen wie der Kampf einer Medea fortſchreitet, welche,
die Hand am Schwert, zwiſchen Rachegeiſt und Mutterliebe noch getheilt
erſcheint: zugleich ein ächtes Beiſpiel dramatiſcher Spannung. Und doch
fehlt der Ausdruck jener vertieften Reſonanz im Innern, der im Weſen
und Geiſte der Malerei liegt; er muß fehlen, weil jene Welt der Inner-
lichkeit nicht entwickelt iſt, auf welcher er ruht (vergl. §. 682). Ebendarum
kann auch die Eigenheit des Individuums nicht bis zu der Spitze geführt
ſein, welche das generelle Maaß der Plaſtik in eine unendliche Welt
ſelbſtändiger Charakter-Monaden theilt.
Demungeachtet legt die griechiſche Malerei einen Kreislauf zurück,
welcher dieſelben organiſchen Stufen nach Styl und Stoff darſtellt, die
wir in der erſten großen Periode der neueren Malerei bis zum Schluſſe
des Mittelalters finden. Zugleich begegnen wir im Weſentlichen den
großen Hauptformen der Styl-Entwicklung, die in §. 531 aufgeſtellt und
in der Geſchichte der Plaſtik (§. 640 ff.) nachgewieſen ſind. Auf den
alterthümlich ſtrengen und harten folgt auch hier der hohe oder erhaben
ſchöne Styl, ihn vertritt die attiſche Schule, an ihrer Spitze Polygnot,
der „Ethographos“, der nur die großen, würdigen Stoffe der ernſten
Götterwelt und Heldenſage behandelt. Der anmuthige, reizende, rührende
Styl, wie ihn darauf die joniſche Schule, Zeuxis, Parrhaſius, Timanthes
ausbildet, entſpricht der Wendung der Plaſtik, die in Skopas und Praxi-
teles ſich darſtellt. Dieſer Styl iſt aber zugleich ein weſentlicher Fort-
ſchritt im ſpezifiſch Maleriſchen und hier drängt ſich denn die intereſſante
Beobachtung auf, daß die alte Malerei, ſo ſtreng plaſtiſch ſie auch iſt,
doch in ihrem Gange ſelbſt auch den Gegenſatz der zwei Style, freilich
in ſchattenhafter Zartheit, kennt und ihn ſucceſſiv ausbildet. Apollodorus
hatte in der Schattengebung vorgearbeitet; die Modellirung verſteht jetzt
den Schein völliger Rundung zu geben, das Colorit erfüllt ſich mit den
Unterſchieden der Töne und Uebergänge, der Geſichtsausdruck belebt ſich,
es wird Illuſion erzielt. Die Stoffe ſind noch Mythus und Heldenſage,
aber in jenem Gebiete wirft ſich der Zug nach Anmuth auf das weibliche
Ideal, in dieſem die ſubjectiver bewegte, Erſchütterung ſuchende Stimmung
auf die tragiſchen Momente. Dieſer Styl nun erreicht eine weitere Fortbil-
dung durch die Sikyoniſche Schule, die dem entſpricht, was in der Bildner-
kunſt die Lyſippiſche war, aber mit dem Unterſchiede, daß, wenn dort die
Sculptur an einer zweideutigen Gränze angekommen iſt (vergl. §. 641
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 46
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/205>, abgerufen am 16.07.2024.
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