Styl frischweg auch gefallen, doch muß auch er sie strenger ordnen und sammeln, als der Maler. -- Mit dem Felle des Thiers ist dieselbe Be- handlung vorzunehmen; besonders schön sind die Borsten am florenti- nischen Eber gruppirt.
§. 620.
Die bildnerische Darstellung der Schönheit der menschlichen Gestalt ist nicht an die Nachtheit gebunden, wohl aber fordert sie ein Gewand, das in Ruhe und Bewegung die Form der Glieder aufzeigt, indem es in seinem Wurfe durchgängig von ihr bestimmt erscheint. Für die Behandlung desselben gilt dasselbe Slylgesetz gleichzeitig völliger Massenbildung und kräftiger Son- derung, wie für den Körper selbst. Bei individuell bestimmten Aufgaben sind auch weniger günstige Trachten, sofern sie nur Charakter haben und kein falsches Bild von den Körperformen geben, plastisch berechtigt.
1. Nacktheit oder Bekleidung ist ebensosehr eine ethische Stoff-Frage, als eine reine Kunstfrage. Die Griechen haben bekanntlich nicht frühe und nicht ohne Motiv völlige Entkleidung bei ihren Bildwerken gewagt. Namentlich bei weiblichen; denn der Mann ist wesentlich handelnd und Handeln war dem Griechen nie ein abstract geistiges, sondern ebensosehr ein sinnliches, von der Gymnastik ausgehendes, bei welcher das Gewand belästigt, und so führte die nackte Darstellung athletischer Figuren nach und nach zur völligen Entblößung der männlichen Göttergestalten und Heroen. Bei der Liebesgöttinn war die Nacktheit ursprünglich durch das Bad motivirt, das selbst wieder kosmogonische Bedeutung zur Grundlage hatte; Kindesnaivetät und weibliche Anmuth ohne höhere ethische Bezie- hung erscheint mit Recht in reiner Naturform; aber Aphrodite selbst, wo sie hohe, bindende Lebensmacht ist, bleibt nicht ganz unbekleidet, wie die Statue von Melos zeigt. Das Gewand könnte zunächst als eines der zufälligen Anhängsel erscheinen, die der Bildner vom Wesentlichen, Ewigen, Naturbleibenden wegzunehmen hat; allein Bildung ist auch Natur, eine zweite Natur, und ihre Formen sind auch wesentlich. Kleidung ist Scham des Geistes an den Theilen seines Leibs, in denen sich sein Ausdruck nicht concentrirt, Kleidung charakterisirt, spricht Inneres, Weise des Thuns, Inhalt, Würde aus. Aber nicht nur dieß; auch abgesehen vom Ethischen ist Kleidung, freilich nicht jede, nicht Hinderniß, daß der Körper erscheine, sondern fortgesetzte, wie in einem Nachhall erweiterte Körperform. Sie zeigt als "Echo der Gestalt" deren Bildung und Be- wegung auf. Diese Bedeutung kommt nun freilich keiner andern Tracht so zu, wie der griechischen (und römischen); warum sie die absolut
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Styl friſchweg auch gefallen, doch muß auch er ſie ſtrenger ordnen und ſammeln, als der Maler. — Mit dem Felle des Thiers iſt dieſelbe Be- handlung vorzunehmen; beſonders ſchön ſind die Borſten am florenti- niſchen Eber gruppirt.
§. 620.
Die bildneriſche Darſtellung der Schönheit der menſchlichen Geſtalt iſt nicht an die Nachtheit gebunden, wohl aber fordert ſie ein Gewand, das in Ruhe und Bewegung die Form der Glieder aufzeigt, indem es in ſeinem Wurfe durchgängig von ihr beſtimmt erſcheint. Für die Behandlung deſſelben gilt daſſelbe Slylgeſetz gleichzeitig völliger Maſſenbildung und kräftiger Son- derung, wie für den Körper ſelbſt. Bei individuell beſtimmten Aufgaben ſind auch weniger günſtige Trachten, ſofern ſie nur Charakter haben und kein falſches Bild von den Körperformen geben, plaſtiſch berechtigt.
1. Nacktheit oder Bekleidung iſt ebenſoſehr eine ethiſche Stoff-Frage, als eine reine Kunſtfrage. Die Griechen haben bekanntlich nicht frühe und nicht ohne Motiv völlige Entkleidung bei ihren Bildwerken gewagt. Namentlich bei weiblichen; denn der Mann iſt weſentlich handelnd und Handeln war dem Griechen nie ein abſtract geiſtiges, ſondern ebenſoſehr ein ſinnliches, von der Gymnaſtik ausgehendes, bei welcher das Gewand beläſtigt, und ſo führte die nackte Darſtellung athletiſcher Figuren nach und nach zur völligen Entblößung der männlichen Göttergeſtalten und Heroen. Bei der Liebesgöttinn war die Nacktheit urſprünglich durch das Bad motivirt, das ſelbſt wieder koſmogoniſche Bedeutung zur Grundlage hatte; Kindesnaivetät und weibliche Anmuth ohne höhere ethiſche Bezie- hung erſcheint mit Recht in reiner Naturform; aber Aphrodite ſelbſt, wo ſie hohe, bindende Lebensmacht iſt, bleibt nicht ganz unbekleidet, wie die Statue von Melos zeigt. Das Gewand könnte zunächſt als eines der zufälligen Anhängſel erſcheinen, die der Bildner vom Weſentlichen, Ewigen, Naturbleibenden wegzunehmen hat; allein Bildung iſt auch Natur, eine zweite Natur, und ihre Formen ſind auch weſentlich. Kleidung iſt Scham des Geiſtes an den Theilen ſeines Leibs, in denen ſich ſein Ausdruck nicht concentrirt, Kleidung charakteriſirt, ſpricht Inneres, Weiſe des Thuns, Inhalt, Würde aus. Aber nicht nur dieß; auch abgeſehen vom Ethiſchen iſt Kleidung, freilich nicht jede, nicht Hinderniß, daß der Körper erſcheine, ſondern fortgeſetzte, wie in einem Nachhall erweiterte Körperform. Sie zeigt als „Echo der Geſtalt“ deren Bildung und Be- wegung auf. Dieſe Bedeutung kommt nun freilich keiner andern Tracht ſo zu, wie der griechiſchen (und römiſchen); warum ſie die abſolut
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Styl friſchweg auch gefallen, doch muß auch er ſie ſtrenger ordnen und
ſammeln, als der Maler. — Mit dem Felle des Thiers iſt dieſelbe Be-
handlung vorzunehmen; beſonders ſchön ſind die Borſten am florenti-
niſchen Eber gruppirt.
§. 620.
Die bildneriſche Darſtellung der Schönheit der menſchlichen Geſtalt iſt
nicht an die Nachtheit gebunden, wohl aber fordert ſie ein Gewand, das
in Ruhe und Bewegung die Form der Glieder aufzeigt, indem es in ſeinem
Wurfe durchgängig von ihr beſtimmt erſcheint. Für die Behandlung deſſelben
gilt daſſelbe Slylgeſetz gleichzeitig völliger Maſſenbildung und kräftiger Son-
derung, wie für den Körper ſelbſt. Bei individuell beſtimmten Aufgaben ſind
auch weniger günſtige Trachten, ſofern ſie nur Charakter haben und kein falſches
Bild von den Körperformen geben, plaſtiſch berechtigt.
1. Nacktheit oder Bekleidung iſt ebenſoſehr eine ethiſche Stoff-Frage,
als eine reine Kunſtfrage. Die Griechen haben bekanntlich nicht frühe
und nicht ohne Motiv völlige Entkleidung bei ihren Bildwerken gewagt.
Namentlich bei weiblichen; denn der Mann iſt weſentlich handelnd und
Handeln war dem Griechen nie ein abſtract geiſtiges, ſondern ebenſoſehr
ein ſinnliches, von der Gymnaſtik ausgehendes, bei welcher das Gewand
beläſtigt, und ſo führte die nackte Darſtellung athletiſcher Figuren nach
und nach zur völligen Entblößung der männlichen Göttergeſtalten und
Heroen. Bei der Liebesgöttinn war die Nacktheit urſprünglich durch das
Bad motivirt, das ſelbſt wieder koſmogoniſche Bedeutung zur Grundlage
hatte; Kindesnaivetät und weibliche Anmuth ohne höhere ethiſche Bezie-
hung erſcheint mit Recht in reiner Naturform; aber Aphrodite ſelbſt, wo
ſie hohe, bindende Lebensmacht iſt, bleibt nicht ganz unbekleidet, wie die
Statue von Melos zeigt. Das Gewand könnte zunächſt als eines der
zufälligen Anhängſel erſcheinen, die der Bildner vom Weſentlichen, Ewigen,
Naturbleibenden wegzunehmen hat; allein Bildung iſt auch Natur, eine
zweite Natur, und ihre Formen ſind auch weſentlich. Kleidung iſt Scham
des Geiſtes an den Theilen ſeines Leibs, in denen ſich ſein Ausdruck
nicht concentrirt, Kleidung charakteriſirt, ſpricht Inneres, Weiſe des
Thuns, Inhalt, Würde aus. Aber nicht nur dieß; auch abgeſehen vom
Ethiſchen iſt Kleidung, freilich nicht jede, nicht Hinderniß, daß der
Körper erſcheine, ſondern fortgeſetzte, wie in einem Nachhall erweiterte
Körperform. Sie zeigt als „Echo der Geſtalt“ deren Bildung und Be-
wegung auf. Dieſe Bedeutung kommt nun freilich keiner andern Tracht
ſo zu, wie der griechiſchen (und römiſchen); warum ſie die abſolut
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/95>, abgerufen am 22.02.2025.
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