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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Härte als fester Träger sichtbar sein. Bestimmte Angabe der Hauptabsätze des
Organismus, der bedeutendsten Muskel soll sich mit Rundung und Zartheit der
Uebergänge so verbinden, daß die Andeutung oder schärfere Ausbildung der
den Schwung der Hauptlinien zertheilenden, an die Bedingungen des unmittel-
baren Lebens erinnernden untergeordneten Einzeltheile besonderem Stoff, Moment,
Material aufbehalten, immer aber in verhältnißmäßig enge Grenzen gewiesen
bleibt.

Wir schreiten fort in immer concreterer Fassung der menschlichen Ge-
stalt unter dem Gesichtspuncte des plastischen Styls. Man blicke
nun zurück auf unsere Schilderung derselben §. 317 und stelle sich
dann die Frage, was der Bildner in Anwendung des in §. 614, 2.
näher bestimmten Grundgesetzes umbildend damit vorzunehmen habe. Das
Knochengerüste soll weniger angegeben, als durchgefühlt werden. Es tritt
an mehreren Stellen, Ellbogen, Schulter, Knie, Schienbein, Knöcheln
u. s. w. ohne Muskel-Umkleidung mit bestimmten Marken zu Tage: diese
Formen sollen nicht platt, spitz, knorplig erscheinen, sondern sanft abge-
rundet werden; Dürres, Beinernes ist mit der Kunst der Schönheit der
breitgeschwungenen Umrisse rein unverträglich; aber diese festen Marken
sollen auch nicht zu sehr abgerundet, in süßliche Weichheit verschwemmt
werden, wie dieß in der indischen Sculptur der Fall ist. Brustbeine und
Rippen sind leicht anzudeuten, starke Anstrengung, Anziehung des Unter-
leibs in Angst preßt sie natürlich sichtbarer hervor, wie am Laokoon und
borghesischen Fechter; der erstere grenzt scharf an das allzugelehrt Anato-
mische. Der Zauber der vollen Schönheit liegt nun aber erst in dem
lebensvollen Strome der unendlich ineinander übergehenden Wellen, welche
die das Knochengerüste überkleidenden Weichtheile auf der Oberfläche bil-
den. In dieses rinnende Wechselspiel der Linien muß der Bildner mit
kräftiger Faust theilend eingreifen, indem er die Hauptsysteme schärfer, als
die Natur, voneinander absetzt. Wir lassen das Haupt noch bei Seite,
das schon die schlanke Einziehung des Halses vom Rumpfe trennt. Das
Gefäß des Athmungssystems, die Brust, ist es hauptsächlich, welche sich
als die am meisten der Fläche genäherte Partie an der Vorderseite des
Körpers darstellt. Der Bildner wird diesen energischen Gegensatz gegen
das Runde, hügelig Getheilte durch mächtige Hervorhebung des kraftvoll
flach gewölbten Doppelblattes verstärken und durch schärferen Umriß den
weich gerundeten Unterleib von ihm sondern. Dieser ist durch scharfe
Angabe der Leisten-Linie von den Bewegungs-Organen bestimmt abzu-
heben und damit er nicht in das ungetheilt Formlose zerfließe, werden
die drei Felder, in die er vom Ende des Brustbeins abwärts zerfällt, von
den Weichen-Feldern seitlich eingegrenzt, in deutlichen Einschnitten sich

Härte als feſter Träger ſichtbar ſein. Beſtimmte Angabe der Hauptabſätze des
Organiſmus, der bedeutendſten Muſkel ſoll ſich mit Rundung und Zartheit der
Uebergänge ſo verbinden, daß die Andeutung oder ſchärfere Ausbildung der
den Schwung der Hauptlinien zertheilenden, an die Bedingungen des unmittel-
baren Lebens erinnernden untergeordneten Einzeltheile beſonderem Stoff, Moment,
Material aufbehalten, immer aber in verhältnißmäßig enge Grenzen gewieſen
bleibt.

Wir ſchreiten fort in immer concreterer Faſſung der menſchlichen Ge-
ſtalt unter dem Geſichtspuncte des plaſtiſchen Styls. Man blicke
nun zurück auf unſere Schilderung derſelben §. 317 und ſtelle ſich
dann die Frage, was der Bildner in Anwendung des in §. 614, 2.
näher beſtimmten Grundgeſetzes umbildend damit vorzunehmen habe. Das
Knochengerüſte ſoll weniger angegeben, als durchgefühlt werden. Es tritt
an mehreren Stellen, Ellbogen, Schulter, Knie, Schienbein, Knöcheln
u. ſ. w. ohne Muſkel-Umkleidung mit beſtimmten Marken zu Tage: dieſe
Formen ſollen nicht platt, ſpitz, knorplig erſcheinen, ſondern ſanft abge-
rundet werden; Dürres, Beinernes iſt mit der Kunſt der Schönheit der
breitgeſchwungenen Umriſſe rein unverträglich; aber dieſe feſten Marken
ſollen auch nicht zu ſehr abgerundet, in ſüßliche Weichheit verſchwemmt
werden, wie dieß in der indiſchen Sculptur der Fall iſt. Bruſtbeine und
Rippen ſind leicht anzudeuten, ſtarke Anſtrengung, Anziehung des Unter-
leibs in Angſt preßt ſie natürlich ſichtbarer hervor, wie am Laokoon und
borgheſiſchen Fechter; der erſtere grenzt ſcharf an das allzugelehrt Anato-
miſche. Der Zauber der vollen Schönheit liegt nun aber erſt in dem
lebensvollen Strome der unendlich ineinander übergehenden Wellen, welche
die das Knochengerüſte überkleidenden Weichtheile auf der Oberfläche bil-
den. In dieſes rinnende Wechſelſpiel der Linien muß der Bildner mit
kräftiger Fauſt theilend eingreifen, indem er die Hauptſyſteme ſchärfer, als
die Natur, voneinander abſetzt. Wir laſſen das Haupt noch bei Seite,
das ſchon die ſchlanke Einziehung des Halſes vom Rumpfe trennt. Das
Gefäß des Athmungsſyſtems, die Bruſt, iſt es hauptſächlich, welche ſich
als die am meiſten der Fläche genäherte Partie an der Vorderſeite des
Körpers darſtellt. Der Bildner wird dieſen energiſchen Gegenſatz gegen
das Runde, hügelig Getheilte durch mächtige Hervorhebung des kraftvoll
flach gewölbten Doppelblattes verſtärken und durch ſchärferen Umriß den
weich gerundeten Unterleib von ihm ſondern. Dieſer iſt durch ſcharfe
Angabe der Leiſten-Linie von den Bewegungs-Organen beſtimmt abzu-
heben und damit er nicht in das ungetheilt Formloſe zerfließe, werden
die drei Felder, in die er vom Ende des Bruſtbeins abwärts zerfällt, von
den Weichen-Feldern ſeitlich eingegrenzt, in deutlichen Einſchnitten ſich

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[416/0090] Härte als feſter Träger ſichtbar ſein. Beſtimmte Angabe der Hauptabſätze des Organiſmus, der bedeutendſten Muſkel ſoll ſich mit Rundung und Zartheit der Uebergänge ſo verbinden, daß die Andeutung oder ſchärfere Ausbildung der den Schwung der Hauptlinien zertheilenden, an die Bedingungen des unmittel- baren Lebens erinnernden untergeordneten Einzeltheile beſonderem Stoff, Moment, Material aufbehalten, immer aber in verhältnißmäßig enge Grenzen gewieſen bleibt. Wir ſchreiten fort in immer concreterer Faſſung der menſchlichen Ge- ſtalt unter dem Geſichtspuncte des plaſtiſchen Styls. Man blicke nun zurück auf unſere Schilderung derſelben §. 317 und ſtelle ſich dann die Frage, was der Bildner in Anwendung des in §. 614, 2. näher beſtimmten Grundgeſetzes umbildend damit vorzunehmen habe. Das Knochengerüſte ſoll weniger angegeben, als durchgefühlt werden. Es tritt an mehreren Stellen, Ellbogen, Schulter, Knie, Schienbein, Knöcheln u. ſ. w. ohne Muſkel-Umkleidung mit beſtimmten Marken zu Tage: dieſe Formen ſollen nicht platt, ſpitz, knorplig erſcheinen, ſondern ſanft abge- rundet werden; Dürres, Beinernes iſt mit der Kunſt der Schönheit der breitgeſchwungenen Umriſſe rein unverträglich; aber dieſe feſten Marken ſollen auch nicht zu ſehr abgerundet, in ſüßliche Weichheit verſchwemmt werden, wie dieß in der indiſchen Sculptur der Fall iſt. Bruſtbeine und Rippen ſind leicht anzudeuten, ſtarke Anſtrengung, Anziehung des Unter- leibs in Angſt preßt ſie natürlich ſichtbarer hervor, wie am Laokoon und borgheſiſchen Fechter; der erſtere grenzt ſcharf an das allzugelehrt Anato- miſche. Der Zauber der vollen Schönheit liegt nun aber erſt in dem lebensvollen Strome der unendlich ineinander übergehenden Wellen, welche die das Knochengerüſte überkleidenden Weichtheile auf der Oberfläche bil- den. In dieſes rinnende Wechſelſpiel der Linien muß der Bildner mit kräftiger Fauſt theilend eingreifen, indem er die Hauptſyſteme ſchärfer, als die Natur, voneinander abſetzt. Wir laſſen das Haupt noch bei Seite, das ſchon die ſchlanke Einziehung des Halſes vom Rumpfe trennt. Das Gefäß des Athmungsſyſtems, die Bruſt, iſt es hauptſächlich, welche ſich als die am meiſten der Fläche genäherte Partie an der Vorderſeite des Körpers darſtellt. Der Bildner wird dieſen energiſchen Gegenſatz gegen das Runde, hügelig Getheilte durch mächtige Hervorhebung des kraftvoll flach gewölbten Doppelblattes verſtärken und durch ſchärferen Umriß den weich gerundeten Unterleib von ihm ſondern. Dieſer iſt durch ſcharfe Angabe der Leiſten-Linie von den Bewegungs-Organen beſtimmt abzu- heben und damit er nicht in das ungetheilt Formloſe zerfließe, werden die drei Felder, in die er vom Ende des Bruſtbeins abwärts zerfällt, von den Weichen-Feldern ſeitlich eingegrenzt, in deutlichen Einſchnitten ſich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/90>, abgerufen am 23.12.2024.