Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
gungen hin, die ihn im gewöhnlichen Leben beherrschen; noch mehr aller-
gungen hin, die ihn im gewöhnlichen Leben beherrſchen; noch mehr aller- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0172" n="664"/> gungen hin, die ihn im gewöhnlichen Leben beherrſchen; noch mehr aller-<lb/> dings in den Augenblicken, wo nicht Bedeutendes ihn aufrüttelt, und das<lb/> Sittenbild wird ſich immerhin vorzüglich mit ſolchen beſchäftigen. Die<lb/> Bedingungen des Geſchlechts, Alters, anthropologiſchen Zuſtands, Stan-<lb/> des und Geſchäfts, Genuſſes, der geltenden Formen in Koſtüm, Umgangs-<lb/> ſitte, Genuß, Trauer, Arbeit treten nun in ihrer ganzen Breite an ſeiner<lb/> Erſcheinung hervor und in dieſem Elemente läßt denn auch die In-<lb/> dividualität des Einzelnen ihre ganze Eigenheit ſpielen; er glaubt ſich<lb/> ganz unbelauſcht, er weiß nicht, daß der Maler ihn belauſcht und eben-<lb/> dieß drückt der belauſchende Maler aus. Wie nun dieß Alles in Geltung<lb/> geſetzt iſt, ſo tritt hiemit auch das Umgebende, der ganze Anhang und<lb/> Apparat, durch den der Menſch ſein tägliches Leben friſtet, ſchmückt, er-<lb/> heitert, in umfaſſende Berechtigung ein; die äußern Culturformen ſpielen<lb/> im Sittenbild eine Haupt-Rolle. Hiemit iſt begründet, was ſchon zu<lb/> §. 697, <hi rendition="#sub">1.</hi> im Allgemeinen aufgeſtellt worden: die Auffaſſung im Sitten-<lb/> bild iſt die <hi rendition="#g">epiſche</hi>. Daß das eigentliche Epos mit <hi rendition="#g">benannten</hi> Größen<lb/> darſtellt, verändert, wie ſich ſeines Orts zeigen wird, nichts an der Rich-<lb/> tigkeit dieſes Satzes. Der Menſch des Sittenbilds iſt der <hi rendition="#g">zuſtändliche</hi><lb/> Menſch; handelt er, ſo bewegt er doch nicht die Welt, ſchöpft nicht aus<lb/> der reinen Freiheit der Selbſtbeſtimmung eine That, welche den Knoten<lb/> des Complexes, in welchem er als Kind der Natur und der Sitte einge-<lb/> flochten lebt, mit ſtraffer Hand, mit ſcharfem Schwerte zerhaut und einen<lb/> neuen ſchürzt; ſelbſt wenn er den Faden des Gegebenen abbricht und<lb/> z. B. revolutionirt, ſo wendet ſich die Kunſt dem Gebahren der Maſſen,<lb/> dem Bilde der allgemeinen Leidenſchaften, den Formen der Aeußerung, nicht<lb/> der großen, freien, aus einem Willen, den die Geſchichte ſich merkt, her-<lb/> vorgeſtiegenen Thatſache zu. Alſo auch die Freiheit tritt unter dem Stand-<lb/> puncte des Inſtinctlebens auf. Der §. ſagt, der Menſch erſcheine im<lb/> Sittenbild als Naturweſen im engeren und weiteren Sinne des Worts;<lb/> was oben von den Bedingungen bemerkt iſt, die ihn in dieſer Sphäre<lb/> beherrſchen, gibt den Anhalt für dieſe Unterſcheidung. Bald iſt es mehr<lb/> das Anthropologiſche als ſolches, Geſtalt, ſinnlicher Zuſtand, irgend eine<lb/> Beziehung auf die äußere Natur ohne tiefere Einkehr in ſich, bald der<lb/> künſtliche und der moraliſche Menſch, der zur Darſtellung kommt; aber,<lb/> wie geſagt, auch im letztern Falle wird die Freiheit zu einer Art von<lb/> Nothwendigkeit, einem beherrſchenden Element, einer zweiten Natur. Dieß<lb/> war die Meinung, wenn zu §. 696 geſagt wurde, im Sittenbild werde<lb/> das menſchliche Leben wie ein landſchaftliches Sein aufgefaßt.</hi> </p> </div><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [664/0172]
gungen hin, die ihn im gewöhnlichen Leben beherrſchen; noch mehr aller-
dings in den Augenblicken, wo nicht Bedeutendes ihn aufrüttelt, und das
Sittenbild wird ſich immerhin vorzüglich mit ſolchen beſchäftigen. Die
Bedingungen des Geſchlechts, Alters, anthropologiſchen Zuſtands, Stan-
des und Geſchäfts, Genuſſes, der geltenden Formen in Koſtüm, Umgangs-
ſitte, Genuß, Trauer, Arbeit treten nun in ihrer ganzen Breite an ſeiner
Erſcheinung hervor und in dieſem Elemente läßt denn auch die In-
dividualität des Einzelnen ihre ganze Eigenheit ſpielen; er glaubt ſich
ganz unbelauſcht, er weiß nicht, daß der Maler ihn belauſcht und eben-
dieß drückt der belauſchende Maler aus. Wie nun dieß Alles in Geltung
geſetzt iſt, ſo tritt hiemit auch das Umgebende, der ganze Anhang und
Apparat, durch den der Menſch ſein tägliches Leben friſtet, ſchmückt, er-
heitert, in umfaſſende Berechtigung ein; die äußern Culturformen ſpielen
im Sittenbild eine Haupt-Rolle. Hiemit iſt begründet, was ſchon zu
§. 697, 1. im Allgemeinen aufgeſtellt worden: die Auffaſſung im Sitten-
bild iſt die epiſche. Daß das eigentliche Epos mit benannten Größen
darſtellt, verändert, wie ſich ſeines Orts zeigen wird, nichts an der Rich-
tigkeit dieſes Satzes. Der Menſch des Sittenbilds iſt der zuſtändliche
Menſch; handelt er, ſo bewegt er doch nicht die Welt, ſchöpft nicht aus
der reinen Freiheit der Selbſtbeſtimmung eine That, welche den Knoten
des Complexes, in welchem er als Kind der Natur und der Sitte einge-
flochten lebt, mit ſtraffer Hand, mit ſcharfem Schwerte zerhaut und einen
neuen ſchürzt; ſelbſt wenn er den Faden des Gegebenen abbricht und
z. B. revolutionirt, ſo wendet ſich die Kunſt dem Gebahren der Maſſen,
dem Bilde der allgemeinen Leidenſchaften, den Formen der Aeußerung, nicht
der großen, freien, aus einem Willen, den die Geſchichte ſich merkt, her-
vorgeſtiegenen Thatſache zu. Alſo auch die Freiheit tritt unter dem Stand-
puncte des Inſtinctlebens auf. Der §. ſagt, der Menſch erſcheine im
Sittenbild als Naturweſen im engeren und weiteren Sinne des Worts;
was oben von den Bedingungen bemerkt iſt, die ihn in dieſer Sphäre
beherrſchen, gibt den Anhalt für dieſe Unterſcheidung. Bald iſt es mehr
das Anthropologiſche als ſolches, Geſtalt, ſinnlicher Zuſtand, irgend eine
Beziehung auf die äußere Natur ohne tiefere Einkehr in ſich, bald der
künſtliche und der moraliſche Menſch, der zur Darſtellung kommt; aber,
wie geſagt, auch im letztern Falle wird die Freiheit zu einer Art von
Nothwendigkeit, einem beherrſchenden Element, einer zweiten Natur. Dieß
war die Meinung, wenn zu §. 696 geſagt wurde, im Sittenbild werde
das menſchliche Leben wie ein landſchaftliches Sein aufgefaßt.
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