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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Styl friſchweg auch gefallen, doch muß auch er ſie ſtrenger ordnen und
ſammeln, als der Maler. — Mit dem Felle des Thiers iſt dieſelbe Be-
handlung vorzunehmen; beſonders ſchön ſind die Borſten am florenti-
niſchen Eber gruppirt.

§. 620.

Die bildneriſche Darſtellung der Schönheit der menſchlichen Geſtalt iſt
nicht an die Nachtheit gebunden, wohl aber fordert ſie ein Gewand, das
in Ruhe und Bewegung die Form der Glieder aufzeigt, indem es in ſeinem
Wurfe durchgängig von ihr beſtimmt erſcheint. Für die Behandlung deſſelben
gilt daſſelbe Slylgeſetz gleichzeitig völliger Maſſenbildung und kräftiger Son-
derung, wie für den Körper ſelbſt. Bei individuell beſtimmten Aufgaben ſind
auch weniger günſtige Trachten, ſofern ſie nur Charakter haben und kein falſches
Bild von den Körperformen geben, plaſtiſch berechtigt.

1. Nacktheit oder Bekleidung iſt ebenſoſehr eine ethiſche Stoff-Frage,
als eine reine Kunſtfrage. Die Griechen haben bekanntlich nicht frühe
und nicht ohne Motiv völlige Entkleidung bei ihren Bildwerken gewagt.
Namentlich bei weiblichen; denn der Mann iſt weſentlich handelnd und
Handeln war dem Griechen nie ein abſtract geiſtiges, ſondern ebenſoſehr
ein ſinnliches, von der Gymnaſtik ausgehendes, bei welcher das Gewand
beläſtigt, und ſo führte die nackte Darſtellung athletiſcher Figuren nach
und nach zur völligen Entblößung der männlichen Göttergeſtalten und
Heroen. Bei der Liebesgöttinn war die Nacktheit urſprünglich durch das
Bad motivirt, das ſelbſt wieder koſmogoniſche Bedeutung zur Grundlage
hatte; Kindesnaivetät und weibliche Anmuth ohne höhere ethiſche Bezie-
hung erſcheint mit Recht in reiner Naturform; aber Aphrodite ſelbſt, wo
ſie hohe, bindende Lebensmacht iſt, bleibt nicht ganz unbekleidet, wie die
Statue von Melos zeigt. Das Gewand könnte zunächſt als eines der
zufälligen Anhängſel erſcheinen, die der Bildner vom Weſentlichen, Ewigen,
Naturbleibenden wegzunehmen hat; allein Bildung iſt auch Natur, eine
zweite Natur, und ihre Formen ſind auch weſentlich. Kleidung iſt Scham
des Geiſtes an den Theilen ſeines Leibs, in denen ſich ſein Ausdruck
nicht concentrirt, Kleidung charakteriſirt, ſpricht Inneres, Weiſe des
Thuns, Inhalt, Würde aus. Aber nicht nur dieß; auch abgeſehen vom
Ethiſchen iſt Kleidung, freilich nicht jede, nicht Hinderniß, daß der
Körper erſcheine, ſondern fortgeſetzte, wie in einem Nachhall erweiterte
Körperform. Sie zeigt als „Echo der Geſtalt“ deren Bildung und Be-
wegung auf. Dieſe Bedeutung kommt nun freilich keiner andern Tracht
ſo zu, wie der griechiſchen (und römiſchen); warum ſie die abſolut

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/95>, abgerufen am 22.02.2025.