zu unterscheiden, von denen die zweite mitten in die Hauptfrage über alle weitere Geschichte unserer Kunst hineinführt. Die Hinwendung zu jener Anmuth im engeren Sinn, die von der erhabenen Grazie als eine be- sondere Gestalt sich unterscheidet und nach und nach in den falschen Reiz übergeht, die Entfeßlung eines Grads von Affect, der haarscharf an der Grenze des Plastischen hingleitet, zu einer bewußten, theatralisch gemah- nenden Beziehung auf den Zuschauer (die bezeichnenden Werke vergl. zu §. 531 S. 137) ist die eine Seite. Nun aber ist zugleich eine ganz spe- zifische Erweiterung des Stoffes durch die Lysippische Schule eingetreten: der unmittelbar, in voller Nähe gegebene geschichtliche Stoff ist, neben einem vielfältigeren Genre, in einem vorher unbekannten, als unzulässig betrachteten Umfange in die Kunst hereingezogen worden; den vielen Por- trätbildungen, namentlich Alexanders d. Gr., so wie den Gruppen aus seiner Geschichte folgen dann weiter jene Keltenschlachten der Schule von Pergamon; dieß ist die andere Seite. Wir sehen dabei von der Schmei- chelei ab, ebenso vom Style, der zunächst noch rein plastisch, vergöttli- chend bleibt und sich diese Reinheit namentlich auch in der Fortbildung des Herkules-Ideals bewahrt. Im Schluß der Anm. zu §. 531 durfte in dieser Wendung ebensosehr der Keim eines neuen, wie die Auflösung eines bestehenden Ideals, erkannt werden, denn da handelte es sich von allen Künsten, und wiefern die Plastik hier aufhöre, mustergebendes Beispiel zu sein, war nicht der Ort zu verfolgen. Jetzt aber, da wir das Wesen dieser Kunst erörtert haben, leuchtet ein, daß in ihrem Gebiete das stärkere Aufkommen des Genre, des Bildnisses und der Profange- schichte nicht auf ein neues, der Zukunft vorbehaltenes Ideal so hinaus- deuten kann, wie wir bei der Malerei finden werden, wenn sie sich zwei- mal am Schluß einer Hauptperiode, der antiken und dann der mittelal- terlichen, ebenso dem weltlichen Gebiet öffnet. An dieser Frage nun hängt die fernere Geschichte der Bildnerkunst; die Oeffnung nach dem weltlichen Gebiete führt weiter und weiter bis zu dem götterlosen modernen Ideal: kann in diesem eine wesentlich Götterbildende Kunst wie die Plastik eine neue Blüthe oder nur eine Nachblüthe treiben, oder hat sie überhaupt noch Lebensfähigkeit? Nach Allem, was in der Lehre vom Wesen und den Zweigen derselben entwickelt ist, können wir nun bereits so viel sagen: sie wird noch leben können, aber nur mit Einem Lungenflügel. Das Ge- fäß ist jetzt übergelaufen: was noch darin ist (Götterbildende Plastik, so- fern ein Rest von ihr im entgötterten Ideale möglich bleibt), ist zu wenig, und was hinausgesprungen (profanmenschliche, profangeschichtliche), ist nicht mehr gefaßt. Es handelt sich aber wesentlich zugleich vom Style. Mit diesem Hinausgreifen in die streng realen Stoffe wird derselbe natürlich in die Länge nicht die Reinheit bewahren, die er in der Lysippischen
zu unterſcheiden, von denen die zweite mitten in die Hauptfrage über alle weitere Geſchichte unſerer Kunſt hineinführt. Die Hinwendung zu jener Anmuth im engeren Sinn, die von der erhabenen Grazie als eine be- ſondere Geſtalt ſich unterſcheidet und nach und nach in den falſchen Reiz übergeht, die Entfeßlung eines Grads von Affect, der haarſcharf an der Grenze des Plaſtiſchen hingleitet, zu einer bewußten, theatraliſch gemah- nenden Beziehung auf den Zuſchauer (die bezeichnenden Werke vergl. zu §. 531 S. 137) iſt die eine Seite. Nun aber iſt zugleich eine ganz ſpe- zifiſche Erweiterung des Stoffes durch die Lyſippiſche Schule eingetreten: der unmittelbar, in voller Nähe gegebene geſchichtliche Stoff iſt, neben einem vielfältigeren Genre, in einem vorher unbekannten, als unzuläſſig betrachteten Umfange in die Kunſt hereingezogen worden; den vielen Por- trätbildungen, namentlich Alexanders d. Gr., ſo wie den Gruppen aus ſeiner Geſchichte folgen dann weiter jene Keltenſchlachten der Schule von Pergamon; dieß iſt die andere Seite. Wir ſehen dabei von der Schmei- chelei ab, ebenſo vom Style, der zunächſt noch rein plaſtiſch, vergöttli- chend bleibt und ſich dieſe Reinheit namentlich auch in der Fortbildung des Herkules-Ideals bewahrt. Im Schluß der Anm. zu §. 531 durfte in dieſer Wendung ebenſoſehr der Keim eines neuen, wie die Auflöſung eines beſtehenden Ideals, erkannt werden, denn da handelte es ſich von allen Künſten, und wiefern die Plaſtik hier aufhöre, muſtergebendes Beiſpiel zu ſein, war nicht der Ort zu verfolgen. Jetzt aber, da wir das Weſen dieſer Kunſt erörtert haben, leuchtet ein, daß in ihrem Gebiete das ſtärkere Aufkommen des Genre, des Bildniſſes und der Profange- ſchichte nicht auf ein neues, der Zukunft vorbehaltenes Ideal ſo hinaus- deuten kann, wie wir bei der Malerei finden werden, wenn ſie ſich zwei- mal am Schluß einer Hauptperiode, der antiken und dann der mittelal- terlichen, ebenſo dem weltlichen Gebiet öffnet. An dieſer Frage nun hängt die fernere Geſchichte der Bildnerkunſt; die Oeffnung nach dem weltlichen Gebiete führt weiter und weiter bis zu dem götterloſen modernen Ideal: kann in dieſem eine weſentlich Götterbildende Kunſt wie die Plaſtik eine neue Blüthe oder nur eine Nachblüthe treiben, oder hat ſie überhaupt noch Lebensfähigkeit? Nach Allem, was in der Lehre vom Weſen und den Zweigen derſelben entwickelt iſt, können wir nun bereits ſo viel ſagen: ſie wird noch leben können, aber nur mit Einem Lungenflügel. Das Ge- fäß iſt jetzt übergelaufen: was noch darin iſt (Götterbildende Plaſtik, ſo- fern ein Reſt von ihr im entgötterten Ideale möglich bleibt), iſt zu wenig, und was hinausgeſprungen (profanmenſchliche, profangeſchichtliche), iſt nicht mehr gefaßt. Es handelt ſich aber weſentlich zugleich vom Style. Mit dieſem Hinausgreifen in die ſtreng realen Stoffe wird derſelbe natürlich in die Länge nicht die Reinheit bewahren, die er in der Lyſippiſchen
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zu unterſcheiden, von denen die zweite mitten in die Hauptfrage über
alle weitere Geſchichte unſerer Kunſt hineinführt. Die Hinwendung zu
jener Anmuth im engeren Sinn, die von der erhabenen Grazie als eine be-
ſondere Geſtalt ſich unterſcheidet und nach und nach in den falſchen Reiz
übergeht, die Entfeßlung eines Grads von Affect, der haarſcharf an der
Grenze des Plaſtiſchen hingleitet, zu einer bewußten, theatraliſch gemah-
nenden Beziehung auf den Zuſchauer (die bezeichnenden Werke vergl. zu
§. 531 S. 137) iſt die eine Seite. Nun aber iſt zugleich eine ganz ſpe-
zifiſche Erweiterung des Stoffes durch die Lyſippiſche Schule eingetreten:
der unmittelbar, in voller Nähe gegebene geſchichtliche Stoff iſt, neben
einem vielfältigeren Genre, in einem vorher unbekannten, als unzuläſſig
betrachteten Umfange in die Kunſt hereingezogen worden; den vielen Por-
trätbildungen, namentlich Alexanders d. Gr., ſo wie den Gruppen aus
ſeiner Geſchichte folgen dann weiter jene Keltenſchlachten der Schule von
Pergamon; dieß iſt die andere Seite. Wir ſehen dabei von der Schmei-
chelei ab, ebenſo vom Style, der zunächſt noch rein plaſtiſch, vergöttli-
chend bleibt und ſich dieſe Reinheit namentlich auch in der Fortbildung
des Herkules-Ideals bewahrt. Im Schluß der Anm. zu §. 531 durfte
in dieſer Wendung ebenſoſehr der Keim eines neuen, wie die Auflöſung
eines beſtehenden Ideals, erkannt werden, denn da handelte es ſich von
allen Künſten, und wiefern die Plaſtik hier aufhöre, muſtergebendes
Beiſpiel zu ſein, war nicht der Ort zu verfolgen. Jetzt aber, da wir das
Weſen dieſer Kunſt erörtert haben, leuchtet ein, daß in ihrem Gebiete
das ſtärkere Aufkommen des Genre, des Bildniſſes und der Profange-
ſchichte nicht auf ein neues, der Zukunft vorbehaltenes Ideal ſo hinaus-
deuten kann, wie wir bei der Malerei finden werden, wenn ſie ſich zwei-
mal am Schluß einer Hauptperiode, der antiken und dann der mittelal-
terlichen, ebenſo dem weltlichen Gebiet öffnet. An dieſer Frage nun hängt
die fernere Geſchichte der Bildnerkunſt; die Oeffnung nach dem weltlichen
Gebiete führt weiter und weiter bis zu dem götterloſen modernen Ideal:
kann in dieſem eine weſentlich Götterbildende Kunſt wie die Plaſtik eine
neue Blüthe oder nur eine Nachblüthe treiben, oder hat ſie überhaupt noch
Lebensfähigkeit? Nach Allem, was in der Lehre vom Weſen und den
Zweigen derſelben entwickelt iſt, können wir nun bereits ſo viel ſagen:
ſie wird noch leben können, aber nur mit Einem Lungenflügel. Das Ge-
fäß iſt jetzt übergelaufen: was noch darin iſt (Götterbildende Plaſtik, ſo-
fern ein Reſt von ihr im entgötterten Ideale möglich bleibt), iſt zu wenig,
und was hinausgeſprungen (profanmenſchliche, profangeſchichtliche), iſt nicht
mehr gefaßt. Es handelt ſich aber weſentlich zugleich vom Style. Mit
dieſem Hinausgreifen in die ſtreng realen Stoffe wird derſelbe natürlich
in die Länge nicht die Reinheit bewahren, die er in der Lyſippiſchen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/154>, abgerufen am 07.07.2024.
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