fortführt. Es steht vor uns wie eine geschlossene Welt, wir schließen diese Welt auf, wir beleben in der Phantasie die ruhende Form und festge- wordene Einzelheit, umgeben sie mit den Zeitgenossen, setzen sie in Hand- lung. Der Künstler wird ebendieß ein andermal in wirklicher Ausführung thun und so ist das Porträt der Baustein zur geschichtlichen Malerei. In doppeltem Sinne: es dient dem Künstler als Studie für das geschicht- liche Bild, gleichgültig, ob dieselbe Person darin auftrete, er lernt daran das Ewige des Menschen und doch zugleich die ganze Naturlebendigkeit, die scharfe Spitze der Individualität auffassen; er verwendet aber auch wirklich das einzelne Bildniß, sei es sein eigenes Werk oder das eines frühern Künstlers, als Glied einer historischen Composition. Vollzieht er aber den Fortgang zum geschichtlichen Bild auch nicht wirklich, so werden, wenn der historische Geist in ihm lebendig ist, seine Bilder uns doch zu jener Belebung nöthigen, sie werden erscheinen, als wollten sie so eben aus dem Rahmen treten und handeln; somit führt er jedenfalls den Zuschauer an die Schwelle des geschichtlichen Bildes. An keinem Künstler leuchtet diese tiefe Bedeutung der Porträtmalerei so schlagend ein, als an Hans Holbein dem Jüngsten. Dieser große Geist ergreift mit seinem Falkenauge das Sittenbild, aber es kann sich neben dem my- thischen noch nicht als selbständiger Zweig entfalten und es ist ihm auch zu klein für die Größe seiner Künstler-Organe; das rein geschichtliche Bild aber kann in der inconsequenten Geistes-Krise der Reformation ebenfalls noch nicht zur Selbständigkeit heraus, er faßt es gewaltig an, besonders in den Gemälden des Rathhauses in Basel, aber ihn stützt und trägt die Zeit nicht, die äußern Verhältnisse kommen hinzu, denn der Künstler will leben, sie drängen ihn nach England und hier, zur höchsten Reife gediehen, beschränkt er sich (ein Ceremonienbild ausgenommen) auf das Bildniß, tränkt und schwängert es aber so ganz mit dem Marke des historischen Geistes, der zugleich ganz Fleisch wird im Individuum, daß in diesen Werken die Geschichte selbst athmet und lebt, daß das einzelne Bildniß vor uns aufthaut, die sprechenden Lippen mit den fein beredten Mundwinkeln öffnet, mit den hingeschiedenen Zeitgenossen zusammentritt und gegenwärtig wie im Drama das Schauspiel erneuert, dessen Vorhang längst gefallen ist. Wir führen nur diesen Künstler ausdrücklich an, weil er für das hier besprochene Verhältniß der Bildnißmalerei so besonders belehrend ist, und verzichten ungern auf eine Charakeristik der verschiede- nen Weisen, in welchen die großen Maler Italiens, die Florentiner, Raphael, die Venetianer, die Deutschen des sechzehnten Jahrhunderts, die Belgier Rubens und van Dyk, Rembrandt und andere holländische Mei- ster, die Spanier jene Aufgabe erfaßt und erfüllt haben, das Bleibende,
fortführt. Es ſteht vor uns wie eine geſchloſſene Welt, wir ſchließen dieſe Welt auf, wir beleben in der Phantaſie die ruhende Form und feſtge- wordene Einzelheit, umgeben ſie mit den Zeitgenoſſen, ſetzen ſie in Hand- lung. Der Künſtler wird ebendieß ein andermal in wirklicher Ausführung thun und ſo iſt das Porträt der Bauſtein zur geſchichtlichen Malerei. In doppeltem Sinne: es dient dem Künſtler als Studie für das geſchicht- liche Bild, gleichgültig, ob dieſelbe Perſon darin auftrete, er lernt daran das Ewige des Menſchen und doch zugleich die ganze Naturlebendigkeit, die ſcharfe Spitze der Individualität auffaſſen; er verwendet aber auch wirklich das einzelne Bildniß, ſei es ſein eigenes Werk oder das eines frühern Künſtlers, als Glied einer hiſtoriſchen Compoſition. Vollzieht er aber den Fortgang zum geſchichtlichen Bild auch nicht wirklich, ſo werden, wenn der hiſtoriſche Geiſt in ihm lebendig iſt, ſeine Bilder uns doch zu jener Belebung nöthigen, ſie werden erſcheinen, als wollten ſie ſo eben aus dem Rahmen treten und handeln; ſomit führt er jedenfalls den Zuſchauer an die Schwelle des geſchichtlichen Bildes. An keinem Künſtler leuchtet dieſe tiefe Bedeutung der Porträtmalerei ſo ſchlagend ein, als an Hans Holbein dem Jüngſten. Dieſer große Geiſt ergreift mit ſeinem Falkenauge das Sittenbild, aber es kann ſich neben dem my- thiſchen noch nicht als ſelbſtändiger Zweig entfalten und es iſt ihm auch zu klein für die Größe ſeiner Künſtler-Organe; das rein geſchichtliche Bild aber kann in der inconſequenten Geiſtes-Kriſe der Reformation ebenfalls noch nicht zur Selbſtändigkeit heraus, er faßt es gewaltig an, beſonders in den Gemälden des Rathhauſes in Baſel, aber ihn ſtützt und trägt die Zeit nicht, die äußern Verhältniſſe kommen hinzu, denn der Künſtler will leben, ſie drängen ihn nach England und hier, zur höchſten Reife gediehen, beſchränkt er ſich (ein Ceremonienbild ausgenommen) auf das Bildniß, tränkt und ſchwängert es aber ſo ganz mit dem Marke des hiſtoriſchen Geiſtes, der zugleich ganz Fleiſch wird im Individuum, daß in dieſen Werken die Geſchichte ſelbſt athmet und lebt, daß das einzelne Bildniß vor uns aufthaut, die ſprechenden Lippen mit den fein beredten Mundwinkeln öffnet, mit den hingeſchiedenen Zeitgenoſſen zuſammentritt und gegenwärtig wie im Drama das Schauſpiel erneuert, deſſen Vorhang längſt gefallen iſt. Wir führen nur dieſen Künſtler ausdrücklich an, weil er für das hier beſprochene Verhältniß der Bildnißmalerei ſo beſonders belehrend iſt, und verzichten ungern auf eine Charakeriſtik der verſchiede- nen Weiſen, in welchen die großen Maler Italiens, die Florentiner, Raphael, die Venetianer, die Deutſchen des ſechzehnten Jahrhunderts, die Belgier Rubens und van Dyk, Rembrandt und andere holländiſche Mei- ſter, die Spanier jene Aufgabe erfaßt und erfüllt haben, das Bleibende,
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fortführt. Es ſteht vor uns wie eine geſchloſſene Welt, wir ſchließen dieſe
Welt auf, wir beleben in der Phantaſie die ruhende Form und feſtge-
wordene Einzelheit, umgeben ſie mit den Zeitgenoſſen, ſetzen ſie in Hand-
lung. Der Künſtler wird ebendieß ein andermal in wirklicher Ausführung
thun und ſo iſt das Porträt der Bauſtein zur geſchichtlichen Malerei.
In doppeltem Sinne: es dient dem Künſtler als Studie für das geſchicht-
liche Bild, gleichgültig, ob dieſelbe Perſon darin auftrete, er lernt daran
das Ewige des Menſchen und doch zugleich die ganze Naturlebendigkeit,
die ſcharfe Spitze der Individualität auffaſſen; er verwendet aber auch
wirklich das einzelne Bildniß, ſei es ſein eigenes Werk oder das eines
frühern Künſtlers, als Glied einer hiſtoriſchen Compoſition. Vollzieht
er aber den Fortgang zum geſchichtlichen Bild auch nicht wirklich, ſo
werden, wenn der hiſtoriſche Geiſt in ihm lebendig iſt, ſeine Bilder uns
doch zu jener Belebung nöthigen, ſie werden erſcheinen, als wollten ſie
ſo eben aus dem Rahmen treten und handeln; ſomit führt er jedenfalls
den Zuſchauer an die Schwelle des geſchichtlichen Bildes. An keinem
Künſtler leuchtet dieſe tiefe Bedeutung der Porträtmalerei ſo ſchlagend
ein, als an Hans Holbein dem Jüngſten. Dieſer große Geiſt ergreift
mit ſeinem Falkenauge das Sittenbild, aber es kann ſich neben dem my-
thiſchen noch nicht als ſelbſtändiger Zweig entfalten und es iſt ihm auch
zu klein für die Größe ſeiner Künſtler-Organe; das rein geſchichtliche
Bild aber kann in der inconſequenten Geiſtes-Kriſe der Reformation
ebenfalls noch nicht zur Selbſtändigkeit heraus, er faßt es gewaltig an,
beſonders in den Gemälden des Rathhauſes in Baſel, aber ihn ſtützt und
trägt die Zeit nicht, die äußern Verhältniſſe kommen hinzu, denn der
Künſtler will leben, ſie drängen ihn nach England und hier, zur höchſten
Reife gediehen, beſchränkt er ſich (ein Ceremonienbild ausgenommen) auf
das Bildniß, tränkt und ſchwängert es aber ſo ganz mit dem Marke des
hiſtoriſchen Geiſtes, der zugleich ganz Fleiſch wird im Individuum, daß
in dieſen Werken die Geſchichte ſelbſt athmet und lebt, daß das einzelne
Bildniß vor uns aufthaut, die ſprechenden Lippen mit den fein beredten
Mundwinkeln öffnet, mit den hingeſchiedenen Zeitgenoſſen zuſammentritt
und gegenwärtig wie im Drama das Schauſpiel erneuert, deſſen Vorhang
längſt gefallen iſt. Wir führen nur dieſen Künſtler ausdrücklich an, weil
er für das hier beſprochene Verhältniß der Bildnißmalerei ſo beſonders
belehrend iſt, und verzichten ungern auf eine Charakeriſtik der verſchiede-
nen Weiſen, in welchen die großen Maler Italiens, die Florentiner,
Raphael, die Venetianer, die Deutſchen des ſechzehnten Jahrhunderts, die
Belgier Rubens und van Dyk, Rembrandt und andere holländiſche Mei-
ſter, die Spanier jene Aufgabe erfaßt und erfüllt haben, das Bleibende,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/185>, abgerufen am 16.02.2025.
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