plastische ist, geht aus ihrer kurzen Charakteristik zu §. 348, 3. hervor, wozu vergl. die erschöpfende Erörterung in Hegels Aesth. Th. II, S. 405 -- 416. Wo dieses Gewand, der wenig genähte Chiton und das ungenäht frei übergeworfene Himation und Chlamys, auf den Gliedern aufliegt, zeigt es deren Schwellung einfach auf, wo es in Falten sich aufwirft, abfällt, sind diese eben durch die Art, wie der andere Theil am Körper aufliegt, durchgängig bestimmt und setzen also diese Ausprägung in bewegter, vervielfältigter, so zu sagen colorirter Weise fort. Bei wirklicher Bewegung verstärkt sich dieß Verhältniß, der Affect fährt gleichsam auch in das Gewand wie eine Art selbständiger Geist, indem die Bewegung in diesem noch nachdauert, auch wenn der Handelnde augenblicklich mit der Bewegung inne hält: das Kleid des Tanzenden setzt, wenn dieser sich augenblicklich ruhiger auf den Zehen wiegt, das Sausen der vorher- gehenden stärkeren Drehungen und Sprünge, das des Kämpfenden die ge- waltsamen Bewegungen fort; man sehe z. B. jenen Satyr auf dem choragischen Denkmal des Lysikrates, der eben einen Baumast abreißt: seine Nebris saust noch im Winde von der Wuth, mit welcher er herangestürzt ist. Es ist die Luft, mit welcher hier das Gewand in Spiel tretend gewisser- maßen selbständig wird, doch nur um das ursprünglich organische Motiv zu erweitern, zu verdoppeln. Das Gewand bleibt jedoch an sich todter Stoff und dadurch ergibt sich das weitere Motiv einer schönen Contrast- wirkung, indem das an sich todte und nur mittelbar beseelte Anhängsel mit dem es belebenden Leibe in ästhetischem Gegensatze zusammenwirkt, und die mancherlei Abbreviaturen (vergl. §. 612), wo eine Chlamys, Nebris, herabgefallenes Himation die Gewandung nur andeutet, wollen zugleich künstlerisch das Nackte durch diese Contrastwirkung heben; man betrachte z. B. den herrlichen Lapithen auf einer der Parthenon-Metopen, der den Centauren am Haare gepackt hat und weit gespreizt, auf die linke Ferse gestemmt ihn rückwärts reißt, um ihm den Kopf zu spalten: das Himation liegt noch leicht auf der rechten Schulter und dem linken Arm und bildet übrigens, hinten herabgesunken, weit ausgebreitet eine große Draperie, auf der sich wie auf malerischem Hintergrunde die gewaltige Kämpfergestalt prachtvoll abhebt. Ein volles, umgenommenes Gewand setzt dagegen reich, stattlich, ehrwürdig den ganzen herrlichen Gliederbau wie durch unzählige Geister, die sein Geheimniß aus allen Falten und Furchen verkündigen, in Musik. In zarterer, fast überverfeinerter Weise geschieht dieß bei den sog. nassen Gewändern, wo nur ganz feine flor- artige Falten zeigen, daß der Körper mit einem höchst dünnen, durchsich- tigen, wie durch Nässe anklebenden Stoffe bekleidet ist; hier steht man so scharf an der Grenze, wo das farbige Durchscheinen einzutreten hätte, daß das Auge unwillkührlich die Farbe ergänzt und das Hinübergreifen
plaſtiſche iſt, geht aus ihrer kurzen Charakteriſtik zu §. 348, 3. hervor, wozu vergl. die erſchöpfende Erörterung in Hegels Aeſth. Th. II, S. 405 — 416. Wo dieſes Gewand, der wenig genähte Chiton und das ungenäht frei übergeworfene Himation und Chlamys, auf den Gliedern aufliegt, zeigt es deren Schwellung einfach auf, wo es in Falten ſich aufwirft, abfällt, ſind dieſe eben durch die Art, wie der andere Theil am Körper aufliegt, durchgängig beſtimmt und ſetzen alſo dieſe Ausprägung in bewegter, vervielfältigter, ſo zu ſagen colorirter Weiſe fort. Bei wirklicher Bewegung verſtärkt ſich dieß Verhältniß, der Affect fährt gleichſam auch in das Gewand wie eine Art ſelbſtändiger Geiſt, indem die Bewegung in dieſem noch nachdauert, auch wenn der Handelnde augenblicklich mit der Bewegung inne hält: das Kleid des Tanzenden ſetzt, wenn dieſer ſich augenblicklich ruhiger auf den Zehen wiegt, das Sauſen der vorher- gehenden ſtärkeren Drehungen und Sprünge, das des Kämpfenden die ge- waltſamen Bewegungen fort; man ſehe z. B. jenen Satyr auf dem choragiſchen Denkmal des Lyſikrates, der eben einen Baumaſt abreißt: ſeine Nebris ſaust noch im Winde von der Wuth, mit welcher er herangeſtürzt iſt. Es iſt die Luft, mit welcher hier das Gewand in Spiel tretend gewiſſer- maßen ſelbſtändig wird, doch nur um das urſprünglich organiſche Motiv zu erweitern, zu verdoppeln. Das Gewand bleibt jedoch an ſich todter Stoff und dadurch ergibt ſich das weitere Motiv einer ſchönen Contraſt- wirkung, indem das an ſich todte und nur mittelbar beſeelte Anhängſel mit dem es belebenden Leibe in äſthetiſchem Gegenſatze zuſammenwirkt, und die mancherlei Abbreviaturen (vergl. §. 612), wo eine Chlamys, Nebris, herabgefallenes Himation die Gewandung nur andeutet, wollen zugleich künſtleriſch das Nackte durch dieſe Contraſtwirkung heben; man betrachte z. B. den herrlichen Lapithen auf einer der Parthenon-Metopen, der den Centauren am Haare gepackt hat und weit geſpreizt, auf die linke Ferſe geſtemmt ihn rückwärts reißt, um ihm den Kopf zu ſpalten: das Himation liegt noch leicht auf der rechten Schulter und dem linken Arm und bildet übrigens, hinten herabgeſunken, weit ausgebreitet eine große Draperie, auf der ſich wie auf maleriſchem Hintergrunde die gewaltige Kämpfergeſtalt prachtvoll abhebt. Ein volles, umgenommenes Gewand ſetzt dagegen reich, ſtattlich, ehrwürdig den ganzen herrlichen Gliederbau wie durch unzählige Geiſter, die ſein Geheimniß aus allen Falten und Furchen verkündigen, in Muſik. In zarterer, faſt überverfeinerter Weiſe geſchieht dieß bei den ſog. naſſen Gewändern, wo nur ganz feine flor- artige Falten zeigen, daß der Körper mit einem höchſt dünnen, durchſich- tigen, wie durch Näſſe anklebenden Stoffe bekleidet iſt; hier ſteht man ſo ſcharf an der Grenze, wo das farbige Durchſcheinen einzutreten hätte, daß das Auge unwillkührlich die Farbe ergänzt und das Hinübergreifen
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[422/0096]
plaſtiſche iſt, geht aus ihrer kurzen Charakteriſtik zu §. 348, 3. hervor,
wozu vergl. die erſchöpfende Erörterung in Hegels Aeſth. Th. II, S.
405 — 416. Wo dieſes Gewand, der wenig genähte Chiton und das
ungenäht frei übergeworfene Himation und Chlamys, auf den Gliedern
aufliegt, zeigt es deren Schwellung einfach auf, wo es in Falten ſich
aufwirft, abfällt, ſind dieſe eben durch die Art, wie der andere Theil am
Körper aufliegt, durchgängig beſtimmt und ſetzen alſo dieſe Ausprägung in
bewegter, vervielfältigter, ſo zu ſagen colorirter Weiſe fort. Bei wirklicher
Bewegung verſtärkt ſich dieß Verhältniß, der Affect fährt gleichſam auch
in das Gewand wie eine Art ſelbſtändiger Geiſt, indem die Bewegung
in dieſem noch nachdauert, auch wenn der Handelnde augenblicklich mit
der Bewegung inne hält: das Kleid des Tanzenden ſetzt, wenn dieſer
ſich augenblicklich ruhiger auf den Zehen wiegt, das Sauſen der vorher-
gehenden ſtärkeren Drehungen und Sprünge, das des Kämpfenden die ge-
waltſamen Bewegungen fort; man ſehe z. B. jenen Satyr auf dem choragiſchen
Denkmal des Lyſikrates, der eben einen Baumaſt abreißt: ſeine Nebris
ſaust noch im Winde von der Wuth, mit welcher er herangeſtürzt iſt.
Es iſt die Luft, mit welcher hier das Gewand in Spiel tretend gewiſſer-
maßen ſelbſtändig wird, doch nur um das urſprünglich organiſche Motiv
zu erweitern, zu verdoppeln. Das Gewand bleibt jedoch an ſich todter
Stoff und dadurch ergibt ſich das weitere Motiv einer ſchönen Contraſt-
wirkung, indem das an ſich todte und nur mittelbar beſeelte Anhängſel
mit dem es belebenden Leibe in äſthetiſchem Gegenſatze zuſammenwirkt,
und die mancherlei Abbreviaturen (vergl. §. 612), wo eine Chlamys,
Nebris, herabgefallenes Himation die Gewandung nur andeutet, wollen
zugleich künſtleriſch das Nackte durch dieſe Contraſtwirkung heben; man
betrachte z. B. den herrlichen Lapithen auf einer der Parthenon-Metopen,
der den Centauren am Haare gepackt hat und weit geſpreizt, auf die linke
Ferſe geſtemmt ihn rückwärts reißt, um ihm den Kopf zu ſpalten: das
Himation liegt noch leicht auf der rechten Schulter und dem linken Arm
und bildet übrigens, hinten herabgeſunken, weit ausgebreitet eine große
Draperie, auf der ſich wie auf maleriſchem Hintergrunde die gewaltige
Kämpfergeſtalt prachtvoll abhebt. Ein volles, umgenommenes Gewand
ſetzt dagegen reich, ſtattlich, ehrwürdig den ganzen herrlichen Gliederbau
wie durch unzählige Geiſter, die ſein Geheimniß aus allen Falten und
Furchen verkündigen, in Muſik. In zarterer, faſt überverfeinerter Weiſe
geſchieht dieß bei den ſog. naſſen Gewändern, wo nur ganz feine flor-
artige Falten zeigen, daß der Körper mit einem höchſt dünnen, durchſich-
tigen, wie durch Näſſe anklebenden Stoffe bekleidet iſt; hier ſteht man
ſo ſcharf an der Grenze, wo das farbige Durchſcheinen einzutreten hätte,
daß das Auge unwillkührlich die Farbe ergänzt und das Hinübergreifen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/96>, abgerufen am 30.07.2024.
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