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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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liegt die scheidende Kraft im Inhalte des Kunstwerks selbst: es ist milder
oder starker Contrast (vergl. §. 498). Massen, welche ihrer Natur nach
einförmig behandelt sein wollen, dürfen allerdings relativ wie Ein Indi-
viduum erscheinen, müssen sich aber als solches von Anderem entschieden
abheben. Was sich dagegen unterscheiden und entgegentreten soll, wird
zwar im Einzelnen unmittelbar nebeneinander stehen und nur durch Farbe
und Ausdruck seinen Contrast markiren, im Großen und Ganzen aber
liegt hier offenbar in dem flüssigen Gebiete des Malerischen ein fester
Punct vor: das Auge fordert, daß sich der Contrast in einer Gegenüber-
stellung ausdrücke, und das Gesetz der Symmetrie, das uns bei der einfach
architektonischen Anordnung sich ergab, bleibt unläugbar auch bei der ächt
malerischen in Kraft. Die Mitte lassen wir zunächst außer Betracht, man
kann sich ein relativ Gleichgültiges als das Trennende denken. Der
alterthümlich architektonischen Composition nähert sich am meisten die mehr
plastische Stylrichtung und zwar vorzüglich in großen, monumentalen
Aufgaben: hier wird man dieß einfache Gesetz überall in Kraft finden,
die Gegensätze von Mann und Weib, Jugend und Alter, Schwach und
Stark, Freund und Feind, Handeln und Leiden, Handeln und Zuschauen,
Geben und Empfangen u. s. w. werden sich naturgemäß ein einem
Gegenüber darstellen. In Raphels Bestrafung des Ananias z. B., einer
durch Klarheit und Entschiedenheit besonders lehrreichen Composition, haben
wir auf dem ersten Plane links und rechts sich gegenüber verschiedene
Formen der Aufregung bei dem Anblick des hingeschmetterten Ananias, der
übrigens nicht ganz in der Mitte liegt, sondern mehr zur linken Gruppe
gezogen ist, weiter hinten treten links die Gemeinde-Mitglieder zu einer
Tribüne, um ihre Habe darzubringen, rechts empfangen andere die Gaben:
die räumliche Disposition macht auf den ersten Blick die Motive verständ-
lich und zwar auch den speziellen Act, da in der linken Gruppe das
Weib des Ananias Geld in die Hand zählt, woraus wir den vorgefallenen
Betrug erkennen. Soviel zunächst über die Richtung nach der Breite;
wir gehen nun auch nach der Höhe, doch ohne vorerst ihre ganze Bedeu-
tung in's Auge zu fassen. Der Contrast kann sich auch oder zugleich in
dieser Richtung darstellen; z. B. bei Handeln und Leiden ist dieß ganz
natürlich: der stärkere Feind überragt etwa an Größe den schwächeren
Gegner, hat den Vortheil höheren Standorts, sitzt zu Pferde, oder sonst
ein natürliches Motiv stellt die im Contrast wirkende Kraft höher. So steht
auf der berühmten Tapete, von der wir sprechen, Petrus, neben ihm Ja-
kobus und sieben andere Apostel auf der genannten Tribüne; Petrus
spricht das Wort, das den Ananias wie ein Blitz hinschmettert, von
der Höhe. Die obere Gruppe theilt sich auch wieder, wiewohl nicht durch
Zwischenraum getrennt, in Handelnde (Jakobus unterstützt in mildem

liegt die ſcheidende Kraft im Inhalte des Kunſtwerks ſelbſt: es iſt milder
oder ſtarker Contraſt (vergl. §. 498). Maſſen, welche ihrer Natur nach
einförmig behandelt ſein wollen, dürfen allerdings relativ wie Ein Indi-
viduum erſcheinen, müſſen ſich aber als ſolches von Anderem entſchieden
abheben. Was ſich dagegen unterſcheiden und entgegentreten ſoll, wird
zwar im Einzelnen unmittelbar nebeneinander ſtehen und nur durch Farbe
und Ausdruck ſeinen Contraſt markiren, im Großen und Ganzen aber
liegt hier offenbar in dem flüſſigen Gebiete des Maleriſchen ein feſter
Punct vor: das Auge fordert, daß ſich der Contraſt in einer Gegenüber-
ſtellung ausdrücke, und das Geſetz der Symmetrie, das uns bei der einfach
architektoniſchen Anordnung ſich ergab, bleibt unläugbar auch bei der ächt
maleriſchen in Kraft. Die Mitte laſſen wir zunächſt außer Betracht, man
kann ſich ein relativ Gleichgültiges als das Trennende denken. Der
alterthümlich architektoniſchen Compoſition nähert ſich am meiſten die mehr
plaſtiſche Stylrichtung und zwar vorzüglich in großen, monumentalen
Aufgaben: hier wird man dieß einfache Geſetz überall in Kraft finden,
die Gegenſätze von Mann und Weib, Jugend und Alter, Schwach und
Stark, Freund und Feind, Handeln und Leiden, Handeln und Zuſchauen,
Geben und Empfangen u. ſ. w. werden ſich naturgemäß ein einem
Gegenüber darſtellen. In Raphels Beſtrafung des Ananias z. B., einer
durch Klarheit und Entſchiedenheit beſonders lehrreichen Compoſition, haben
wir auf dem erſten Plane links und rechts ſich gegenüber verſchiedene
Formen der Aufregung bei dem Anblick des hingeſchmetterten Ananias, der
übrigens nicht ganz in der Mitte liegt, ſondern mehr zur linken Gruppe
gezogen iſt, weiter hinten treten links die Gemeinde-Mitglieder zu einer
Tribüne, um ihre Habe darzubringen, rechts empfangen andere die Gaben:
die räumliche Diſpoſition macht auf den erſten Blick die Motive verſtänd-
lich und zwar auch den ſpeziellen Act, da in der linken Gruppe das
Weib des Ananias Geld in die Hand zählt, woraus wir den vorgefallenen
Betrug erkennen. Soviel zunächſt über die Richtung nach der Breite;
wir gehen nun auch nach der Höhe, doch ohne vorerſt ihre ganze Bedeu-
tung in’s Auge zu faſſen. Der Contraſt kann ſich auch oder zugleich in
dieſer Richtung darſtellen; z. B. bei Handeln und Leiden iſt dieß ganz
natürlich: der ſtärkere Feind überragt etwa an Größe den ſchwächeren
Gegner, hat den Vortheil höheren Standorts, ſitzt zu Pferde, oder ſonſt
ein natürliches Motiv ſtellt die im Contraſt wirkende Kraft höher. So ſteht
auf der berühmten Tapete, von der wir ſprechen, Petrus, neben ihm Ja-
kobus und ſieben andere Apoſtel auf der genannten Tribüne; Petrus
ſpricht das Wort, das den Ananias wie ein Blitz hinſchmettert, von
der Höhe. Die obere Gruppe theilt ſich auch wieder, wiewohl nicht durch
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[623/0131] liegt die ſcheidende Kraft im Inhalte des Kunſtwerks ſelbſt: es iſt milder oder ſtarker Contraſt (vergl. §. 498). Maſſen, welche ihrer Natur nach einförmig behandelt ſein wollen, dürfen allerdings relativ wie Ein Indi- viduum erſcheinen, müſſen ſich aber als ſolches von Anderem entſchieden abheben. Was ſich dagegen unterſcheiden und entgegentreten ſoll, wird zwar im Einzelnen unmittelbar nebeneinander ſtehen und nur durch Farbe und Ausdruck ſeinen Contraſt markiren, im Großen und Ganzen aber liegt hier offenbar in dem flüſſigen Gebiete des Maleriſchen ein feſter Punct vor: das Auge fordert, daß ſich der Contraſt in einer Gegenüber- ſtellung ausdrücke, und das Geſetz der Symmetrie, das uns bei der einfach architektoniſchen Anordnung ſich ergab, bleibt unläugbar auch bei der ächt maleriſchen in Kraft. Die Mitte laſſen wir zunächſt außer Betracht, man kann ſich ein relativ Gleichgültiges als das Trennende denken. Der alterthümlich architektoniſchen Compoſition nähert ſich am meiſten die mehr plaſtiſche Stylrichtung und zwar vorzüglich in großen, monumentalen Aufgaben: hier wird man dieß einfache Geſetz überall in Kraft finden, die Gegenſätze von Mann und Weib, Jugend und Alter, Schwach und Stark, Freund und Feind, Handeln und Leiden, Handeln und Zuſchauen, Geben und Empfangen u. ſ. w. werden ſich naturgemäß ein einem Gegenüber darſtellen. In Raphels Beſtrafung des Ananias z. B., einer durch Klarheit und Entſchiedenheit beſonders lehrreichen Compoſition, haben wir auf dem erſten Plane links und rechts ſich gegenüber verſchiedene Formen der Aufregung bei dem Anblick des hingeſchmetterten Ananias, der übrigens nicht ganz in der Mitte liegt, ſondern mehr zur linken Gruppe gezogen iſt, weiter hinten treten links die Gemeinde-Mitglieder zu einer Tribüne, um ihre Habe darzubringen, rechts empfangen andere die Gaben: die räumliche Diſpoſition macht auf den erſten Blick die Motive verſtänd- lich und zwar auch den ſpeziellen Act, da in der linken Gruppe das Weib des Ananias Geld in die Hand zählt, woraus wir den vorgefallenen Betrug erkennen. Soviel zunächſt über die Richtung nach der Breite; wir gehen nun auch nach der Höhe, doch ohne vorerſt ihre ganze Bedeu- tung in’s Auge zu faſſen. Der Contraſt kann ſich auch oder zugleich in dieſer Richtung darſtellen; z. B. bei Handeln und Leiden iſt dieß ganz natürlich: der ſtärkere Feind überragt etwa an Größe den ſchwächeren Gegner, hat den Vortheil höheren Standorts, ſitzt zu Pferde, oder ſonſt ein natürliches Motiv ſtellt die im Contraſt wirkende Kraft höher. So ſteht auf der berühmten Tapete, von der wir ſprechen, Petrus, neben ihm Ja- kobus und ſieben andere Apoſtel auf der genannten Tribüne; Petrus ſpricht das Wort, das den Ananias wie ein Blitz hinſchmettert, von der Höhe. Die obere Gruppe theilt ſich auch wieder, wiewohl nicht durch Zwiſchenraum getrennt, in Handelnde (Jakobus unterſtützt in mildem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 623. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/131>, abgerufen am 25.11.2024.