Stärke wieder auf künftige, wie jener Jul. Cäsar, jener Scipio; so ist ein Marius auf den Trümmern von Karthago nicht blos ein fühlender, sondern auch ein drohender Mann; ein Napoleon nach seiner Abdankung in Fontainebleau (Delaroche) hat zwar keine Thaten mehr vor sich, aber all sein Schicksal ruht auf Thaten, der Boden ist zu real, um ein solches Bild lyrisch zu nennen. Solchen realen, mit Factischem, das bevorsteht oder in die Gegenwart hereinwirkt, durchsättigten Boden nennt man nun im engeren Sinne Situation, und wo die Auffassung dieser Seite so entschieden her- austritt, daß Alles, was Ausdruck des Seelenlebens ist, unmittelbar als der innere Reflex der äußern, in solcher Lage gegebenen Bedingungen er- scheint, da entsteht das Situationsbild, das auf dem Uebergang zum eigentlich Dramatischen liegt. Von diesem unterscheidet es sich ungleich schärfer, als vom Lyrischen: es fehlt ihm der Ausdruck unmittelbarer Spannung zur That, die das Dramatische bildet, der Augenblick gestattet psychologisches Verweilen mit nur entferntem Anklang oder Nachklang von Spannung, aber das Seelenleben, bei dem wir verweilen, ist nicht so innerlich, nicht so subjectiv in sich versenkt, um lyrisch zu heißen, sondern real afficirt, mit Objecten beschäftigt. Fassen wir z. B. Lessings Huß vor dem Concile zu Constanz in's Auge, so leuchtet zunächst deutlich der Unterschied vom dramatischen Bild ein. Man er- wartet nach diesem Namen den furchtbar stürmischen, drangvollen Entschei- dungsmoment der Verurtheilung im Dome und findet statt dessen eine Disputation des Reformators mit einer ausgewählten Gruppe von hohen katholischen Clerikern, wozu einige charakteristische Nebenfiguren treten. Da bereitet sich wohl das Schicksal des Märtyrers vor und droht deutlich genug aus den fanatischen Köpfen seiner Gegner, aber unmittelbar tritt die Spannung auf diesen Schicksalsmoment nicht ein, wir verweilen mit psychologischem Interesse bei einer Gruppe wenig bewegter, zunächst nur theoretisch thätiger Charakterfiguren, studiren die verschiedenen Formen und Typen des Fanatismus und der ihn unterstützenden Indifferenz gegenüber dem schlichten Wahrheitssinne des Huß. Der Unterschied vom Lyrischen besteht aber darin, daß diese Personen nicht blos empfindend in sich versenkt, daß sie vielmehr sichtbar mit Solchem beschäftigt sind, was eine furchtbare Hand- lung und ein furchtbares Leiden vorbereitet. Dieß Beispiel erklärt zugleich den Ausdruck des §.: "Arten des Thuns". Hieher gehört namentlich auch die Form des erbauenden Lehrens: die Predigt des Paulus in Athen von Raphael ist, obgleich an sich voll Feuer, ein solches psychologisches Situationsbild, ein predigender Johannes, Christus unter gelagertem Volk, so manche ähnliche Stoffe sind Motive für Situationsbilder. Begeistertes Lehren bewegt die Welt, bedingt Schicksale, aber nicht zunächst, nicht un- mittelbar; wir verweilen mit spannungsloserem Interesse bei dem Seelen- Ausdruck. Die Summe des Realen, die sich dem erscheinenden Inner-
Stärke wieder auf künftige, wie jener Jul. Cäſar, jener Scipio; ſo iſt ein Marius auf den Trümmern von Karthago nicht blos ein fühlender, ſondern auch ein drohender Mann; ein Napoleon nach ſeiner Abdankung in Fontainebleau (Delaroche) hat zwar keine Thaten mehr vor ſich, aber all ſein Schickſal ruht auf Thaten, der Boden iſt zu real, um ein ſolches Bild lyriſch zu nennen. Solchen realen, mit Factiſchem, das bevorſteht oder in die Gegenwart hereinwirkt, durchſättigten Boden nennt man nun im engeren Sinne Situation, und wo die Auffaſſung dieſer Seite ſo entſchieden her- austritt, daß Alles, was Ausdruck des Seelenlebens iſt, unmittelbar als der innere Reflex der äußern, in ſolcher Lage gegebenen Bedingungen er- ſcheint, da entſteht das Situationsbild, das auf dem Uebergang zum eigentlich Dramatiſchen liegt. Von dieſem unterſcheidet es ſich ungleich ſchärfer, als vom Lyriſchen: es fehlt ihm der Ausdruck unmittelbarer Spannung zur That, die das Dramatiſche bildet, der Augenblick geſtattet pſychologiſches Verweilen mit nur entferntem Anklang oder Nachklang von Spannung, aber das Seelenleben, bei dem wir verweilen, iſt nicht ſo innerlich, nicht ſo ſubjectiv in ſich verſenkt, um lyriſch zu heißen, ſondern real afficirt, mit Objecten beſchäftigt. Faſſen wir z. B. Leſſings Huß vor dem Concile zu Conſtanz in’s Auge, ſo leuchtet zunächſt deutlich der Unterſchied vom dramatiſchen Bild ein. Man er- wartet nach dieſem Namen den furchtbar ſtürmiſchen, drangvollen Entſchei- dungsmoment der Verurtheilung im Dome und findet ſtatt deſſen eine Diſputation des Reformators mit einer ausgewählten Gruppe von hohen katholiſchen Clerikern, wozu einige charakteriſtiſche Nebenfiguren treten. Da bereitet ſich wohl das Schickſal des Märtyrers vor und droht deutlich genug aus den fanatiſchen Köpfen ſeiner Gegner, aber unmittelbar tritt die Spannung auf dieſen Schickſalsmoment nicht ein, wir verweilen mit pſychologiſchem Intereſſe bei einer Gruppe wenig bewegter, zunächſt nur theoretiſch thätiger Charakterfiguren, ſtudiren die verſchiedenen Formen und Typen des Fanatiſmus und der ihn unterſtützenden Indifferenz gegenüber dem ſchlichten Wahrheitsſinne des Huß. Der Unterſchied vom Lyriſchen beſteht aber darin, daß dieſe Perſonen nicht blos empfindend in ſich verſenkt, daß ſie vielmehr ſichtbar mit Solchem beſchäftigt ſind, was eine furchtbare Hand- lung und ein furchtbares Leiden vorbereitet. Dieß Beiſpiel erklärt zugleich den Ausdruck des §.: „Arten des Thuns“. Hieher gehört namentlich auch die Form des erbauenden Lehrens: die Predigt des Paulus in Athen von Raphael iſt, obgleich an ſich voll Feuer, ein ſolches pſychologiſches Situationsbild, ein predigender Johannes, Chriſtus unter gelagertem Volk, ſo manche ähnliche Stoffe ſind Motive für Situationsbilder. Begeiſtertes Lehren bewegt die Welt, bedingt Schickſale, aber nicht zunächſt, nicht un- mittelbar; wir verweilen mit ſpannungsloſerem Intereſſe bei dem Seelen- Ausdruck. Die Summe des Realen, die ſich dem erſcheinenden Inner-
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Stärke wieder auf künftige, wie jener Jul. Cäſar, jener Scipio; ſo iſt
ein Marius auf den Trümmern von Karthago nicht blos ein fühlender,
ſondern auch ein drohender Mann; ein Napoleon nach ſeiner Abdankung
in Fontainebleau (Delaroche) hat zwar keine Thaten mehr vor ſich, aber
all ſein Schickſal ruht auf Thaten, der Boden iſt zu real, um ein ſolches
Bild lyriſch zu nennen. Solchen realen, mit Factiſchem, das bevorſteht oder in die
Gegenwart hereinwirkt, durchſättigten Boden nennt man nun im engeren
Sinne Situation, und wo die Auffaſſung dieſer Seite ſo entſchieden her-
austritt, daß Alles, was Ausdruck des Seelenlebens iſt, unmittelbar als
der innere Reflex der äußern, in ſolcher Lage gegebenen Bedingungen er-
ſcheint, da entſteht das Situationsbild, das auf dem Uebergang zum eigentlich
Dramatiſchen liegt. Von dieſem unterſcheidet es ſich ungleich ſchärfer, als vom
Lyriſchen: es fehlt ihm der Ausdruck unmittelbarer Spannung zur That, die das
Dramatiſche bildet, der Augenblick geſtattet pſychologiſches Verweilen mit nur
entferntem Anklang oder Nachklang von Spannung, aber das Seelenleben,
bei dem wir verweilen, iſt nicht ſo innerlich, nicht ſo ſubjectiv in ſich verſenkt, um
lyriſch zu heißen, ſondern real afficirt, mit Objecten beſchäftigt. Faſſen wir
z. B. Leſſings Huß vor dem Concile zu Conſtanz in’s Auge, ſo leuchtet
zunächſt deutlich der Unterſchied vom dramatiſchen Bild ein. Man er-
wartet nach dieſem Namen den furchtbar ſtürmiſchen, drangvollen Entſchei-
dungsmoment der Verurtheilung im Dome und findet ſtatt deſſen eine
Diſputation des Reformators mit einer ausgewählten Gruppe von hohen
katholiſchen Clerikern, wozu einige charakteriſtiſche Nebenfiguren treten.
Da bereitet ſich wohl das Schickſal des Märtyrers vor und droht deutlich
genug aus den fanatiſchen Köpfen ſeiner Gegner, aber unmittelbar tritt
die Spannung auf dieſen Schickſalsmoment nicht ein, wir verweilen mit
pſychologiſchem Intereſſe bei einer Gruppe wenig bewegter, zunächſt nur
theoretiſch thätiger Charakterfiguren, ſtudiren die verſchiedenen Formen und
Typen des Fanatiſmus und der ihn unterſtützenden Indifferenz gegenüber
dem ſchlichten Wahrheitsſinne des Huß. Der Unterſchied vom Lyriſchen
beſteht aber darin, daß dieſe Perſonen nicht blos empfindend in ſich verſenkt,
daß ſie vielmehr ſichtbar mit Solchem beſchäftigt ſind, was eine furchtbare Hand-
lung und ein furchtbares Leiden vorbereitet. Dieß Beiſpiel erklärt zugleich
den Ausdruck des §.: „Arten des Thuns“. Hieher gehört namentlich
auch die Form des erbauenden Lehrens: die Predigt des Paulus in Athen
von Raphael iſt, obgleich an ſich voll Feuer, ein ſolches pſychologiſches
Situationsbild, ein predigender Johannes, Chriſtus unter gelagertem Volk,
ſo manche ähnliche Stoffe ſind Motive für Situationsbilder. Begeiſtertes
Lehren bewegt die Welt, bedingt Schickſale, aber nicht zunächſt, nicht un-
mittelbar; wir verweilen mit ſpannungsloſerem Intereſſe bei dem Seelen-
Ausdruck. Die Summe des Realen, die ſich dem erſcheinenden Inner-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 687. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/195>, abgerufen am 17.07.2024.
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