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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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b. Die Bildnerkunst des Mittelalters.
§. 642.

Die Formen des Lebens und der Cultur im Mittelalter, die ganze Be-
stimmtheit der romantischen Phantasie, welche daraus hervorging, führt mit
Nothwendigkeit zu einer Innerlichkeit des Ausdrucks, einem Grade des Indi-
vidualismus und Naturalismus, einer Auflösung des Ideals, das allerdings eine
ausgebildete zweite Stoffwelt enthält, in eine geschichtliche Vielheit von Gestal-
ten, die aufeinander und auf eine umgebende Natur bezogen sind, wodurch
die Gesetze des bildnerischen Styls überschritten werden, dagegen das Ma-
lerische
, das empfindungsvoll Bewegte, auch das Dichterische eindringt und der
Unterschied eines weltlichen Kreises von dem göttlichen Kreise seine Bedeu-
tung und plastische Kraft verliert.

In den zwei Abschnitten des zweiten Theils haben wir Alles bei-
sammen, woraus auch hier das schon reife Ergebniß von selbst abfällt.
Das Geschichtliche in §. 354 ff.: die rohe, hart individuelle Form der
diese Weltperiode begründenden, auch den Völkern lateinischer Abstam-
mung und Bildung ihr Blut und Naturell beimischenden germanischen
Nationalität bei tiefer Geistigkeit der Anlage, der innere Bruch im Bil-
dungsgange derselben durch Aneignung ganz fremder Elemente: der alten
Bildung der römischen Welt, des Christenthums, der fortdauernde Rest
objectiver Lebensform mit dem aufblühenden Geiste der Innerlichkeit zu
schillerndem Zwielicht verbunden, der Gegensatz von Adel und Volk, Kirche
und Welt, die phantastisch bunten Culturformen, -- dieß ist zunächst eine
Stoffwelt, deren unplastische Natur gegenüber den in §. 615 geforderten
Vorbildern unmittelbar einleuchtet. Der Geist des Ideals, das die so
beschaffene Welt sich gebaut hat, ist ein Geist der Innerlichkeit, vergl.
§. 450, daher des über die Form unendlich hinausgehenden Ausdrucks
§. 453, und dieß widerspricht dem plastischen Stylgesetze nach §. 605
und 624, ein Geist der in der ganzen Schärfe ihrer Bestimmtheit als
berechtigt gesetzten Individualität, also der physiognomischen Behandlungs-
weise (§. 454), die sich von den unplastischen Härten des umgebenden
Menschenstoffs nicht abwendet, und dieß ist speziell gegen das Stylgesetz
§. 616. In diesem Ideale muß nicht mehr die einzelne Gestalt schön
sein, theils weil das Auge von der Form zum tieferen Ausdruck fortgeht,
theils weil durch die Anerkennung jedes Individuums in der Berechti-

β. Die Bildnerkunſt des Mittelalters.
§. 642.

Die Formen des Lebens und der Cultur im Mittelalter, die ganze Be-
ſtimmtheit der romantiſchen Phantaſie, welche daraus hervorging, führt mit
Nothwendigkeit zu einer Innerlichkeit des Ausdrucks, einem Grade des Indi-
vidualiſmus und Naturaliſmus, einer Auflöſung des Ideals, das allerdings eine
ausgebildete zweite Stoffwelt enthält, in eine geſchichtliche Vielheit von Geſtal-
ten, die aufeinander und auf eine umgebende Natur bezogen ſind, wodurch
die Geſetze des bildneriſchen Styls überſchritten werden, dagegen das Ma-
leriſche
, das empfindungsvoll Bewegte, auch das Dichteriſche eindringt und der
Unterſchied eines weltlichen Kreiſes von dem göttlichen Kreiſe ſeine Bedeu-
tung und plaſtiſche Kraft verliert.

In den zwei Abſchnitten des zweiten Theils haben wir Alles bei-
ſammen, woraus auch hier das ſchon reife Ergebniß von ſelbſt abfällt.
Das Geſchichtliche in §. 354 ff.: die rohe, hart individuelle Form der
dieſe Weltperiode begründenden, auch den Völkern lateiniſcher Abſtam-
mung und Bildung ihr Blut und Naturell beimiſchenden germaniſchen
Nationalität bei tiefer Geiſtigkeit der Anlage, der innere Bruch im Bil-
dungsgange derſelben durch Aneignung ganz fremder Elemente: der alten
Bildung der römiſchen Welt, des Chriſtenthums, der fortdauernde Reſt
objectiver Lebensform mit dem aufblühenden Geiſte der Innerlichkeit zu
ſchillerndem Zwielicht verbunden, der Gegenſatz von Adel und Volk, Kirche
und Welt, die phantaſtiſch bunten Culturformen, — dieß iſt zunächſt eine
Stoffwelt, deren unplaſtiſche Natur gegenüber den in §. 615 geforderten
Vorbildern unmittelbar einleuchtet. Der Geiſt des Ideals, das die ſo
beſchaffene Welt ſich gebaut hat, iſt ein Geiſt der Innerlichkeit, vergl.
§. 450, daher des über die Form unendlich hinausgehenden Ausdrucks
§. 453, und dieß widerſpricht dem plaſtiſchen Stylgeſetze nach §. 605
und 624, ein Geiſt der in der ganzen Schärfe ihrer Beſtimmtheit als
berechtigt geſetzten Individualität, alſo der phyſiognomiſchen Behandlungs-
weiſe (§. 454), die ſich von den unplaſtiſchen Härten des umgebenden
Menſchenſtoffs nicht abwendet, und dieß iſt ſpeziell gegen das Stylgeſetz
§. 616. In dieſem Ideale muß nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön
ſein, theils weil das Auge von der Form zum tieferen Ausdruck fortgeht,
theils weil durch die Anerkennung jedes Individuums in der Berechti-

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[482/0156] β. Die Bildnerkunſt des Mittelalters. §. 642. Die Formen des Lebens und der Cultur im Mittelalter, die ganze Be- ſtimmtheit der romantiſchen Phantaſie, welche daraus hervorging, führt mit Nothwendigkeit zu einer Innerlichkeit des Ausdrucks, einem Grade des Indi- vidualiſmus und Naturaliſmus, einer Auflöſung des Ideals, das allerdings eine ausgebildete zweite Stoffwelt enthält, in eine geſchichtliche Vielheit von Geſtal- ten, die aufeinander und auf eine umgebende Natur bezogen ſind, wodurch die Geſetze des bildneriſchen Styls überſchritten werden, dagegen das Ma- leriſche, das empfindungsvoll Bewegte, auch das Dichteriſche eindringt und der Unterſchied eines weltlichen Kreiſes von dem göttlichen Kreiſe ſeine Bedeu- tung und plaſtiſche Kraft verliert. In den zwei Abſchnitten des zweiten Theils haben wir Alles bei- ſammen, woraus auch hier das ſchon reife Ergebniß von ſelbſt abfällt. Das Geſchichtliche in §. 354 ff.: die rohe, hart individuelle Form der dieſe Weltperiode begründenden, auch den Völkern lateiniſcher Abſtam- mung und Bildung ihr Blut und Naturell beimiſchenden germaniſchen Nationalität bei tiefer Geiſtigkeit der Anlage, der innere Bruch im Bil- dungsgange derſelben durch Aneignung ganz fremder Elemente: der alten Bildung der römiſchen Welt, des Chriſtenthums, der fortdauernde Reſt objectiver Lebensform mit dem aufblühenden Geiſte der Innerlichkeit zu ſchillerndem Zwielicht verbunden, der Gegenſatz von Adel und Volk, Kirche und Welt, die phantaſtiſch bunten Culturformen, — dieß iſt zunächſt eine Stoffwelt, deren unplaſtiſche Natur gegenüber den in §. 615 geforderten Vorbildern unmittelbar einleuchtet. Der Geiſt des Ideals, das die ſo beſchaffene Welt ſich gebaut hat, iſt ein Geiſt der Innerlichkeit, vergl. §. 450, daher des über die Form unendlich hinausgehenden Ausdrucks §. 453, und dieß widerſpricht dem plaſtiſchen Stylgeſetze nach §. 605 und 624, ein Geiſt der in der ganzen Schärfe ihrer Beſtimmtheit als berechtigt geſetzten Individualität, alſo der phyſiognomiſchen Behandlungs- weiſe (§. 454), die ſich von den unplaſtiſchen Härten des umgebenden Menſchenſtoffs nicht abwendet, und dieß iſt ſpeziell gegen das Stylgeſetz §. 616. In dieſem Ideale muß nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön ſein, theils weil das Auge von der Form zum tieferen Ausdruck fortgeht, theils weil durch die Anerkennung jedes Individuums in der Berechti-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/156>, abgerufen am 23.12.2024.