Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
lichen im Situationsbild anhängt, besteht sachgemäß häufig auch, wie diese §. 712. Am reinsten liegt der Charakter dieses Zweiges vor in der Darstellung Das Lyrische, die Fülle inneren Lebens wird zum Entschluß, bereitet
lichen im Situationsbild anhängt, beſteht ſachgemäß häufig auch, wie dieſe §. 712. Am reinſten liegt der Charakter dieſes Zweiges vor in der Darſtellung Das Lyriſche, die Fülle inneren Lebens wird zum Entſchluß, bereitet <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0196" n="688"/> lichen im Situationsbild anhängt, beſteht ſachgemäß häufig auch, wie dieſe<lb/> Beiſpiele zeigen, im Maſſenhaften, in Figuren-Menge. Dieſer ganze<lb/> Complex kann epiſch heißen, und es ſcheint ſo, wir werden zu dem ſitten-<lb/> bildlichen Geſchichtsbilde zurückgeführt, allein von dieſem unterſcheidet ſich<lb/> die jetzt vorliegende Form durch das vorherrſchende pſychiſche Intereſſe.<lb/> Gallaits Abdankung Carls <hi rendition="#aq">V.</hi> z. B. wäre Ceremonienbild, wenn ihm<lb/> nicht die tiefe Empfindung der Hauptperſonen ſeine Stelle im pſychiſchen<lb/> Situationsbild anwieſe. Die Scene hat aber zu viel Reales, um lyriſch<lb/> heißen zu können. Leonardo da Vinci’s Abendmahl iſt ein Situations-<lb/> bild, eine Kreuzabnahme, eine Beklagung des Leichnams Jeſu iſt mehr<lb/> lyriſch.</hi> </p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 712.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Am reinſten liegt der Charakter dieſes Zweiges vor in der Darſtellung<lb/> der ächt <hi rendition="#g">dramatiſchen</hi> Momente der vollen Spannung zur entſcheidenden That<lb/> oder des wirklichen Ausbruchs oder der Nachwirkung von Thaten, die aber<lb/> noch weiteres Erſchütterndes im Schooße birgt oder bereits als gegenwärtig<lb/> zeigt. Das <hi rendition="#g">Schlachtbild</hi> hat auch hier eine Stelle, wiewohl in ihm auch<lb/> der ſchärfſte Entſcheidungsmoment ſtark mit dem Epiſchen ſich miſcht.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Das Lyriſche, die Fülle inneren Lebens wird zum Entſchluß, bereitet<lb/> drohend die That, führt ſie im Sturme des Conflicts aus, leidet die<lb/> Folgen des eigenen Thuns und der Thaten Anderer, doch nicht paſſiv<lb/> empfindend, ſondern auf neue Entſcheidungen gefaßt. In §. 684 iſt ge-<lb/> ſagt, daß die Malerei vorzüglich den ſpannenden Moment vor der That<lb/> liebt, Delaroches Knaben Eduards ſind angeführt, die Scene vor Straffords<lb/> Gefängniß, Rembrandts Adolf von Geldern, Leutzes Washington greifen<lb/> wir als weitere Beiſpiele aus der Fülle der Kunſtwelt heraus. Zu Scenen<lb/> des vollen Ausbruchs zählen wir, von Schlachtbildern noch abgeſehen,<lb/> Werke wie Raphaels Ananias, die Vertreibung des Heliodor aus dem<lb/> Tempel zu Jeruſalem, Bilder der Gefangennehmung Chriſti, Rubens<lb/> Simſon und Delila. Ein Cromwell, den Sarg Carls <hi rendition="#aq">I.</hi> öffnend, eine<lb/> Marie Antoinette von Delaroche zeigen Momente <hi rendition="#g">nach</hi> erſchütternden<lb/> Thaten, aber ſie bergen weiteren tragiſchen Verlauf zu ſichtbar und<lb/> ſchlagend in ſich, um ſie Situationsbilder zu nennen; Gallaits Egmont<lb/> im Gefängniß iſt verurtheilt, am nächſten Morgen ſoll er ſterben; das<lb/> Blutige iſt geſchehen auf Gallaits neueſtem Bilde, aber die Situation<lb/> weist auf eine Zeit der Vergeltung hinaus, nur freilich ſo ſchwach, daß<lb/> dieſes Werk allerdings mehr zur Sphäre des bloßen Situationsbilds ge-<lb/> hört. — Das Schlachtbild tritt hier noch einmal vor uns; es iſt drama-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [688/0196]
lichen im Situationsbild anhängt, beſteht ſachgemäß häufig auch, wie dieſe
Beiſpiele zeigen, im Maſſenhaften, in Figuren-Menge. Dieſer ganze
Complex kann epiſch heißen, und es ſcheint ſo, wir werden zu dem ſitten-
bildlichen Geſchichtsbilde zurückgeführt, allein von dieſem unterſcheidet ſich
die jetzt vorliegende Form durch das vorherrſchende pſychiſche Intereſſe.
Gallaits Abdankung Carls V. z. B. wäre Ceremonienbild, wenn ihm
nicht die tiefe Empfindung der Hauptperſonen ſeine Stelle im pſychiſchen
Situationsbild anwieſe. Die Scene hat aber zu viel Reales, um lyriſch
heißen zu können. Leonardo da Vinci’s Abendmahl iſt ein Situations-
bild, eine Kreuzabnahme, eine Beklagung des Leichnams Jeſu iſt mehr
lyriſch.
§. 712.
Am reinſten liegt der Charakter dieſes Zweiges vor in der Darſtellung
der ächt dramatiſchen Momente der vollen Spannung zur entſcheidenden That
oder des wirklichen Ausbruchs oder der Nachwirkung von Thaten, die aber
noch weiteres Erſchütterndes im Schooße birgt oder bereits als gegenwärtig
zeigt. Das Schlachtbild hat auch hier eine Stelle, wiewohl in ihm auch
der ſchärfſte Entſcheidungsmoment ſtark mit dem Epiſchen ſich miſcht.
Das Lyriſche, die Fülle inneren Lebens wird zum Entſchluß, bereitet
drohend die That, führt ſie im Sturme des Conflicts aus, leidet die
Folgen des eigenen Thuns und der Thaten Anderer, doch nicht paſſiv
empfindend, ſondern auf neue Entſcheidungen gefaßt. In §. 684 iſt ge-
ſagt, daß die Malerei vorzüglich den ſpannenden Moment vor der That
liebt, Delaroches Knaben Eduards ſind angeführt, die Scene vor Straffords
Gefängniß, Rembrandts Adolf von Geldern, Leutzes Washington greifen
wir als weitere Beiſpiele aus der Fülle der Kunſtwelt heraus. Zu Scenen
des vollen Ausbruchs zählen wir, von Schlachtbildern noch abgeſehen,
Werke wie Raphaels Ananias, die Vertreibung des Heliodor aus dem
Tempel zu Jeruſalem, Bilder der Gefangennehmung Chriſti, Rubens
Simſon und Delila. Ein Cromwell, den Sarg Carls I. öffnend, eine
Marie Antoinette von Delaroche zeigen Momente nach erſchütternden
Thaten, aber ſie bergen weiteren tragiſchen Verlauf zu ſichtbar und
ſchlagend in ſich, um ſie Situationsbilder zu nennen; Gallaits Egmont
im Gefängniß iſt verurtheilt, am nächſten Morgen ſoll er ſterben; das
Blutige iſt geſchehen auf Gallaits neueſtem Bilde, aber die Situation
weist auf eine Zeit der Vergeltung hinaus, nur freilich ſo ſchwach, daß
dieſes Werk allerdings mehr zur Sphäre des bloßen Situationsbilds ge-
hört. — Das Schlachtbild tritt hier noch einmal vor uns; es iſt drama-
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