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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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auch das Architektonische, an das er diese Auszierung heftet, für seinen
Gesichtspunct selbst componirt. Zur völligen Auflösung aller plastischen
Gesetze wird die Manier des leidenschaftlich Bewegten, dramatisch Fort-
gerissenen durch Bernini ausgebildet. Das plastische Gleichgewicht, die
Ruhe in sich ist rein weg, ein auswärts liegender Magnet scheint an
allen Enden auf die Gestalt zu wirken und sie aus ihrem Centrum herauszu-
wirbeln, auch in die Gewänder und in die Haare fährt es wie ein zerzausen-
der, aufwühlender Wind. Eine besondere Form, die neben dem heroischen
Auffahren herrscht, ist der Ausdruck ekstatischer Verzücktheit, wie ihn über-
haupt der aufgeregte Katholizismus nach der Restauration pflegt. Neben
dem Schwulste der falschen Kraft wird nun aber auch die Süßigkeit und
der lüsterne Reiz der falschen Grazie aufgenommen und zu einem Zweige
dieser Nichtung ausgebildet. Daß die Formen an sich, obwohl man seit
der Renaissance das plastisch Schöne wieder erkannt hat, in dieser Herr-
schaft der Manier ebenfalls aus Rand und Band gehen müssen, erhellt
von selbst; ein neuer Naturalismus dringt ein, nicht mehr der tüchtig herbe
des Mittelalters, sondern ein gemeiner, vom zufälligen Modell entnom-
mener: "Bernini suchte Formen, aus der niedrigsten Natur genommen,
gleichsam durch das Uebertreiben zu veredeln und seine Figuren sind wie
der zu plötzlichem Glück gekommene Pöbel" (Winkelmann G. d. K. B. 2,
S. 43). Der Muskel wird zum aufgedunsenen Ballen, die erhitzte Ader
schwillt und wo das Weiche gesucht wird, zittert das schwammige Fett.
Diese Manier hat sich wie der frühere Styl der noch tüchtigeren Re-
naissance von Italien aus vor Allem nach Frankreich verbreitet; hier
wird das Theatralische, was an sich schon in ihr liegt, durch die den
Franzosen ihrem Naturell nach eigene Richtung auf solchen seiner Wir-
kung selbstgefällig bewußten Effect, hier besonders auch das Süße und
der falsche Reiz auf seine Höhe getrieben. An bedeutenden Talenten,
die innerhalb der Verirrung Geniales leisten, fehlt es jedoch weder hier,
noch in Deutschland, wohin diese Formen, wie über Spanien und Eng-
land, sich verbreiten (Schlüter). Was nun die Stoffwelt betrifft, so wird
wohl im Einzelnen das geschichtliche Leben selbst in Monumental-Sta-
tuen und einfach menschlichem Genre mit frischer und kräftiger Hand er-
griffen; es ist zu 1. erwähnt, daß selbst der Rokoko sich namentlich noch
durch schöne historische Büsten auszeichnet; das Wichtigere aber ist, daß
diese Epoche kein Bewußtsein davon hat, wie unvereinbar ihre Manier
mit den Gegenständen der zweiten Stoffwelt ist, daß sie vielmehr ihren
höchst subjectiven Geist ohne Scrupel in die vom naiven Glauben ge-
schaffene, objectiv ernste mythische Gestaltenwelt des Mittelalters und frei-
lich hart daneben in die seit der Renaissance mit Begierde aufgegriffene
antike Götter- und Heroenwelt hineinschüttet und außerdem, daß diese

auch das Architektoniſche, an das er dieſe Auszierung heftet, für ſeinen
Geſichtspunct ſelbſt componirt. Zur völligen Auflöſung aller plaſtiſchen
Geſetze wird die Manier des leidenſchaftlich Bewegten, dramatiſch Fort-
geriſſenen durch Bernini ausgebildet. Das plaſtiſche Gleichgewicht, die
Ruhe in ſich iſt rein weg, ein auswärts liegender Magnet ſcheint an
allen Enden auf die Geſtalt zu wirken und ſie aus ihrem Centrum herauszu-
wirbeln, auch in die Gewänder und in die Haare fährt es wie ein zerzauſen-
der, aufwühlender Wind. Eine beſondere Form, die neben dem heroiſchen
Auffahren herrſcht, iſt der Ausdruck ekſtatiſcher Verzücktheit, wie ihn über-
haupt der aufgeregte Katholiziſmus nach der Reſtauration pflegt. Neben
dem Schwulſte der falſchen Kraft wird nun aber auch die Süßigkeit und
der lüſterne Reiz der falſchen Grazie aufgenommen und zu einem Zweige
dieſer Nichtung ausgebildet. Daß die Formen an ſich, obwohl man ſeit
der Renaiſſance das plaſtiſch Schöne wieder erkannt hat, in dieſer Herr-
ſchaft der Manier ebenfalls aus Rand und Band gehen müſſen, erhellt
von ſelbſt; ein neuer Naturaliſmus dringt ein, nicht mehr der tüchtig herbe
des Mittelalters, ſondern ein gemeiner, vom zufälligen Modell entnom-
mener: „Bernini ſuchte Formen, aus der niedrigſten Natur genommen,
gleichſam durch das Uebertreiben zu veredeln und ſeine Figuren ſind wie
der zu plötzlichem Glück gekommene Pöbel“ (Winkelmann G. d. K. B. 2,
S. 43). Der Muskel wird zum aufgedunſenen Ballen, die erhitzte Ader
ſchwillt und wo das Weiche geſucht wird, zittert das ſchwammige Fett.
Dieſe Manier hat ſich wie der frühere Styl der noch tüchtigeren Re-
naiſſance von Italien aus vor Allem nach Frankreich verbreitet; hier
wird das Theatraliſche, was an ſich ſchon in ihr liegt, durch die den
Franzoſen ihrem Naturell nach eigene Richtung auf ſolchen ſeiner Wir-
kung ſelbſtgefällig bewußten Effect, hier beſonders auch das Süße und
der falſche Reiz auf ſeine Höhe getrieben. An bedeutenden Talenten,
die innerhalb der Verirrung Geniales leiſten, fehlt es jedoch weder hier,
noch in Deutſchland, wohin dieſe Formen, wie über Spanien und Eng-
land, ſich verbreiten (Schlüter). Was nun die Stoffwelt betrifft, ſo wird
wohl im Einzelnen das geſchichtliche Leben ſelbſt in Monumental-Sta-
tuen und einfach menſchlichem Genre mit friſcher und kräftiger Hand er-
griffen; es iſt zu 1. erwähnt, daß ſelbſt der Rokoko ſich namentlich noch
durch ſchöne hiſtoriſche Büſten auszeichnet; das Wichtigere aber iſt, daß
dieſe Epoche kein Bewußtſein davon hat, wie unvereinbar ihre Manier
mit den Gegenſtänden der zweiten Stoffwelt iſt, daß ſie vielmehr ihren
höchſt ſubjectiven Geiſt ohne Scrupel in die vom naiven Glauben ge-
ſchaffene, objectiv ernſte mythiſche Geſtaltenwelt des Mittelalters und frei-
lich hart daneben in die ſeit der Renaiſſance mit Begierde aufgegriffene
antike Götter- und Heroenwelt hineinſchüttet und außerdem, daß dieſe

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[493/0167] auch das Architektoniſche, an das er dieſe Auszierung heftet, für ſeinen Geſichtspunct ſelbſt componirt. Zur völligen Auflöſung aller plaſtiſchen Geſetze wird die Manier des leidenſchaftlich Bewegten, dramatiſch Fort- geriſſenen durch Bernini ausgebildet. Das plaſtiſche Gleichgewicht, die Ruhe in ſich iſt rein weg, ein auswärts liegender Magnet ſcheint an allen Enden auf die Geſtalt zu wirken und ſie aus ihrem Centrum herauszu- wirbeln, auch in die Gewänder und in die Haare fährt es wie ein zerzauſen- der, aufwühlender Wind. Eine beſondere Form, die neben dem heroiſchen Auffahren herrſcht, iſt der Ausdruck ekſtatiſcher Verzücktheit, wie ihn über- haupt der aufgeregte Katholiziſmus nach der Reſtauration pflegt. Neben dem Schwulſte der falſchen Kraft wird nun aber auch die Süßigkeit und der lüſterne Reiz der falſchen Grazie aufgenommen und zu einem Zweige dieſer Nichtung ausgebildet. Daß die Formen an ſich, obwohl man ſeit der Renaiſſance das plaſtiſch Schöne wieder erkannt hat, in dieſer Herr- ſchaft der Manier ebenfalls aus Rand und Band gehen müſſen, erhellt von ſelbſt; ein neuer Naturaliſmus dringt ein, nicht mehr der tüchtig herbe des Mittelalters, ſondern ein gemeiner, vom zufälligen Modell entnom- mener: „Bernini ſuchte Formen, aus der niedrigſten Natur genommen, gleichſam durch das Uebertreiben zu veredeln und ſeine Figuren ſind wie der zu plötzlichem Glück gekommene Pöbel“ (Winkelmann G. d. K. B. 2, S. 43). Der Muskel wird zum aufgedunſenen Ballen, die erhitzte Ader ſchwillt und wo das Weiche geſucht wird, zittert das ſchwammige Fett. Dieſe Manier hat ſich wie der frühere Styl der noch tüchtigeren Re- naiſſance von Italien aus vor Allem nach Frankreich verbreitet; hier wird das Theatraliſche, was an ſich ſchon in ihr liegt, durch die den Franzoſen ihrem Naturell nach eigene Richtung auf ſolchen ſeiner Wir- kung ſelbſtgefällig bewußten Effect, hier beſonders auch das Süße und der falſche Reiz auf ſeine Höhe getrieben. An bedeutenden Talenten, die innerhalb der Verirrung Geniales leiſten, fehlt es jedoch weder hier, noch in Deutſchland, wohin dieſe Formen, wie über Spanien und Eng- land, ſich verbreiten (Schlüter). Was nun die Stoffwelt betrifft, ſo wird wohl im Einzelnen das geſchichtliche Leben ſelbſt in Monumental-Sta- tuen und einfach menſchlichem Genre mit friſcher und kräftiger Hand er- griffen; es iſt zu 1. erwähnt, daß ſelbſt der Rokoko ſich namentlich noch durch ſchöne hiſtoriſche Büſten auszeichnet; das Wichtigere aber iſt, daß dieſe Epoche kein Bewußtſein davon hat, wie unvereinbar ihre Manier mit den Gegenſtänden der zweiten Stoffwelt iſt, daß ſie vielmehr ihren höchſt ſubjectiven Geiſt ohne Scrupel in die vom naiven Glauben ge- ſchaffene, objectiv ernſte mythiſche Geſtaltenwelt des Mittelalters und frei- lich hart daneben in die ſeit der Renaiſſance mit Begierde aufgegriffene antike Götter- und Heroenwelt hineinſchüttet und außerdem, daß dieſe

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/167>, abgerufen am 23.12.2024.