leistet, deren kindlich klares Auge noch wesentlich auf das Seiende im eng- sten Sinn, das greiflich Solide, warm sich Füllende im Raume geht. Dieses Auge ist nun mit dem architektonischen noch wesentlich verwandt. Es geht nicht mehr auf die im zerworfenen Erdreich verhüllten rei- nen geometrischen Verhältnisse, sondern auf die organisch geschwungene, zur Erscheinung des Individuums abgerundete Form, aber doch auf diese Form als eine in den Raum fest und schwer hineingebaute; diese Form ist als organisch schöne über das exact Meßbare unendlich hinaus, aber sie enthält es doch als wesentliche Grundlage noch in sich. Regelmäßige Verhältnisse machen die Gestalt des lebendigen Individuums noch nicht schön, sind aber der feste Kern, das Knochengerüste seiner Schön- heit; das tastende Sehen ist noch ein wirklich messendes, wiewohl es zu- gleich unendlich mehr ist. Darum eben erblickt der so Sehende jede Schief- heit, jedes Mißverhältniß im Bau einer Gestalt mit einer Schärfe und Raschheit, wie sie dem malerisch Sehenden fremd ist. Geht nun diese Phantasie in Thätigkeit über und schafft sich ihre Kunstform, so tritt das Architekturartige in ihr vollends zu Tage. Wie sie aufgefaßt hat, muß sie auch nachbilden, sie muß, um das räumlich Feste der Form wiederzu- geben, zum schweren, harten Materiale greifen, wie die Baukunst; sie muß zu dem Theile der Arbeit, welche den wahren und vollen Sitz der Schön- heit nachahmt, auf einer Grundlage wirklichen Messens fortschreiten. Die Bildnerkunst theilt daher mit der Baukunst auch dieß, daß sie auf eine bestimmte Wissenschaft, die Meßkunde, bezogen ist, nur nicht so streng, nicht so durchgängig. Ihr vollendetes Gebilde stellt sie in den wirklichen Raum als raumerfüllendes hinein. Hier ist der Ort, die Begriffe des Raums und der Zeit wieder aufzunehmen, wie sie zu §. 534 als gewöhn- liche Kategorie der Eintheilung der Künste angeführt ist. Es leuchtet nämlich auch an der gegenwärtigen Stelle ein, wie unzulänglich dieser Unterscheidungsbegriff ist; die Bildnerkunst fällt nach demselben einfach unter die Künste des Raums, der Zeitbegriff soll erst bei der Musik ein- treten; allein er tritt schon hier ein, nur so, daß er vom Raumbegriffe beherrscht ist. Nur die Baukunst ist rein räumlich, ihr Werk lebt erst im Zuschauer zu einer Bewegung, also einem Zeitleben, der Musik verwandt auf; die Bildnerkunst dagegen hat ein im Raume sich Bewegendes, ein Zeitleben wirklich zu ihrem Vorbild, und die Anschauung, welche dem Schaffen des Bildners zu Grunde liegt, faßt die feste Form wesentlich in dieser Bestimmtheit der Bewegung auf; erst in der künstlerischen Ausfüh- rung muß die wirkliche Bewegung wegfallen, weil sonst entweder die For- derung, daß das Material todter Stoff sein muß (§. 490), nicht erfüllt werden könnte oder eine mechanische Bewegung angewandt werden müßte, welche in das gemein Technische abführt und in diesem Gebiete einen
leiſtet, deren kindlich klares Auge noch weſentlich auf das Seiende im eng- ſten Sinn, das greiflich Solide, warm ſich Füllende im Raume geht. Dieſes Auge iſt nun mit dem architektoniſchen noch weſentlich verwandt. Es geht nicht mehr auf die im zerworfenen Erdreich verhüllten rei- nen geometriſchen Verhältniſſe, ſondern auf die organiſch geſchwungene, zur Erſcheinung des Individuums abgerundete Form, aber doch auf dieſe Form als eine in den Raum feſt und ſchwer hineingebaute; dieſe Form iſt als organiſch ſchöne über das exact Meßbare unendlich hinaus, aber ſie enthält es doch als weſentliche Grundlage noch in ſich. Regelmäßige Verhältniſſe machen die Geſtalt des lebendigen Individuums noch nicht ſchön, ſind aber der feſte Kern, das Knochengerüſte ſeiner Schön- heit; das taſtende Sehen iſt noch ein wirklich meſſendes, wiewohl es zu- gleich unendlich mehr iſt. Darum eben erblickt der ſo Sehende jede Schief- heit, jedes Mißverhältniß im Bau einer Geſtalt mit einer Schärfe und Raſchheit, wie ſie dem maleriſch Sehenden fremd iſt. Geht nun dieſe Phantaſie in Thätigkeit über und ſchafft ſich ihre Kunſtform, ſo tritt das Architekturartige in ihr vollends zu Tage. Wie ſie aufgefaßt hat, muß ſie auch nachbilden, ſie muß, um das räumlich Feſte der Form wiederzu- geben, zum ſchweren, harten Materiale greifen, wie die Baukunſt; ſie muß zu dem Theile der Arbeit, welche den wahren und vollen Sitz der Schön- heit nachahmt, auf einer Grundlage wirklichen Meſſens fortſchreiten. Die Bildnerkunſt theilt daher mit der Baukunſt auch dieß, daß ſie auf eine beſtimmte Wiſſenſchaft, die Meßkunde, bezogen iſt, nur nicht ſo ſtreng, nicht ſo durchgängig. Ihr vollendetes Gebilde ſtellt ſie in den wirklichen Raum als raumerfüllendes hinein. Hier iſt der Ort, die Begriffe des Raums und der Zeit wieder aufzunehmen, wie ſie zu §. 534 als gewöhn- liche Kategorie der Eintheilung der Künſte angeführt iſt. Es leuchtet nämlich auch an der gegenwärtigen Stelle ein, wie unzulänglich dieſer Unterſcheidungsbegriff iſt; die Bildnerkunſt fällt nach demſelben einfach unter die Künſte des Raums, der Zeitbegriff ſoll erſt bei der Muſik ein- treten; allein er tritt ſchon hier ein, nur ſo, daß er vom Raumbegriffe beherrſcht iſt. Nur die Baukunſt iſt rein räumlich, ihr Werk lebt erſt im Zuſchauer zu einer Bewegung, alſo einem Zeitleben, der Muſik verwandt auf; die Bildnerkunſt dagegen hat ein im Raume ſich Bewegendes, ein Zeitleben wirklich zu ihrem Vorbild, und die Anſchauung, welche dem Schaffen des Bildners zu Grunde liegt, faßt die feſte Form weſentlich in dieſer Beſtimmtheit der Bewegung auf; erſt in der künſtleriſchen Ausfüh- rung muß die wirkliche Bewegung wegfallen, weil ſonſt entweder die For- derung, daß das Material todter Stoff ſein muß (§. 490), nicht erfüllt werden könnte oder eine mechaniſche Bewegung angewandt werden müßte, welche in das gemein Techniſche abführt und in dieſem Gebiete einen
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leiſtet, deren kindlich klares Auge noch weſentlich auf das Seiende im eng-
ſten Sinn, das greiflich Solide, warm ſich Füllende im Raume geht.
Dieſes Auge iſt nun mit dem architektoniſchen noch weſentlich verwandt.
Es geht nicht mehr auf die im zerworfenen Erdreich verhüllten rei-
nen geometriſchen Verhältniſſe, ſondern auf die organiſch geſchwungene,
zur Erſcheinung des Individuums abgerundete Form, aber doch auf dieſe
Form als eine in den Raum feſt und ſchwer hineingebaute; dieſe Form
iſt als organiſch ſchöne über das exact Meßbare unendlich hinaus, aber
ſie enthält es doch als weſentliche Grundlage noch in ſich. Regelmäßige
Verhältniſſe machen die Geſtalt des lebendigen Individuums noch nicht
ſchön, ſind aber der feſte Kern, das Knochengerüſte ſeiner Schön-
heit; das taſtende Sehen iſt noch ein wirklich meſſendes, wiewohl es zu-
gleich unendlich mehr iſt. Darum eben erblickt der ſo Sehende jede Schief-
heit, jedes Mißverhältniß im Bau einer Geſtalt mit einer Schärfe und
Raſchheit, wie ſie dem maleriſch Sehenden fremd iſt. Geht nun dieſe
Phantaſie in Thätigkeit über und ſchafft ſich ihre Kunſtform, ſo tritt das
Architekturartige in ihr vollends zu Tage. Wie ſie aufgefaßt hat, muß
ſie auch nachbilden, ſie muß, um das räumlich Feſte der Form wiederzu-
geben, zum ſchweren, harten Materiale greifen, wie die Baukunſt; ſie muß
zu dem Theile der Arbeit, welche den wahren und vollen Sitz der Schön-
heit nachahmt, auf einer Grundlage wirklichen Meſſens fortſchreiten. Die
Bildnerkunſt theilt daher mit der Baukunſt auch dieß, daß ſie auf eine
beſtimmte Wiſſenſchaft, die Meßkunde, bezogen iſt, nur nicht ſo ſtreng,
nicht ſo durchgängig. Ihr vollendetes Gebilde ſtellt ſie in den wirklichen
Raum als raumerfüllendes hinein. Hier iſt der Ort, die Begriffe des
Raums und der Zeit wieder aufzunehmen, wie ſie zu §. 534 als gewöhn-
liche Kategorie der Eintheilung der Künſte angeführt iſt. Es leuchtet
nämlich auch an der gegenwärtigen Stelle ein, wie unzulänglich dieſer
Unterſcheidungsbegriff iſt; die Bildnerkunſt fällt nach demſelben einfach
unter die Künſte des Raums, der Zeitbegriff ſoll erſt bei der Muſik ein-
treten; allein er tritt ſchon hier ein, nur ſo, daß er vom Raumbegriffe
beherrſcht iſt. Nur die Baukunſt iſt rein räumlich, ihr Werk lebt erſt im
Zuſchauer zu einer Bewegung, alſo einem Zeitleben, der Muſik verwandt
auf; die Bildnerkunſt dagegen hat ein im Raume ſich Bewegendes, ein
Zeitleben wirklich zu ihrem Vorbild, und die Anſchauung, welche dem
Schaffen des Bildners zu Grunde liegt, faßt die feſte Form weſentlich in
dieſer Beſtimmtheit der Bewegung auf; erſt in der künſtleriſchen Ausfüh-
rung muß die wirkliche Bewegung wegfallen, weil ſonſt entweder die For-
derung, daß das Material todter Stoff ſein muß (§. 490), nicht erfüllt
werden könnte oder eine mechaniſche Bewegung angewandt werden müßte,
welche in das gemein Techniſche abführt und in dieſem Gebiete einen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/20>, abgerufen am 30.07.2024.
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