sage erst durch den Mund der Dichter gegangen sein kann, die letztere meist wirklich gegangen ist, ehe sie der Künstler übernimmt; reine Erfin- dung des Dichters aber muß ihrem Stoff die Lebenskraft und den vollen Schein gegeben haben, als wäre er Geschichte, wenn er Inhalt der ge- schichtlichen Malerei soll werden können. Einige Winke über die Be- nützung der Poesie durch die Malerei gibt die Anm. zu §. 543; §. 683 bestimmt die Grenzen im Allgemeinen.
§. 710.
Eingreifender und entscheidender sind die Unterschiede, die sich auf die1. Wahl des Moments gründen, und an sie schließt sich der Unterschied der Auffassungsweisen der Phantasie. Die erste der so sich bildenden For- men faßt die handelnde Menschheit in einem zwar geschichtlichen, aber doch einem solchen Moment auf, worin die Culturform, das Gewohnheitsmäßige, das Massenhafte vorwiegt. Hieher gehört nebst Anderem das Ceremonien- bild und eine Gattung des Schlachtbilds. Diese Sphäre ist im Ganzen als sittenbildliche Geschichtsmalerei zu bestimmen, der Standpunct innerhalb des Dramatischen der epische. Durch die Natur der Sache ist in vielen2. Fällen auch ein bedeutender Antheil der Landschaft und des eigentlichen Bild- nisses motivirt, aber die Verbindung mit diesen Formen darf so wenig, als das stärkere Gewicht des Sittenbildlichen, zu falscher Mischung führen.
1. Es bestätigt sich nun, was zu §. 709, 1. gesagt ist: das Dramatische versenkt sich zunächst wieder in das Epische. Die genre-artige Historie, das Sitten-Geschichtsbild ist nicht mit dem geschichtlichen Sittenbild (§. 703) zu verwechseln: dieses gibt geschichtlich bekannte Menschen in einem nicht ge- schichtlichen Momente; das erstere gibt solche in einem geschichtlichen Momente, worin aber entweder nicht gehandelt, sondern nur repräsentirt, oder blos geduldet, oder zwar gehandelt wird, aber nicht so, daß das schlechthin Entscheidende, der aus der Tiefe entschließende Geist dabei zum Vorschein kommt: das Zuständliche, Formelle, Gewohnheitsmäßige, Instinctmäßige, darum auch meist das Massenhafte herrscht vor; das spezifische Interesse für die Cultur- formen wird nicht in dem Grade zurückgedrängt, wie im strengen Ge- schichtsbilde. Ein bedeutendes Talent hat neuerdings sowohl im geschicht- lichen Sittenbilde, als auch im sittenbildlichen Geschichtsbilde Adolf Menzel entwickelt und dabei gezeigt, was sich auch aus dem Rokoko machen läßt. -- Der §. hebt das Ceremonienbild und eine Art des Schlacht- bilds heraus. Es wäre noch Manches anzuführen; wir nennen daraus die Darstellung politischer Versammlungen, sofern sie ohne Aufregung in ruhiger Repräsentation gefaßt sind, militärische Musterungen und Märsche, Wanderungen; der Rückzug aus Rußland z. B. ist historisch, aber kein
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ſage erſt durch den Mund der Dichter gegangen ſein kann, die letztere meiſt wirklich gegangen iſt, ehe ſie der Künſtler übernimmt; reine Erfin- dung des Dichters aber muß ihrem Stoff die Lebenskraft und den vollen Schein gegeben haben, als wäre er Geſchichte, wenn er Inhalt der ge- ſchichtlichen Malerei ſoll werden können. Einige Winke über die Be- nützung der Poeſie durch die Malerei gibt die Anm. zu §. 543; §. 683 beſtimmt die Grenzen im Allgemeinen.
§. 710.
Eingreifender und entſcheidender ſind die Unterſchiede, die ſich auf die1. Wahl des Moments gründen, und an ſie ſchließt ſich der Unterſchied der Auffaſſungsweiſen der Phantaſie. Die erſte der ſo ſich bildenden For- men faßt die handelnde Menſchheit in einem zwar geſchichtlichen, aber doch einem ſolchen Moment auf, worin die Culturform, das Gewohnheitsmäßige, das Maſſenhafte vorwiegt. Hieher gehört nebſt Anderem das Ceremonien- bild und eine Gattung des Schlachtbilds. Dieſe Sphäre iſt im Ganzen als ſittenbildliche Geſchichtsmalerei zu beſtimmen, der Standpunct innerhalb des Dramatiſchen der epiſche. Durch die Natur der Sache iſt in vielen2. Fällen auch ein bedeutender Antheil der Landſchaft und des eigentlichen Bild- niſſes motivirt, aber die Verbindung mit dieſen Formen darf ſo wenig, als das ſtärkere Gewicht des Sittenbildlichen, zu falſcher Miſchung führen.
1. Es beſtätigt ſich nun, was zu §. 709, 1. geſagt iſt: das Dramatiſche verſenkt ſich zunächſt wieder in das Epiſche. Die genre-artige Hiſtorie, das Sitten-Geſchichtsbild iſt nicht mit dem geſchichtlichen Sittenbild (§. 703) zu verwechſeln: dieſes gibt geſchichtlich bekannte Menſchen in einem nicht ge- ſchichtlichen Momente; das erſtere gibt ſolche in einem geſchichtlichen Momente, worin aber entweder nicht gehandelt, ſondern nur repräſentirt, oder blos geduldet, oder zwar gehandelt wird, aber nicht ſo, daß das ſchlechthin Entſcheidende, der aus der Tiefe entſchließende Geiſt dabei zum Vorſchein kommt: das Zuſtändliche, Formelle, Gewohnheitsmäßige, Inſtinctmäßige, darum auch meiſt das Maſſenhafte herrſcht vor; das ſpezifiſche Intereſſe für die Cultur- formen wird nicht in dem Grade zurückgedrängt, wie im ſtrengen Ge- ſchichtsbilde. Ein bedeutendes Talent hat neuerdings ſowohl im geſchicht- lichen Sittenbilde, als auch im ſittenbildlichen Geſchichtsbilde Adolf Menzel entwickelt und dabei gezeigt, was ſich auch aus dem Rokoko machen läßt. — Der §. hebt das Ceremonienbild und eine Art des Schlacht- bilds heraus. Es wäre noch Manches anzuführen; wir nennen daraus die Darſtellung politiſcher Verſammlungen, ſofern ſie ohne Aufregung in ruhiger Repräſentation gefaßt ſind, militäriſche Muſterungen und Märſche, Wanderungen; der Rückzug aus Rußland z. B. iſt hiſtoriſch, aber kein
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ſage erſt durch den Mund der Dichter gegangen ſein kann, die letztere
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dung des Dichters aber muß ihrem Stoff die Lebenskraft und den vollen
Schein gegeben haben, als wäre er Geſchichte, wenn er Inhalt der ge-
ſchichtlichen Malerei ſoll werden können. Einige Winke über die Be-
nützung der Poeſie durch die Malerei gibt die Anm. zu §. 543; §. 683
beſtimmt die Grenzen im Allgemeinen.
§. 710.
Eingreifender und entſcheidender ſind die Unterſchiede, die ſich auf die
Wahl des Moments gründen, und an ſie ſchließt ſich der Unterſchied der
Auffaſſungsweiſen der Phantaſie. Die erſte der ſo ſich bildenden For-
men faßt die handelnde Menſchheit in einem zwar geſchichtlichen, aber doch
einem ſolchen Moment auf, worin die Culturform, das Gewohnheitsmäßige,
das Maſſenhafte vorwiegt. Hieher gehört nebſt Anderem das Ceremonien-
bild und eine Gattung des Schlachtbilds. Dieſe Sphäre iſt im Ganzen als
ſittenbildliche Geſchichtsmalerei zu beſtimmen, der Standpunct innerhalb
des Dramatiſchen der epiſche. Durch die Natur der Sache iſt in vielen
Fällen auch ein bedeutender Antheil der Landſchaft und des eigentlichen Bild-
niſſes motivirt, aber die Verbindung mit dieſen Formen darf ſo wenig, als das
ſtärkere Gewicht des Sittenbildlichen, zu falſcher Miſchung führen.
1. Es beſtätigt ſich nun, was zu §. 709, 1. geſagt iſt: das Dramatiſche
verſenkt ſich zunächſt wieder in das Epiſche. Die genre-artige Hiſtorie, das
Sitten-Geſchichtsbild iſt nicht mit dem geſchichtlichen Sittenbild (§. 703) zu
verwechſeln: dieſes gibt geſchichtlich bekannte Menſchen in einem nicht ge-
ſchichtlichen Momente; das erſtere gibt ſolche in einem geſchichtlichen Momente,
worin aber entweder nicht gehandelt, ſondern nur repräſentirt, oder blos geduldet,
oder zwar gehandelt wird, aber nicht ſo, daß das ſchlechthin Entſcheidende,
der aus der Tiefe entſchließende Geiſt dabei zum Vorſchein kommt: das
Zuſtändliche, Formelle, Gewohnheitsmäßige, Inſtinctmäßige, darum auch
meiſt das Maſſenhafte herrſcht vor; das ſpezifiſche Intereſſe für die Cultur-
formen wird nicht in dem Grade zurückgedrängt, wie im ſtrengen Ge-
ſchichtsbilde. Ein bedeutendes Talent hat neuerdings ſowohl im geſchicht-
lichen Sittenbilde, als auch im ſittenbildlichen Geſchichtsbilde Adolf
Menzel entwickelt und dabei gezeigt, was ſich auch aus dem Rokoko
machen läßt. — Der §. hebt das Ceremonienbild und eine Art des Schlacht-
bilds heraus. Es wäre noch Manches anzuführen; wir nennen daraus
die Darſtellung politiſcher Verſammlungen, ſofern ſie ohne Aufregung in
ruhiger Repräſentation gefaßt ſind, militäriſche Muſterungen und Märſche,
Wanderungen; der Rückzug aus Rußland z. B. iſt hiſtoriſch, aber kein
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 683. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/191>, abgerufen am 17.07.2024.
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