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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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gekehrt. Das symmetrische Gegenüber, das wir im vorh. §. gefunden,
ist ja nur der Ausdruck des innern Gegenstoßes, den sich die Einheit
gibt; durch zu dichte Knäuel und durch Zerstreutheit des Einzelnen leidet,
weil die Vielheit sich in's Unklare verliert, eben auch die Einheit. Zu
§. 498, 1. ist die Theilung der zwölf Apostel in Gruppen von je drei
Männern angeführt, wodurch Leonardo da Vinci die Monotonie der an
einer Tafel sitzenden dreizehn Figuren gebrochen hat: diese sind dadurch
verbunden, aber auch getrennt, denn zwischen den Gruppen ist schärfere
Scheidung, als zwischen den mehr isolirten Einzelnen wäre. Was aber
in dieser Composition sowohl trennt, als vereinigt, das ist das eben ge-
sprochene Wort Christi: Einer unter euch wird mich heute verrathen; dieses
Wort hat wie ein Blitz eingeschlagen, Alle sind nur mit ihm beschäftigt,
Jeder auf andere Weise, und da sich Jeder äußern muß, so führt ihn
das Bedürfniß der Mittheilung zu dem Nachbar; es kann aber nicht
Jeder mit Jedem sich besprechen, so bilden sich ganz natürliche Gruppen
von je drei Männern, worin jedoch wieder für den Unterschied gesorgt
ist, indem Einzelne nur der Linie nach mit ihrer Gruppe zusammenge-
hören und in Wirklichkeit doch mehr für sich sind oder sich hinauswenden
nach der Hauptperson. Trotz diesem Ineinander der zugleich trennenden
und bindenden Wirkung müssen wir aber die Einheit dennoch für sich be-
trachten; dieß ergibt sich vor Allem daraus, daß der Contrast, obwohl
selbst in der Einheit gegründet, doch bis zur Zerreißung fortgehen kann,
wenn die Einheit zwar in der Idee liegt, aber nicht in's Auge tritt. So
reichen z. B. die Nachweisungen einer innern, ethischen Einheit nicht aus,
um die Zweiheit, in welche Raphaels Transfiguration in der Richtung des
Oben und Unten zerfällt, zu rechtfertigen; weit eher findet man hier die
Rechtfertigung in dem mehr architektonischen Gesetze der mythischen Ma-
lerei; die Theile verhalten sich in diesem Bilde wirklich wie Wand und
Giebel. In der gesperrten Landschaft schneidet Everdingen öfters die
mittlere Höhe mit einer zu scharfen, unangenehm trennenden Horizontale
durch; in der geöffneten muß es jedem Künstler sein Gefühl sagen, ob
die zwischen einem Gegenüber von Bergen oder dergl. aufgeschlossene
Ferne noch den einheitlichen Abschluß eines Berges am äußersten Horizonte
bedarf; nach Umständen fällt ohne diese zusammenfassende Form das
Ganze der Breite nach wie in zwei Stücke auseinander, nach Umständen
wirkt umgekehrt die Zuthat zerreißend. -- Es muß nun aber die Einheit
auch ihren eigenen, besondern Ausdruck finden, muß sich als ausdrückliche
Erscheinung neben die von ihr beherrschte Vielheit stellen. Hier tritt die
Höhe in einer neuen Bedeutung auf. Wir haben dieselbe schon im vorh.
§. zur Sprache gebracht, doch nur erst nach der Seite der Scheidung,
der sich gegenübertretenden Vielheit; freilich, wenn dort gesagt ist, der

gekehrt. Das ſymmetriſche Gegenüber, das wir im vorh. §. gefunden,
iſt ja nur der Ausdruck des innern Gegenſtoßes, den ſich die Einheit
gibt; durch zu dichte Knäuel und durch Zerſtreutheit des Einzelnen leidet,
weil die Vielheit ſich in’s Unklare verliert, eben auch die Einheit. Zu
§. 498, 1. iſt die Theilung der zwölf Apoſtel in Gruppen von je drei
Männern angeführt, wodurch Leonardo da Vinci die Monotonie der an
einer Tafel ſitzenden dreizehn Figuren gebrochen hat: dieſe ſind dadurch
verbunden, aber auch getrennt, denn zwiſchen den Gruppen iſt ſchärfere
Scheidung, als zwiſchen den mehr iſolirten Einzelnen wäre. Was aber
in dieſer Compoſition ſowohl trennt, als vereinigt, das iſt das eben ge-
ſprochene Wort Chriſti: Einer unter euch wird mich heute verrathen; dieſes
Wort hat wie ein Blitz eingeſchlagen, Alle ſind nur mit ihm beſchäftigt,
Jeder auf andere Weiſe, und da ſich Jeder äußern muß, ſo führt ihn
das Bedürfniß der Mittheilung zu dem Nachbar; es kann aber nicht
Jeder mit Jedem ſich beſprechen, ſo bilden ſich ganz natürliche Gruppen
von je drei Männern, worin jedoch wieder für den Unterſchied geſorgt
iſt, indem Einzelne nur der Linie nach mit ihrer Gruppe zuſammenge-
hören und in Wirklichkeit doch mehr für ſich ſind oder ſich hinauswenden
nach der Hauptperſon. Trotz dieſem Ineinander der zugleich trennenden
und bindenden Wirkung müſſen wir aber die Einheit dennoch für ſich be-
trachten; dieß ergibt ſich vor Allem daraus, daß der Contraſt, obwohl
ſelbſt in der Einheit gegründet, doch bis zur Zerreißung fortgehen kann,
wenn die Einheit zwar in der Idee liegt, aber nicht in’s Auge tritt. So
reichen z. B. die Nachweiſungen einer innern, ethiſchen Einheit nicht aus,
um die Zweiheit, in welche Raphaels Transfiguration in der Richtung des
Oben und Unten zerfällt, zu rechtfertigen; weit eher findet man hier die
Rechtfertigung in dem mehr architektoniſchen Geſetze der mythiſchen Ma-
lerei; die Theile verhalten ſich in dieſem Bilde wirklich wie Wand und
Giebel. In der geſperrten Landſchaft ſchneidet Everdingen öfters die
mittlere Höhe mit einer zu ſcharfen, unangenehm trennenden Horizontale
durch; in der geöffneten muß es jedem Künſtler ſein Gefühl ſagen, ob
die zwiſchen einem Gegenüber von Bergen oder dergl. aufgeſchloſſene
Ferne noch den einheitlichen Abſchluß eines Berges am äußerſten Horizonte
bedarf; nach Umſtänden fällt ohne dieſe zuſammenfaſſende Form das
Ganze der Breite nach wie in zwei Stücke auseinander, nach Umſtänden
wirkt umgekehrt die Zuthat zerreißend. — Es muß nun aber die Einheit
auch ihren eigenen, beſondern Ausdruck finden, muß ſich als ausdrückliche
Erſcheinung neben die von ihr beherrſchte Vielheit ſtellen. Hier tritt die
Höhe in einer neuen Bedeutung auf. Wir haben dieſelbe ſchon im vorh.
§. zur Sprache gebracht, doch nur erſt nach der Seite der Scheidung,
der ſich gegenübertretenden Vielheit; freilich, wenn dort geſagt iſt, der

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[627/0135] gekehrt. Das ſymmetriſche Gegenüber, das wir im vorh. §. gefunden, iſt ja nur der Ausdruck des innern Gegenſtoßes, den ſich die Einheit gibt; durch zu dichte Knäuel und durch Zerſtreutheit des Einzelnen leidet, weil die Vielheit ſich in’s Unklare verliert, eben auch die Einheit. Zu §. 498, 1. iſt die Theilung der zwölf Apoſtel in Gruppen von je drei Männern angeführt, wodurch Leonardo da Vinci die Monotonie der an einer Tafel ſitzenden dreizehn Figuren gebrochen hat: dieſe ſind dadurch verbunden, aber auch getrennt, denn zwiſchen den Gruppen iſt ſchärfere Scheidung, als zwiſchen den mehr iſolirten Einzelnen wäre. Was aber in dieſer Compoſition ſowohl trennt, als vereinigt, das iſt das eben ge- ſprochene Wort Chriſti: Einer unter euch wird mich heute verrathen; dieſes Wort hat wie ein Blitz eingeſchlagen, Alle ſind nur mit ihm beſchäftigt, Jeder auf andere Weiſe, und da ſich Jeder äußern muß, ſo führt ihn das Bedürfniß der Mittheilung zu dem Nachbar; es kann aber nicht Jeder mit Jedem ſich beſprechen, ſo bilden ſich ganz natürliche Gruppen von je drei Männern, worin jedoch wieder für den Unterſchied geſorgt iſt, indem Einzelne nur der Linie nach mit ihrer Gruppe zuſammenge- hören und in Wirklichkeit doch mehr für ſich ſind oder ſich hinauswenden nach der Hauptperſon. Trotz dieſem Ineinander der zugleich trennenden und bindenden Wirkung müſſen wir aber die Einheit dennoch für ſich be- trachten; dieß ergibt ſich vor Allem daraus, daß der Contraſt, obwohl ſelbſt in der Einheit gegründet, doch bis zur Zerreißung fortgehen kann, wenn die Einheit zwar in der Idee liegt, aber nicht in’s Auge tritt. So reichen z. B. die Nachweiſungen einer innern, ethiſchen Einheit nicht aus, um die Zweiheit, in welche Raphaels Transfiguration in der Richtung des Oben und Unten zerfällt, zu rechtfertigen; weit eher findet man hier die Rechtfertigung in dem mehr architektoniſchen Geſetze der mythiſchen Ma- lerei; die Theile verhalten ſich in dieſem Bilde wirklich wie Wand und Giebel. In der geſperrten Landſchaft ſchneidet Everdingen öfters die mittlere Höhe mit einer zu ſcharfen, unangenehm trennenden Horizontale durch; in der geöffneten muß es jedem Künſtler ſein Gefühl ſagen, ob die zwiſchen einem Gegenüber von Bergen oder dergl. aufgeſchloſſene Ferne noch den einheitlichen Abſchluß eines Berges am äußerſten Horizonte bedarf; nach Umſtänden fällt ohne dieſe zuſammenfaſſende Form das Ganze der Breite nach wie in zwei Stücke auseinander, nach Umſtänden wirkt umgekehrt die Zuthat zerreißend. — Es muß nun aber die Einheit auch ihren eigenen, beſondern Ausdruck finden, muß ſich als ausdrückliche Erſcheinung neben die von ihr beherrſchte Vielheit ſtellen. Hier tritt die Höhe in einer neuen Bedeutung auf. Wir haben dieſelbe ſchon im vorh. §. zur Sprache gebracht, doch nur erſt nach der Seite der Scheidung, der ſich gegenübertretenden Vielheit; freilich, wenn dort geſagt iſt, der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 627. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/135>, abgerufen am 22.11.2024.