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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 612.

Auch in Beziehung auf die nähere Bestimmtheit der Gestalten in Sphäre,
Lage, Handlung
wäre somit der Umfang der Darstellungsfähigkeit ein sehr
beschränkter, wenn die Bildnerkunst nicht durch gewisse mythische und sym-
bolische Hülfen,
welche die Umgebung anzeigen, durch das Attribut, die
Bekleidung, Schmückung, Ausstattung, namentlich aber eine feststehende Ge-
bärdensprache
den Mangel zu ersetzen wüßte. Aber auch im Gebrauche
dieser Ersatzmittel selbst ist die Bildnerkunst sparsam, weil ihr ganzer Geist
sie auf
das Allgemeine, vom Zufälligen entblößte Wesentliche hinweist, wie
es in der Gestalt an sich liegt.

Die Bildnerkunst bedarf Surrogate für den fehlenden Hintergrund
und die beschränkte Figurenzahl, Abbreviaturen, Auszüge, welche stellver-
tretend das Allgemeine, Viele, das die Hauptpersonen umgibt und uns
besagen sollte, was sie sind, leiden, thun, durch ein Einzelnes andeuten.
Es gilt dieß schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte geschichtliche
Form des Ideals, aber es kann auch nicht zur Sprache kommen, ohne
sogleich den Blick zu eröffnen in die Entwurzelung der Plastik, wie sie da
eintreten muß, wo jenes Prinzip des Vicarirens, des Aussprechens einer
ganzen Sphäre durch ein Individuelles, kurz der Act der ästhetischen Zu-
sammenziehung in seiner mythischen und symbolischen Form, im Ganzen
und Großen erloschen ist; wir werden jedoch Recht und Nothwendigkeit des
Beibehaltens dieser Abbreviatur durch eine Rückversetzung in den Standpunct
des classischen Ideals in dem Ueberblick über die Geschichte unserer Kunst
aufnehmen. In der That ist die Verwendung jener Andeutungen auf
dem Puncte, von dem es sich nun handelt, auch bei den Alten nicht der reine
und volle Ausdruck ihres mythischen Glaubens. Was zuerst die Ersetzung
der ausführlich bezeichnenden Umgebung durch ganze mythische Gestalten
betrifft, so ist dieser Gebrauch derselben wohl zu unterscheiden von dem
Kunstwerke, wo solche die Hauptpersonen sind, den eigentlichen Zweck der
Aufgabe bilden. Ein Flußgott, für sich dargestellt, ist nicht statt des Flusses
gesetzt, sondern der Fluß ist in ihm zur Persönlichkeit, zur ganzen, mensch-
lichen erhoben; sind aber die Hauptpersonen andere und soll ein Flußgott
mit einer wassergießenden Urne daneben oder im Hintergrund nur anzei-
gen, daß die Scene an einem Flusse vor sich geht, so gilt jetzt diese Ge-
stalt nicht im vollen mythischen Ernste, sondern eigentlich mehr nur alle-
gorisch, doch bleibt der Vortheil, daß auch das Allegorische mehr Leben
hat, weil die Wärme des mythischen Glaubens im Ganzen und Großen

§. 612.

Auch in Beziehung auf die nähere Beſtimmtheit der Geſtalten in Sphäre,
Lage, Handlung
wäre ſomit der Umfang der Darſtellungsfähigkeit ein ſehr
beſchränkter, wenn die Bildnerkunſt nicht durch gewiſſe mythiſche und ſym-
boliſche Hülfen,
welche die Umgebung anzeigen, durch das Attribut, die
Bekleidung, Schmückung, Ausſtattung, namentlich aber eine feſtſtehende Ge-
bärdenſprache
den Mangel zu erſetzen wüßte. Aber auch im Gebrauche
dieſer Erſatzmittel ſelbſt iſt die Bildnerkunſt ſparſam, weil ihr ganzer Geiſt
ſie auf
das Allgemeine, vom Zufälligen entblößte Weſentliche hinweist, wie
es in der Geſtalt an ſich liegt.

Die Bildnerkunſt bedarf Surrogate für den fehlenden Hintergrund
und die beſchränkte Figurenzahl, Abbreviaturen, Auszüge, welche ſtellver-
tretend das Allgemeine, Viele, das die Hauptperſonen umgibt und uns
beſagen ſollte, was ſie ſind, leiden, thun, durch ein Einzelnes andeuten.
Es gilt dieß ſchlechthin, ohne Rückſicht auf eine beſtimmte geſchichtliche
Form des Ideals, aber es kann auch nicht zur Sprache kommen, ohne
ſogleich den Blick zu eröffnen in die Entwurzelung der Plaſtik, wie ſie da
eintreten muß, wo jenes Prinzip des Vicarirens, des Ausſprechens einer
ganzen Sphäre durch ein Individuelles, kurz der Act der äſthetiſchen Zu-
ſammenziehung in ſeiner mythiſchen und ſymboliſchen Form, im Ganzen
und Großen erloſchen iſt; wir werden jedoch Recht und Nothwendigkeit des
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des claſſiſchen Ideals in dem Ueberblick über die Geſchichte unſerer Kunſt
aufnehmen. In der That iſt die Verwendung jener Andeutungen auf
dem Puncte, von dem es ſich nun handelt, auch bei den Alten nicht der reine
und volle Ausdruck ihres mythiſchen Glaubens. Was zuerſt die Erſetzung
der ausführlich bezeichnenden Umgebung durch ganze mythiſche Geſtalten
betrifft, ſo iſt dieſer Gebrauch derſelben wohl zu unterſcheiden von dem
Kunſtwerke, wo ſolche die Hauptperſonen ſind, den eigentlichen Zweck der
Aufgabe bilden. Ein Flußgott, für ſich dargeſtellt, iſt nicht ſtatt des Fluſſes
geſetzt, ſondern der Fluß iſt in ihm zur Perſönlichkeit, zur ganzen, menſch-
lichen erhoben; ſind aber die Hauptperſonen andere und ſoll ein Flußgott
mit einer waſſergießenden Urne daneben oder im Hintergrund nur anzei-
gen, daß die Scene an einem Fluſſe vor ſich geht, ſo gilt jetzt dieſe Ge-
ſtalt nicht im vollen mythiſchen Ernſte, ſondern eigentlich mehr nur alle-
goriſch, doch bleibt der Vortheil, daß auch das Allegoriſche mehr Leben
hat, weil die Wärme des mythiſchen Glaubens im Ganzen und Großen

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[395/0069] §. 612. Auch in Beziehung auf die nähere Beſtimmtheit der Geſtalten in Sphäre, Lage, Handlung wäre ſomit der Umfang der Darſtellungsfähigkeit ein ſehr beſchränkter, wenn die Bildnerkunſt nicht durch gewiſſe mythiſche und ſym- boliſche Hülfen, welche die Umgebung anzeigen, durch das Attribut, die Bekleidung, Schmückung, Ausſtattung, namentlich aber eine feſtſtehende Ge- bärdenſprache den Mangel zu erſetzen wüßte. Aber auch im Gebrauche dieſer Erſatzmittel ſelbſt iſt die Bildnerkunſt ſparſam, weil ihr ganzer Geiſt ſie auf das Allgemeine, vom Zufälligen entblößte Weſentliche hinweist, wie es in der Geſtalt an ſich liegt. Die Bildnerkunſt bedarf Surrogate für den fehlenden Hintergrund und die beſchränkte Figurenzahl, Abbreviaturen, Auszüge, welche ſtellver- tretend das Allgemeine, Viele, das die Hauptperſonen umgibt und uns beſagen ſollte, was ſie ſind, leiden, thun, durch ein Einzelnes andeuten. Es gilt dieß ſchlechthin, ohne Rückſicht auf eine beſtimmte geſchichtliche Form des Ideals, aber es kann auch nicht zur Sprache kommen, ohne ſogleich den Blick zu eröffnen in die Entwurzelung der Plaſtik, wie ſie da eintreten muß, wo jenes Prinzip des Vicarirens, des Ausſprechens einer ganzen Sphäre durch ein Individuelles, kurz der Act der äſthetiſchen Zu- ſammenziehung in ſeiner mythiſchen und ſymboliſchen Form, im Ganzen und Großen erloſchen iſt; wir werden jedoch Recht und Nothwendigkeit des Beibehaltens dieſer Abbreviatur durch eine Rückverſetzung in den Standpunct des claſſiſchen Ideals in dem Ueberblick über die Geſchichte unſerer Kunſt aufnehmen. In der That iſt die Verwendung jener Andeutungen auf dem Puncte, von dem es ſich nun handelt, auch bei den Alten nicht der reine und volle Ausdruck ihres mythiſchen Glaubens. Was zuerſt die Erſetzung der ausführlich bezeichnenden Umgebung durch ganze mythiſche Geſtalten betrifft, ſo iſt dieſer Gebrauch derſelben wohl zu unterſcheiden von dem Kunſtwerke, wo ſolche die Hauptperſonen ſind, den eigentlichen Zweck der Aufgabe bilden. Ein Flußgott, für ſich dargeſtellt, iſt nicht ſtatt des Fluſſes geſetzt, ſondern der Fluß iſt in ihm zur Perſönlichkeit, zur ganzen, menſch- lichen erhoben; ſind aber die Hauptperſonen andere und ſoll ein Flußgott mit einer waſſergießenden Urne daneben oder im Hintergrund nur anzei- gen, daß die Scene an einem Fluſſe vor ſich geht, ſo gilt jetzt dieſe Ge- ſtalt nicht im vollen mythiſchen Ernſte, ſondern eigentlich mehr nur alle- goriſch, doch bleibt der Vortheil, daß auch das Allegoriſche mehr Leben hat, weil die Wärme des mythiſchen Glaubens im Ganzen und Großen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/69>, abgerufen am 03.12.2024.