Das Sittenbild kann jedoch auch die Geschichte in sein Bereich ziehen, indem sie die nicht geschichtlich gewordene Seite derselben als ihren Stoff er- greift. Ein anderes Gebiet öffnet sich durch die mythischen Stoffe, die zum Zwecke freierer Darstellung des allgemein Menschlichen benützt werden (vergl. §. 695, 2.). So zerfällt die Sitten-Malerei dem Stoffe nach in drei Haupt- sphären: reines, d. h. außergeschichtliches (§. 702), geschichtliches und mythisches (meist aus der Quelle der Dichtung geschöpftes) Sittenbild.
Die erste Eintheilung des ganzen Gebiets gründet sich auf den Stoff. Das eigentliche und reine Sittenbild heißt außergeschichtlich nur im Sinne von §. 702, denn in der That wird das Sittenbild seinen Stoff, so sehr es die ursprüngliche Einfachheit der Culturformen (vergl. §. 327) lieben mag, doch mit einer Ausnahme, die nachher zur Sprache kommt, immer spezifiziren, localisiren, nicht Fischer, Jäger, Hirten über- haupt, sondern italienische, arabische, norwegische u. s. w. malen. Die nicht geschichtliche Seite des Geschichtlichen ist sein Boden; doch nicht dieß allgemeine Verhältniß hat der erste Satz des §. im Auge: das Hinein- greifen in das Geschichtliche kann vielmehr so weit gehen, daß Personen dargestellt werden, deren Namen und Bedeutung allerdings die Geschichte aufbewahrt hat; aber nicht in einem der Momente, wo sie das historisch gewordene Entscheidende gethan haben, sondern in einem Momente der Gewohnheit, des Continuirlichen, wovon keine Geschichte als einem Ein- zelnen redet, kommen sie hier zur Darstellung: ein bekannter Feldherr, Künstler, Staatsmann, Fürst u. s. w. in irgend einer Situation, worin die Culturformen der Zeit, Soldatenleben, Familienleben, Fest, Genuß, Freud und Leid des täglichen Lebens nur dadurch bedeutender werden, daß sie an bedeutenden Namen als ihren Trägern zum Ausdrucke kommen; ein Napoleon, die Runde im Bivouac machend, ein Wallenstein mit Astro- logie beschäftigt, ein Rubens im Atelier, ein Kant im Studirzimmer, ein Richelieu unter Hofleuten, die sich in der Weise damaliger Gesellschaft unterhalten, ein Friederich der Große, als Kronprinz die Flöte vor dem Hofe spielend und Aehnliches: das sind geschichtliche Sittenbil- der. -- Nun aber muß allerdings der Sittenmaler auch das Bedürfniß haben, sich ein- und das anderemal ganz von allem Localisiren frei zu halten, damit er das allgemein Menschliche, die gemeinsamen Gattungs- kräfte, innere und äußere, in reinerer Idealität zum Ausdruck bringe; da wird er sich denn gern an das Mythische lehnen, wie dieß in §. 695, 2. vorbereitet ist. Das mythische Genre theilt sich nach der Anmerkung zu jenem §. in ein classisches und romantisches (sofern man unter dem letz-
Vischer's Aesthetik. 3. Band. 44
§. 703.
Das Sittenbild kann jedoch auch die Geſchichte in ſein Bereich ziehen, indem ſie die nicht geſchichtlich gewordene Seite derſelben als ihren Stoff er- greift. Ein anderes Gebiet öffnet ſich durch die mythiſchen Stoffe, die zum Zwecke freierer Darſtellung des allgemein Menſchlichen benützt werden (vergl. §. 695, 2.). So zerfällt die Sitten-Malerei dem Stoffe nach in drei Haupt- ſphären: reines, d. h. außergeſchichtliches (§. 702), geſchichtliches und mythiſches (meiſt aus der Quelle der Dichtung geſchöpftes) Sittenbild.
Die erſte Eintheilung des ganzen Gebiets gründet ſich auf den Stoff. Das eigentliche und reine Sittenbild heißt außergeſchichtlich nur im Sinne von §. 702, denn in der That wird das Sittenbild ſeinen Stoff, ſo ſehr es die urſprüngliche Einfachheit der Culturformen (vergl. §. 327) lieben mag, doch mit einer Ausnahme, die nachher zur Sprache kommt, immer ſpezifiziren, localiſiren, nicht Fiſcher, Jäger, Hirten über- haupt, ſondern italieniſche, arabiſche, norwegiſche u. ſ. w. malen. Die nicht geſchichtliche Seite des Geſchichtlichen iſt ſein Boden; doch nicht dieß allgemeine Verhältniß hat der erſte Satz des §. im Auge: das Hinein- greifen in das Geſchichtliche kann vielmehr ſo weit gehen, daß Perſonen dargeſtellt werden, deren Namen und Bedeutung allerdings die Geſchichte aufbewahrt hat; aber nicht in einem der Momente, wo ſie das hiſtoriſch gewordene Entſcheidende gethan haben, ſondern in einem Momente der Gewohnheit, des Continuirlichen, wovon keine Geſchichte als einem Ein- zelnen redet, kommen ſie hier zur Darſtellung: ein bekannter Feldherr, Künſtler, Staatsmann, Fürſt u. ſ. w. in irgend einer Situation, worin die Culturformen der Zeit, Soldatenleben, Familienleben, Feſt, Genuß, Freud und Leid des täglichen Lebens nur dadurch bedeutender werden, daß ſie an bedeutenden Namen als ihren Trägern zum Ausdrucke kommen; ein Napoleon, die Runde im Bivouac machend, ein Wallenſtein mit Aſtro- logie beſchäftigt, ein Rubens im Atelier, ein Kant im Studirzimmer, ein Richelieu unter Hofleuten, die ſich in der Weiſe damaliger Geſellſchaft unterhalten, ein Friederich der Große, als Kronprinz die Flöte vor dem Hofe ſpielend und Aehnliches: das ſind geſchichtliche Sittenbil- der. — Nun aber muß allerdings der Sittenmaler auch das Bedürfniß haben, ſich ein- und das anderemal ganz von allem Localiſiren frei zu halten, damit er das allgemein Menſchliche, die gemeinſamen Gattungs- kräfte, innere und äußere, in reinerer Idealität zum Ausdruck bringe; da wird er ſich denn gern an das Mythiſche lehnen, wie dieß in §. 695, 2. vorbereitet iſt. Das mythiſche Genre theilt ſich nach der Anmerkung zu jenem §. in ein claſſiſches und romantiſches (ſofern man unter dem letz-
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 44
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§. 703.
Das Sittenbild kann jedoch auch die Geſchichte in ſein Bereich ziehen,
indem ſie die nicht geſchichtlich gewordene Seite derſelben als ihren Stoff er-
greift. Ein anderes Gebiet öffnet ſich durch die mythiſchen Stoffe, die zum
Zwecke freierer Darſtellung des allgemein Menſchlichen benützt werden (vergl.
§. 695, 2.). So zerfällt die Sitten-Malerei dem Stoffe nach in drei Haupt-
ſphären: reines, d. h. außergeſchichtliches (§. 702), geſchichtliches
und mythiſches (meiſt aus der Quelle der Dichtung geſchöpftes) Sittenbild.
Die erſte Eintheilung des ganzen Gebiets gründet ſich auf den
Stoff. Das eigentliche und reine Sittenbild heißt außergeſchichtlich nur
im Sinne von §. 702, denn in der That wird das Sittenbild ſeinen
Stoff, ſo ſehr es die urſprüngliche Einfachheit der Culturformen (vergl.
§. 327) lieben mag, doch mit einer Ausnahme, die nachher zur Sprache
kommt, immer ſpezifiziren, localiſiren, nicht Fiſcher, Jäger, Hirten über-
haupt, ſondern italieniſche, arabiſche, norwegiſche u. ſ. w. malen. Die
nicht geſchichtliche Seite des Geſchichtlichen iſt ſein Boden; doch nicht dieß
allgemeine Verhältniß hat der erſte Satz des §. im Auge: das Hinein-
greifen in das Geſchichtliche kann vielmehr ſo weit gehen, daß Perſonen
dargeſtellt werden, deren Namen und Bedeutung allerdings die Geſchichte
aufbewahrt hat; aber nicht in einem der Momente, wo ſie das hiſtoriſch
gewordene Entſcheidende gethan haben, ſondern in einem Momente der
Gewohnheit, des Continuirlichen, wovon keine Geſchichte als einem Ein-
zelnen redet, kommen ſie hier zur Darſtellung: ein bekannter Feldherr,
Künſtler, Staatsmann, Fürſt u. ſ. w. in irgend einer Situation, worin
die Culturformen der Zeit, Soldatenleben, Familienleben, Feſt, Genuß,
Freud und Leid des täglichen Lebens nur dadurch bedeutender werden,
daß ſie an bedeutenden Namen als ihren Trägern zum Ausdrucke kommen;
ein Napoleon, die Runde im Bivouac machend, ein Wallenſtein mit Aſtro-
logie beſchäftigt, ein Rubens im Atelier, ein Kant im Studirzimmer, ein
Richelieu unter Hofleuten, die ſich in der Weiſe damaliger Geſellſchaft
unterhalten, ein Friederich der Große, als Kronprinz die Flöte vor
dem Hofe ſpielend und Aehnliches: das ſind geſchichtliche Sittenbil-
der. — Nun aber muß allerdings der Sittenmaler auch das Bedürfniß
haben, ſich ein- und das anderemal ganz von allem Localiſiren frei zu
halten, damit er das allgemein Menſchliche, die gemeinſamen Gattungs-
kräfte, innere und äußere, in reinerer Idealität zum Ausdruck bringe;
da wird er ſich denn gern an das Mythiſche lehnen, wie dieß in §. 695, 2.
vorbereitet iſt. Das mythiſche Genre theilt ſich nach der Anmerkung zu
jenem §. in ein claſſiſches und romantiſches (ſofern man unter dem letz-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 665. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/173>, abgerufen am 22.12.2024.
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