Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

eckelt oder grauet." Aber ist denn nicht der Laokoon auch in einem Mo-
mente dargestellt, muß sich die Gruppe nicht im nächsten Momente verän-
dern? oder Apollo von Belvedere nicht in der nächsten Secunde den Arm
sinken lassen, die Diana von Verfailles den Pfeil auflegen und abschießen,
Castor und Pollux mit ihren Rossen eine andere Bewegung machen, der
Diskobol abschleudern, der Wettläufer Ladas, von dem die Anthologie
fürchtet, er möchte der Basis entspringen, den Kranz ergreifen, der ster-
bende Fechter zusammenbrechen? Die Bildnerkunst wäre auf einen uner-
träglich engen Spielraum begrenzt, wenn es ihr nicht erlaubt sein sollte,
das Augenblickliche darzustellen, und wenn aus unserer ganzen Darstellung
allerdings folgt, was sich weiterhin näher erweisen wird, daß gewichtige
Ruhe ihre schönste Aufgabe ist, so kann sie doch keineswegs ihre einzige
sein; die mehr erwähnte Schrift: "Der veticanische Apollo" von A. Feuer-
bach hat zur Genüge gezeigt, daß diese Kunst ebensosehr auf Leben, Be-
wegung, Affect arbeitet und auch den vorübergehendsten nicht zu scheuen
hat. Es liegt auch hier eine Begriffe-Verwechslung zu Grunde: das
Momentane überhaupt wird mit einem Momentanen bestimmter Art ver-
wechselt, einem solchen, worin ein Häßliches zum Ausbruch kommt, das in
der plastischen Fesslung unerträglich ist und von dem wir gesagt haben,
daß es an einem andern Ort zur Sprache kommen wird. Von der bewegtesten
Darstellung führt Eine Linie durch unendliche Abstufungen zum Bilde der
vollen Ruhe, aber auch dieses erwacht zur Bewegung; der farnesische
Herkules hat gekämpft und wird wieder kämpfen, Ariadne ist nach un-
endlichen Seelenleiden in Schlummer gesunken und die Ankunft des Gottes
wird sie erwecken. Die Zeit ist unendlich theilbar, das Jetzt entflieht uns
unter der Hand, der höchste, stärkste Moment ist eigentlich gar nicht zu
bestimmen und der Unterschied der Secundenzahl zwischen der schnellsten
Bewegung und der steten Ruhe, von der wir keinen Augenblick wissen,
wann sie, unendlicher Bewegungskräfte voll, wieder zur wirklichen Be-
wegung übergehen wird, nicht zu bemessen. -- Haben wir nun hiedurch
der Bildnerkunst einen unendlichen Spielraum in der Darstellung des
Zeitlebens ausgesteckt, so läßt sich über die Art, in welcher sich diese Weite
mit der allgemeinen Bestimmung gewichtiger Ruhe zu vereinigen hat, für jetzt
feststellen: fürs Erste soll diese gewichtige Ruhe auch in der äußersten
Erregung noch durchscheinen; dieß näher zu verfolgen gehört aber noch
nicht hieher; fürs Zweite ist allerdings richtig, daß Darstellung wirklicher,
nur nicht lebloser, Ruhe aller der Zustände, worin Körper und Seele mit
einem gewissen tenor in einer Stellung und Lage verweilt, das Wesen
dieser Kunst einfacher und voller ausspricht, als aufgeregter Zustände;
fürs Dritte wird von den drei Momenten: Ansteigen zur höchsten Entladung,
diese selbst, Absteigen zur Ruhe, der letzte ihr als directe Aufgabe allerdings mehr

eckelt oder grauet.“ Aber iſt denn nicht der Laokoon auch in einem Mo-
mente dargeſtellt, muß ſich die Gruppe nicht im nächſten Momente verän-
dern? oder Apollo von Belvedere nicht in der nächſten Secunde den Arm
ſinken laſſen, die Diana von Verfailles den Pfeil auflegen und abſchießen,
Caſtor und Pollux mit ihren Roſſen eine andere Bewegung machen, der
Diſkobol abſchleudern, der Wettläufer Ladas, von dem die Anthologie
fürchtet, er möchte der Baſis entſpringen, den Kranz ergreifen, der ſter-
bende Fechter zuſammenbrechen? Die Bildnerkunſt wäre auf einen uner-
träglich engen Spielraum begrenzt, wenn es ihr nicht erlaubt ſein ſollte,
das Augenblickliche darzuſtellen, und wenn aus unſerer ganzen Darſtellung
allerdings folgt, was ſich weiterhin näher erweiſen wird, daß gewichtige
Ruhe ihre ſchönſte Aufgabe iſt, ſo kann ſie doch keineswegs ihre einzige
ſein; die mehr erwähnte Schrift: „Der veticaniſche Apollo“ von A. Feuer-
bach hat zur Genüge gezeigt, daß dieſe Kunſt ebenſoſehr auf Leben, Be-
wegung, Affect arbeitet und auch den vorübergehendſten nicht zu ſcheuen
hat. Es liegt auch hier eine Begriffe-Verwechslung zu Grunde: das
Momentane überhaupt wird mit einem Momentanen beſtimmter Art ver-
wechſelt, einem ſolchen, worin ein Häßliches zum Ausbruch kommt, das in
der plaſtiſchen Feſſlung unerträglich iſt und von dem wir geſagt haben,
daß es an einem andern Ort zur Sprache kommen wird. Von der bewegteſten
Darſtellung führt Eine Linie durch unendliche Abſtufungen zum Bilde der
vollen Ruhe, aber auch dieſes erwacht zur Bewegung; der farneſiſche
Herkules hat gekämpft und wird wieder kämpfen, Ariadne iſt nach un-
endlichen Seelenleiden in Schlummer geſunken und die Ankunft des Gottes
wird ſie erwecken. Die Zeit iſt unendlich theilbar, das Jetzt entflieht uns
unter der Hand, der höchſte, ſtärkſte Moment iſt eigentlich gar nicht zu
beſtimmen und der Unterſchied der Secundenzahl zwiſchen der ſchnellſten
Bewegung und der ſteten Ruhe, von der wir keinen Augenblick wiſſen,
wann ſie, unendlicher Bewegungskräfte voll, wieder zur wirklichen Be-
wegung übergehen wird, nicht zu bemeſſen. — Haben wir nun hiedurch
der Bildnerkunſt einen unendlichen Spielraum in der Darſtellung des
Zeitlebens ausgeſteckt, ſo läßt ſich über die Art, in welcher ſich dieſe Weite
mit der allgemeinen Beſtimmung gewichtiger Ruhe zu vereinigen hat, für jetzt
feſtſtellen: fürs Erſte ſoll dieſe gewichtige Ruhe auch in der äußerſten
Erregung noch durchſcheinen; dieß näher zu verfolgen gehört aber noch
nicht hieher; fürs Zweite iſt allerdings richtig, daß Darſtellung wirklicher,
nur nicht lebloſer, Ruhe aller der Zuſtände, worin Körper und Seele mit
einem gewiſſen tenor in einer Stellung und Lage verweilt, das Weſen
dieſer Kunſt einfacher und voller ausſpricht, als aufgeregter Zuſtände;
fürs Dritte wird von den drei Momenten: Anſteigen zur höchſten Entladung,
dieſe ſelbſt, Abſteigen zur Ruhe, der letzte ihr als directe Aufgabe allerdings mehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0076" n="402"/>
eckelt oder grauet.&#x201C; Aber i&#x017F;t denn nicht der Laokoon auch in einem Mo-<lb/>
mente darge&#x017F;tellt, muß &#x017F;ich die Gruppe nicht im näch&#x017F;ten Momente verän-<lb/>
dern? oder Apollo von Belvedere nicht in der näch&#x017F;ten Secunde den Arm<lb/>
&#x017F;inken la&#x017F;&#x017F;en, die Diana von Verfailles den Pfeil auflegen und ab&#x017F;chießen,<lb/>
Ca&#x017F;tor und Pollux mit ihren Ro&#x017F;&#x017F;en eine andere Bewegung machen, der<lb/>
Di&#x017F;kobol ab&#x017F;chleudern, der Wettläufer Ladas, von dem die Anthologie<lb/>
fürchtet, er möchte der Ba&#x017F;is ent&#x017F;pringen, den Kranz ergreifen, der &#x017F;ter-<lb/>
bende Fechter zu&#x017F;ammenbrechen? Die Bildnerkun&#x017F;t wäre auf einen uner-<lb/>
träglich engen Spielraum begrenzt, wenn es ihr nicht erlaubt &#x017F;ein &#x017F;ollte,<lb/>
das Augenblickliche darzu&#x017F;tellen, und wenn aus un&#x017F;erer ganzen Dar&#x017F;tellung<lb/>
allerdings folgt, was &#x017F;ich weiterhin näher erwei&#x017F;en wird, daß gewichtige<lb/>
Ruhe ihre &#x017F;chön&#x017F;te Aufgabe i&#x017F;t, &#x017F;o kann &#x017F;ie doch keineswegs ihre einzige<lb/>
&#x017F;ein; die mehr erwähnte Schrift: &#x201E;Der veticani&#x017F;che Apollo&#x201C; von A. Feuer-<lb/>
bach hat zur Genüge gezeigt, daß die&#x017F;e Kun&#x017F;t eben&#x017F;o&#x017F;ehr auf Leben, Be-<lb/>
wegung, Affect arbeitet und auch den vorübergehend&#x017F;ten nicht zu &#x017F;cheuen<lb/>
hat. Es liegt auch hier eine Begriffe-Verwechslung zu Grunde: das<lb/>
Momentane überhaupt wird mit einem Momentanen be&#x017F;timmter Art ver-<lb/>
wech&#x017F;elt, einem &#x017F;olchen, worin ein Häßliches zum Ausbruch kommt, das in<lb/>
der pla&#x017F;ti&#x017F;chen Fe&#x017F;&#x017F;lung unerträglich i&#x017F;t und von dem wir ge&#x017F;agt haben,<lb/>
daß es an einem andern Ort zur Sprache kommen wird. Von der bewegte&#x017F;ten<lb/>
Dar&#x017F;tellung führt Eine Linie durch unendliche Ab&#x017F;tufungen zum Bilde der<lb/>
vollen Ruhe, aber auch die&#x017F;es erwacht zur Bewegung; der farne&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Herkules hat gekämpft und wird wieder kämpfen, Ariadne i&#x017F;t nach un-<lb/>
endlichen Seelenleiden in Schlummer ge&#x017F;unken und die Ankunft des Gottes<lb/>
wird &#x017F;ie erwecken. Die Zeit i&#x017F;t unendlich theilbar, das Jetzt entflieht uns<lb/>
unter der Hand, der höch&#x017F;te, &#x017F;tärk&#x017F;te Moment i&#x017F;t eigentlich gar nicht zu<lb/>
be&#x017F;timmen und der Unter&#x017F;chied der Secundenzahl zwi&#x017F;chen der &#x017F;chnell&#x017F;ten<lb/>
Bewegung und der &#x017F;teten Ruhe, von der wir keinen Augenblick wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wann &#x017F;ie, unendlicher Bewegungskräfte voll, wieder zur wirklichen Be-<lb/>
wegung übergehen wird, nicht zu beme&#x017F;&#x017F;en. &#x2014; Haben wir nun hiedurch<lb/>
der Bildnerkun&#x017F;t einen unendlichen Spielraum in der Dar&#x017F;tellung des<lb/>
Zeitlebens ausge&#x017F;teckt, &#x017F;o läßt &#x017F;ich über die Art, in welcher &#x017F;ich die&#x017F;e Weite<lb/>
mit der allgemeinen Be&#x017F;timmung gewichtiger Ruhe zu vereinigen hat, für jetzt<lb/>
fe&#x017F;t&#x017F;tellen: fürs Er&#x017F;te &#x017F;oll die&#x017F;e gewichtige Ruhe auch in der äußer&#x017F;ten<lb/>
Erregung noch durch&#x017F;cheinen; dieß näher zu verfolgen gehört aber noch<lb/>
nicht hieher; fürs Zweite i&#x017F;t allerdings richtig, daß Dar&#x017F;tellung wirklicher,<lb/>
nur nicht leblo&#x017F;er, Ruhe aller der Zu&#x017F;tände, worin Körper und Seele mit<lb/>
einem gewi&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#aq">tenor</hi> in einer Stellung und Lage verweilt, das We&#x017F;en<lb/>
die&#x017F;er Kun&#x017F;t einfacher und voller aus&#x017F;pricht, als aufgeregter Zu&#x017F;tände;<lb/>
fürs Dritte wird von den drei Momenten: An&#x017F;teigen zur höch&#x017F;ten Entladung,<lb/>
die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t, Ab&#x017F;teigen zur Ruhe, der letzte ihr als directe Aufgabe allerdings mehr<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[402/0076] eckelt oder grauet.“ Aber iſt denn nicht der Laokoon auch in einem Mo- mente dargeſtellt, muß ſich die Gruppe nicht im nächſten Momente verän- dern? oder Apollo von Belvedere nicht in der nächſten Secunde den Arm ſinken laſſen, die Diana von Verfailles den Pfeil auflegen und abſchießen, Caſtor und Pollux mit ihren Roſſen eine andere Bewegung machen, der Diſkobol abſchleudern, der Wettläufer Ladas, von dem die Anthologie fürchtet, er möchte der Baſis entſpringen, den Kranz ergreifen, der ſter- bende Fechter zuſammenbrechen? Die Bildnerkunſt wäre auf einen uner- träglich engen Spielraum begrenzt, wenn es ihr nicht erlaubt ſein ſollte, das Augenblickliche darzuſtellen, und wenn aus unſerer ganzen Darſtellung allerdings folgt, was ſich weiterhin näher erweiſen wird, daß gewichtige Ruhe ihre ſchönſte Aufgabe iſt, ſo kann ſie doch keineswegs ihre einzige ſein; die mehr erwähnte Schrift: „Der veticaniſche Apollo“ von A. Feuer- bach hat zur Genüge gezeigt, daß dieſe Kunſt ebenſoſehr auf Leben, Be- wegung, Affect arbeitet und auch den vorübergehendſten nicht zu ſcheuen hat. Es liegt auch hier eine Begriffe-Verwechslung zu Grunde: das Momentane überhaupt wird mit einem Momentanen beſtimmter Art ver- wechſelt, einem ſolchen, worin ein Häßliches zum Ausbruch kommt, das in der plaſtiſchen Feſſlung unerträglich iſt und von dem wir geſagt haben, daß es an einem andern Ort zur Sprache kommen wird. Von der bewegteſten Darſtellung führt Eine Linie durch unendliche Abſtufungen zum Bilde der vollen Ruhe, aber auch dieſes erwacht zur Bewegung; der farneſiſche Herkules hat gekämpft und wird wieder kämpfen, Ariadne iſt nach un- endlichen Seelenleiden in Schlummer geſunken und die Ankunft des Gottes wird ſie erwecken. Die Zeit iſt unendlich theilbar, das Jetzt entflieht uns unter der Hand, der höchſte, ſtärkſte Moment iſt eigentlich gar nicht zu beſtimmen und der Unterſchied der Secundenzahl zwiſchen der ſchnellſten Bewegung und der ſteten Ruhe, von der wir keinen Augenblick wiſſen, wann ſie, unendlicher Bewegungskräfte voll, wieder zur wirklichen Be- wegung übergehen wird, nicht zu bemeſſen. — Haben wir nun hiedurch der Bildnerkunſt einen unendlichen Spielraum in der Darſtellung des Zeitlebens ausgeſteckt, ſo läßt ſich über die Art, in welcher ſich dieſe Weite mit der allgemeinen Beſtimmung gewichtiger Ruhe zu vereinigen hat, für jetzt feſtſtellen: fürs Erſte ſoll dieſe gewichtige Ruhe auch in der äußerſten Erregung noch durchſcheinen; dieß näher zu verfolgen gehört aber noch nicht hieher; fürs Zweite iſt allerdings richtig, daß Darſtellung wirklicher, nur nicht lebloſer, Ruhe aller der Zuſtände, worin Körper und Seele mit einem gewiſſen tenor in einer Stellung und Lage verweilt, das Weſen dieſer Kunſt einfacher und voller ausſpricht, als aufgeregter Zuſtände; fürs Dritte wird von den drei Momenten: Anſteigen zur höchſten Entladung, dieſe ſelbſt, Abſteigen zur Ruhe, der letzte ihr als directe Aufgabe allerdings mehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/76
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/76>, abgerufen am 27.11.2024.