Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
alles Gleichgewicht auf's Tiefste verletzt, allein diese Verletzung wird da-
alles Gleichgewicht auf’s Tiefſte verletzt, allein dieſe Verletzung wird da- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0120" n="612"/> alles Gleichgewicht auf’s Tiefſte verletzt, allein dieſe Verletzung wird da-<lb/> durch aufgehoben, daß auf die andere Seite, in die von Gegenſtänden<lb/> faſt leere Wagſchaale das ganze Gewicht der Lichtwirkung fällt, wie z. B.<lb/> in der herrlichen Landſchaft Claude Lorrains in Dresden: hohe, gewaltige<lb/> Fels- und Gebirgs-Gruppe, mit einem Vulcan im Hintergrund, rechts,<lb/> links nur die Meeresfläche, aber herrliche, kühlend friſche Morgenbeleuch-<lb/> tung. Trotz dieſer Durchkreuzung des räumlichen Rhythmus durch einen<lb/> Rhythmus ganz anderer Art wird aber für die Seite, auf welcher die<lb/> Fülle der Gegenſtände ſich gruppirt, in dieſem Styl eine Wohlordnung<lb/> gefordert, ein harmoniſcher Aufbau der Linien durchgeführt, von andern<lb/> Compoſitionen nicht zu reden, wo das Ganze nach allen Seiten ſich ſo<lb/> ſchön baut, daß es ſelbſt ohne Farbe durch den Rhythmus der Formen<lb/> Auge und Sinn erfreuen müßte. Von dieſem Fall unterſcheiden wir einen<lb/> zweiten, wo die Gegenſtände überhaupt noch poſitive Geltung behaupten,<lb/> aber das äſthetiſche Intereſſe ſich aus der Schönheit der Formen heraus-<lb/> zieht und dem Ausdrucke zuwendet, wie er ſich durch individuelles Ge-<lb/> präge vertieft und ſteigert. Es wird noch darauf geſehen, wie die Maſſen<lb/> im Ganzen und Großen ſich bauen, aber nicht mehr der edle Fluß der<lb/> Linie gefordert; das Colorit thut ſich bereits als die bedeutendere Macht<lb/> hervor, die Stimmung beginnt in den Vordergrund des Intereſſes zu tre-<lb/> ten: wir befinden uns im ächt maleriſchen Style, der jedoch dem plaſti-<lb/> ſchen noch gewiſſe poſitive Zugeſtändniſſe macht. Endlich aber erhält das<lb/> rein maleriſche Element entſchieden das Uebergewicht, die äſthetiſche Gel-<lb/> tung der allgemeinen Medien in ihrer Durchdringung mit der Localfarbe<lb/> überflügelt die der Gegenſtände. In einer kleinen Landſchaft der Leuch-<lb/> tenbergiſchen Galerie von Ruysdael ſah man von Gegenſtänden faſt<lb/> nichts: eine grasbewachſene Ebene mit einem Wege, ein paar ferne Wind-<lb/> mühlen, im Hintergrunde etwas von der Stadt Harlem; es war die Luft,<lb/> der Himmel, der matte Sonnenſtrahl, der ſich zur Erde ſchleicht, der Ton,<lb/> die wunderbar anziehende Melancholie der gedrückt nebligen Stimmung,<lb/> worin der ganze Accent des Bildes lag. Wiegt nun das Colorit in die-<lb/> ſem Grade vor, ſo fragt man allerdings nach der linearen Anordnung<lb/> als ſolcher nicht mehr, ſie iſt von vornherein ganz nur in Rückſicht<lb/> auf die in den allgemeinen Medien liegende Wirkung componirt; doch<lb/> nicht ſo ganz verſchwindet ſie hinter dieſer, daß ſie und mit ihr die Be-<lb/> deutung der geſtalteten Körper gleichgültig würde, wie denn in dem an-<lb/> geführten Beiſpiel der Künſtler recht mit tiefem Sinn die Linien ſeiner<lb/> öden Fläche, des brüchigen Wegs u. ſ. w. angeordnet hat, um uns Luſt<lb/> zu erregen, hinzuziehen durch den Nebel nach der fernen Stadt und zu<lb/> ſehen, wie es ſich doch auch in der umflorten Luft des feuchten Flachlandes<lb/> behaglich leben läßt. Aus dem Allem folgt, daß lineare und coloriſtiſche<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [612/0120]
alles Gleichgewicht auf’s Tiefſte verletzt, allein dieſe Verletzung wird da-
durch aufgehoben, daß auf die andere Seite, in die von Gegenſtänden
faſt leere Wagſchaale das ganze Gewicht der Lichtwirkung fällt, wie z. B.
in der herrlichen Landſchaft Claude Lorrains in Dresden: hohe, gewaltige
Fels- und Gebirgs-Gruppe, mit einem Vulcan im Hintergrund, rechts,
links nur die Meeresfläche, aber herrliche, kühlend friſche Morgenbeleuch-
tung. Trotz dieſer Durchkreuzung des räumlichen Rhythmus durch einen
Rhythmus ganz anderer Art wird aber für die Seite, auf welcher die
Fülle der Gegenſtände ſich gruppirt, in dieſem Styl eine Wohlordnung
gefordert, ein harmoniſcher Aufbau der Linien durchgeführt, von andern
Compoſitionen nicht zu reden, wo das Ganze nach allen Seiten ſich ſo
ſchön baut, daß es ſelbſt ohne Farbe durch den Rhythmus der Formen
Auge und Sinn erfreuen müßte. Von dieſem Fall unterſcheiden wir einen
zweiten, wo die Gegenſtände überhaupt noch poſitive Geltung behaupten,
aber das äſthetiſche Intereſſe ſich aus der Schönheit der Formen heraus-
zieht und dem Ausdrucke zuwendet, wie er ſich durch individuelles Ge-
präge vertieft und ſteigert. Es wird noch darauf geſehen, wie die Maſſen
im Ganzen und Großen ſich bauen, aber nicht mehr der edle Fluß der
Linie gefordert; das Colorit thut ſich bereits als die bedeutendere Macht
hervor, die Stimmung beginnt in den Vordergrund des Intereſſes zu tre-
ten: wir befinden uns im ächt maleriſchen Style, der jedoch dem plaſti-
ſchen noch gewiſſe poſitive Zugeſtändniſſe macht. Endlich aber erhält das
rein maleriſche Element entſchieden das Uebergewicht, die äſthetiſche Gel-
tung der allgemeinen Medien in ihrer Durchdringung mit der Localfarbe
überflügelt die der Gegenſtände. In einer kleinen Landſchaft der Leuch-
tenbergiſchen Galerie von Ruysdael ſah man von Gegenſtänden faſt
nichts: eine grasbewachſene Ebene mit einem Wege, ein paar ferne Wind-
mühlen, im Hintergrunde etwas von der Stadt Harlem; es war die Luft,
der Himmel, der matte Sonnenſtrahl, der ſich zur Erde ſchleicht, der Ton,
die wunderbar anziehende Melancholie der gedrückt nebligen Stimmung,
worin der ganze Accent des Bildes lag. Wiegt nun das Colorit in die-
ſem Grade vor, ſo fragt man allerdings nach der linearen Anordnung
als ſolcher nicht mehr, ſie iſt von vornherein ganz nur in Rückſicht
auf die in den allgemeinen Medien liegende Wirkung componirt; doch
nicht ſo ganz verſchwindet ſie hinter dieſer, daß ſie und mit ihr die Be-
deutung der geſtalteten Körper gleichgültig würde, wie denn in dem an-
geführten Beiſpiel der Künſtler recht mit tiefem Sinn die Linien ſeiner
öden Fläche, des brüchigen Wegs u. ſ. w. angeordnet hat, um uns Luſt
zu erregen, hinzuziehen durch den Nebel nach der fernen Stadt und zu
ſehen, wie es ſich doch auch in der umflorten Luft des feuchten Flachlandes
behaglich leben läßt. Aus dem Allem folgt, daß lineare und coloriſtiſche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |