wir gesehen, wie diese Uebertritte der Phantasie von dem Boden der einen Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunst in ihre drei selbständigen Gebiete begründen, sondern zugleich eines der Hauptmomente bilden, wodurch sich die einzelne Kunst in ihre Zweige spaltet. Diese Spaltung ist in der Poesie so stark, daß die Formen, die daraus entstehen, ebenso selbständig sich unterscheiden würden, wie Bau- kunst, Plastik und Malerei, wenn nicht die geistige Natur dieser Kunst als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge- biete der bildenden Kunst kann sie als Motiv für die Unter-Eintheilung nur erst schwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geschlossen sind und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterschied des Epischen, Lyrischen, Dramatischen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt klingt derselbe in den Zweigen der Baukunst an (vergl. §. 574, 3.), etwas deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich voller und stärker nun aber, wiewohl immer noch nur erst secundär, in der subjectiv bewegtesten unter den bildenden Künsten, der Malerei. Die Landschaft ist lyrisch oder musikalisch, das Sittenbild episch, das geschicht- liche Bild dramatisch. Diese Unterscheidung zieht sich ohne logischen Wi- derspruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landschaftmalerei der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. s. w.; denn es ist ja gesagt, daß das subjective Moment der Auffassung hier noch nicht als entscheidendes Theilungsprinzip auftritt, sondern die Erfassung des Stoffs, und auf die Natur dieses Stoffs ist dort die durchgreifende Eintheilung ge- gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach, um die unbeseelte, an sich objectiv bestimmte Natur zum Kunststoffe zu erheben, die ganze Innigkeit der musikalischen, lyrischen Empfindung nöthig ist; im Sittenbilde verfestigt sich diese, obwohl nun das menschliche Sub- ject der Gegenstand ist, wieder zum sächlichen Charakter der epischen Stimmung, und im geschichtlichen Bilde färbt sich das Epische mit dem dramatischen Feuer.
2. Welche Momente die weitere Theilung der also getheilten Zweige selbst begründen, ist in §. 540 gesagt. Es wird sich nun zeigen, wie namentlich dasjenige, von welchem so eben die Rede gewesen, in dieser Richtung noch einmal und hier allerdings als das entscheidende auftritt, und wie sich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber ist die Stärke, welche der Unterschied der Style erlangt hat; hiedurch tritt ein weiteres Moment hinzu, das sich mit dem Unterschiede des Lyrischen, Epischen, Dramatischen und mit dem des Materials und der Technik in Verbindung setzen wird.
wir geſehen, wie dieſe Uebertritte der Phantaſie von dem Boden der einen Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunſt in ihre drei ſelbſtändigen Gebiete begründen, ſondern zugleich eines der Hauptmomente bilden, wodurch ſich die einzelne Kunſt in ihre Zweige ſpaltet. Dieſe Spaltung iſt in der Poeſie ſo ſtark, daß die Formen, die daraus entſtehen, ebenſo ſelbſtändig ſich unterſcheiden würden, wie Bau- kunſt, Plaſtik und Malerei, wenn nicht die geiſtige Natur dieſer Kunſt als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge- biete der bildenden Kunſt kann ſie als Motiv für die Unter-Eintheilung nur erſt ſchwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geſchloſſen ſind und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt klingt derſelbe in den Zweigen der Baukunſt an (vergl. §. 574, 3.), etwas deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich voller und ſtärker nun aber, wiewohl immer noch nur erſt ſecundär, in der ſubjectiv bewegteſten unter den bildenden Künſten, der Malerei. Die Landſchaft iſt lyriſch oder muſikaliſch, das Sittenbild epiſch, das geſchicht- liche Bild dramatiſch. Dieſe Unterſcheidung zieht ſich ohne logiſchen Wi- derſpruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landſchaftmalerei der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. ſ. w.; denn es iſt ja geſagt, daß das ſubjective Moment der Auffaſſung hier noch nicht als entſcheidendes Theilungsprinzip auftritt, ſondern die Erfaſſung des Stoffs, und auf die Natur dieſes Stoffs iſt dort die durchgreifende Eintheilung ge- gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach, um die unbeſeelte, an ſich objectiv beſtimmte Natur zum Kunſtſtoffe zu erheben, die ganze Innigkeit der muſikaliſchen, lyriſchen Empfindung nöthig iſt; im Sittenbilde verfeſtigt ſich dieſe, obwohl nun das menſchliche Sub- ject der Gegenſtand iſt, wieder zum ſächlichen Charakter der epiſchen Stimmung, und im geſchichtlichen Bilde färbt ſich das Epiſche mit dem dramatiſchen Feuer.
2. Welche Momente die weitere Theilung der alſo getheilten Zweige ſelbſt begründen, iſt in §. 540 geſagt. Es wird ſich nun zeigen, wie namentlich dasjenige, von welchem ſo eben die Rede geweſen, in dieſer Richtung noch einmal und hier allerdings als das entſcheidende auftritt, und wie ſich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber iſt die Stärke, welche der Unterſchied der Style erlangt hat; hiedurch tritt ein weiteres Moment hinzu, das ſich mit dem Unterſchiede des Lyriſchen, Epiſchen, Dramatiſchen und mit dem des Materials und der Technik in Verbindung ſetzen wird.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0155"n="647"/>
wir geſehen, wie dieſe Uebertritte der Phantaſie von dem Boden der einen<lb/>
Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunſt<lb/>
in ihre drei ſelbſtändigen Gebiete begründen, ſondern zugleich eines der<lb/>
Hauptmomente bilden, wodurch ſich die einzelne Kunſt in ihre Zweige<lb/>ſpaltet. Dieſe Spaltung iſt in der Poeſie ſo ſtark, daß die Formen, die<lb/>
daraus entſtehen, ebenſo ſelbſtändig ſich unterſcheiden würden, wie Bau-<lb/>
kunſt, Plaſtik und Malerei, wenn nicht die geiſtige Natur dieſer Kunſt<lb/>
als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge-<lb/>
biete der bildenden Kunſt kann ſie als Motiv für die Unter-Eintheilung<lb/>
nur erſt ſchwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geſchloſſen ſind<lb/>
und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterſchied des<lb/>
Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt<lb/>
klingt derſelbe in den Zweigen der Baukunſt an (vergl. §. 574, <hirendition="#sub">3.</hi>), etwas<lb/>
deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, <hirendition="#sub">1.</hi>), ungleich<lb/>
voller und ſtärker nun aber, wiewohl immer noch nur erſt ſecundär, in<lb/>
der ſubjectiv bewegteſten unter den bildenden Künſten, der Malerei. Die<lb/>
Landſchaft iſt lyriſch oder muſikaliſch, das Sittenbild epiſch, das geſchicht-<lb/>
liche Bild dramatiſch. Dieſe Unterſcheidung zieht ſich ohne logiſchen Wi-<lb/>
derſpruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landſchaftmalerei<lb/>
der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. ſ. w.; denn es iſt ja<lb/>
geſagt, daß das ſubjective Moment der Auffaſſung hier noch nicht als<lb/>
entſcheidendes Theilungsprinzip auftritt, ſondern die Erfaſſung des Stoffs,<lb/>
und auf die Natur dieſes Stoffs iſt dort die durchgreifende Eintheilung ge-<lb/>
gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach,<lb/>
um die unbeſeelte, an ſich objectiv beſtimmte Natur zum Kunſtſtoffe zu<lb/>
erheben, die ganze Innigkeit der muſikaliſchen, lyriſchen Empfindung nöthig<lb/>
iſt; im Sittenbilde verfeſtigt ſich dieſe, obwohl nun das menſchliche Sub-<lb/>
ject der Gegenſtand iſt, wieder zum ſächlichen Charakter der epiſchen<lb/>
Stimmung, und im geſchichtlichen Bilde färbt ſich das Epiſche mit dem<lb/>
dramatiſchen Feuer.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Welche Momente die weitere Theilung der alſo getheilten Zweige<lb/>ſelbſt begründen, iſt in §. 540 geſagt. Es wird ſich nun zeigen, wie<lb/>
namentlich dasjenige, von welchem ſo eben die Rede geweſen, in dieſer<lb/>
Richtung noch einmal und hier allerdings als das entſcheidende auftritt,<lb/>
und wie ſich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber<lb/>
iſt die Stärke, welche der Unterſchied der Style erlangt hat; hiedurch tritt<lb/>
ein weiteres Moment hinzu, das ſich mit dem Unterſchiede des Lyriſchen,<lb/>
Epiſchen, Dramatiſchen und mit dem des Materials und der Technik in<lb/>
Verbindung ſetzen wird.</hi></p></div><lb/></div></div></body></text></TEI>
[647/0155]
wir geſehen, wie dieſe Uebertritte der Phantaſie von dem Boden der einen
Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunſt
in ihre drei ſelbſtändigen Gebiete begründen, ſondern zugleich eines der
Hauptmomente bilden, wodurch ſich die einzelne Kunſt in ihre Zweige
ſpaltet. Dieſe Spaltung iſt in der Poeſie ſo ſtark, daß die Formen, die
daraus entſtehen, ebenſo ſelbſtändig ſich unterſcheiden würden, wie Bau-
kunſt, Plaſtik und Malerei, wenn nicht die geiſtige Natur dieſer Kunſt
als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge-
biete der bildenden Kunſt kann ſie als Motiv für die Unter-Eintheilung
nur erſt ſchwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geſchloſſen ſind
und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterſchied des
Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt
klingt derſelbe in den Zweigen der Baukunſt an (vergl. §. 574, 3.), etwas
deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich
voller und ſtärker nun aber, wiewohl immer noch nur erſt ſecundär, in
der ſubjectiv bewegteſten unter den bildenden Künſten, der Malerei. Die
Landſchaft iſt lyriſch oder muſikaliſch, das Sittenbild epiſch, das geſchicht-
liche Bild dramatiſch. Dieſe Unterſcheidung zieht ſich ohne logiſchen Wi-
derſpruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landſchaftmalerei
der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. ſ. w.; denn es iſt ja
geſagt, daß das ſubjective Moment der Auffaſſung hier noch nicht als
entſcheidendes Theilungsprinzip auftritt, ſondern die Erfaſſung des Stoffs,
und auf die Natur dieſes Stoffs iſt dort die durchgreifende Eintheilung ge-
gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach,
um die unbeſeelte, an ſich objectiv beſtimmte Natur zum Kunſtſtoffe zu
erheben, die ganze Innigkeit der muſikaliſchen, lyriſchen Empfindung nöthig
iſt; im Sittenbilde verfeſtigt ſich dieſe, obwohl nun das menſchliche Sub-
ject der Gegenſtand iſt, wieder zum ſächlichen Charakter der epiſchen
Stimmung, und im geſchichtlichen Bilde färbt ſich das Epiſche mit dem
dramatiſchen Feuer.
2. Welche Momente die weitere Theilung der alſo getheilten Zweige
ſelbſt begründen, iſt in §. 540 geſagt. Es wird ſich nun zeigen, wie
namentlich dasjenige, von welchem ſo eben die Rede geweſen, in dieſer
Richtung noch einmal und hier allerdings als das entſcheidende auftritt,
und wie ſich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber
iſt die Stärke, welche der Unterſchied der Style erlangt hat; hiedurch tritt
ein weiteres Moment hinzu, das ſich mit dem Unterſchiede des Lyriſchen,
Epiſchen, Dramatiſchen und mit dem des Materials und der Technik in
Verbindung ſetzen wird.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/155>, abgerufen am 20.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.