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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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mand, sondern Meleager, die Dioskuren, Aphrodite; das Tüchtige, was
die schöne Menschen-Natur in allen diesen Situationen entwickelt, das
Bleibende, Gattungsmäßige heißt göttlich und gilt nun nicht mehr als
bloßes Genre. In der romantischen Kunst ist dieß nicht so, nur das Höhere,
Geistige ist vom Zweige des Genre weggezogen in das mythische Gebiet
hinüber. Als Ethos, Pathos im Sinn des Charakters führt aber auch die
Plastik das höhere Geistesleben in der Form einer bestimmten Gottheit auf.
Dennoch unterscheidet auch sie. Sie stellt dieselbe Form, Situation, Be-
schäftigung, die sie unter dem Namen einer Gottheit, eines Heros auf-
zuführen liebt, ein andermal auch ohne diese höhere Autorität, allgemein
rein menschlich dar. Da fühlt man denn erst ganz deutlich, wie hier
Alles auf die feine Belauschung des bleibend Eigenthümlichen einer Le-
bensform: Kind, Jungfrau, Jüngling, Mann u. s. w., Fischen, Jagen,
einen Dorn aus dem Fuß Ziehen, sich mit Oel Salben, Sandalen Anle-
gen, eine Ehrenbinde als Sieger Umlegen u. s. w. ankommt. Es liegt
tief in der plastischen Anschauung, daß die einfachsten, harmlosesten, schein-
bar rein sinnlichen Aeußerungen, Zustände des Menschen als etwas Rech-
tes, Gutes, Wesentliches behandelt werden. Unter den Neueren hat da-
für namentlich Göthe das Gefühl gehabt, man vergl. die homerisch schöne
Stelle über das Wasserholen in Werthers Leiden und die Aeußerung über
das naive Motiv einer alten Gemme, worauf ein Greis einen Knaben trin-
ken läßt, Eckerm. Gespr. Th. I, S. 113. Immer jedoch wird auch die ge-
wöhnliche Natur, welche nicht von der für Geschichte gehaltenen Sage
und mythischen Vorstellung verzeichnet ist, so würdig und mackellos be-
handelt, daß sie zum Olymp erhoben scheint, und diese vergöttlichende
Kraft der Bildnerkunst, wie sie schon in §. 606 und dann an verschie-
denen Stellen wieder ausgesprochen worden, ist Ursache, daß man in
dieser Kunst von Genre überhaupt nicht zu sprechen gewohnt ist.

4. Daß das Geschichtliche in schmale Grenzen eingeschränkt ist, wurde
in §. 615 aus der nothwendigen Enge des Spielraums abgeleitet, den
das Individuelle hat; es kommt dazu als weiteres Hinderniß die nöthige
Sparsamkeit der Figurenzahl §. 601 und der mangelnde Hintergrund
§. 599. Allein auch in Beziehung auf dieses Gebiet ist hier nicht mehr
von den Hemmnissen, welche die technische Bedingung und das Stylge-
setz in den Weg legt, sondern von dem Positiven die Rede, was an die
Stelle des Verdrängten tritt. Dieß ist wiederum der Mythus; die zwei
Ableitungsbette, worein nach der vorhergehenden Anm. das Genregebiet
einen Theil seines Stoffes abgibt, vereinigen sich in der Plastik so, daß
eben diesem fast Alles zufließt. Es ist höchst merkwürdig, wie im Al-
terthum der Mythus, insbesondere die Heroensage, namentlich für die
Geschichte vicarirt; z. B. die Perserkämpfe, ein doch so günstiger Stoff,

mand, ſondern Meleager, die Dioſkuren, Aphrodite; das Tüchtige, was
die ſchöne Menſchen-Natur in allen dieſen Situationen entwickelt, das
Bleibende, Gattungsmäßige heißt göttlich und gilt nun nicht mehr als
bloßes Genre. In der romantiſchen Kunſt iſt dieß nicht ſo, nur das Höhere,
Geiſtige iſt vom Zweige des Genre weggezogen in das mythiſche Gebiet
hinüber. Als Ethos, Pathos im Sinn des Charakters führt aber auch die
Plaſtik das höhere Geiſtesleben in der Form einer beſtimmten Gottheit auf.
Dennoch unterſcheidet auch ſie. Sie ſtellt dieſelbe Form, Situation, Be-
ſchäftigung, die ſie unter dem Namen einer Gottheit, eines Heros auf-
zuführen liebt, ein andermal auch ohne dieſe höhere Autorität, allgemein
rein menſchlich dar. Da fühlt man denn erſt ganz deutlich, wie hier
Alles auf die feine Belauſchung des bleibend Eigenthümlichen einer Le-
bensform: Kind, Jungfrau, Jüngling, Mann u. ſ. w., Fiſchen, Jagen,
einen Dorn aus dem Fuß Ziehen, ſich mit Oel Salben, Sandalen Anle-
gen, eine Ehrenbinde als Sieger Umlegen u. ſ. w. ankommt. Es liegt
tief in der plaſtiſchen Anſchauung, daß die einfachſten, harmloſeſten, ſchein-
bar rein ſinnlichen Aeußerungen, Zuſtände des Menſchen als etwas Rech-
tes, Gutes, Weſentliches behandelt werden. Unter den Neueren hat da-
für namentlich Göthe das Gefühl gehabt, man vergl. die homeriſch ſchöne
Stelle über das Waſſerholen in Werthers Leiden und die Aeußerung über
das naive Motiv einer alten Gemme, worauf ein Greis einen Knaben trin-
ken läßt, Eckerm. Geſpr. Th. I, S. 113. Immer jedoch wird auch die ge-
wöhnliche Natur, welche nicht von der für Geſchichte gehaltenen Sage
und mythiſchen Vorſtellung verzeichnet iſt, ſo würdig und mackellos be-
handelt, daß ſie zum Olymp erhoben ſcheint, und dieſe vergöttlichende
Kraft der Bildnerkunſt, wie ſie ſchon in §. 606 und dann an verſchie-
denen Stellen wieder ausgeſprochen worden, iſt Urſache, daß man in
dieſer Kunſt von Genre überhaupt nicht zu ſprechen gewohnt iſt.

4. Daß das Geſchichtliche in ſchmale Grenzen eingeſchränkt iſt, wurde
in §. 615 aus der nothwendigen Enge des Spielraums abgeleitet, den
das Individuelle hat; es kommt dazu als weiteres Hinderniß die nöthige
Sparſamkeit der Figurenzahl §. 601 und der mangelnde Hintergrund
§. 599. Allein auch in Beziehung auf dieſes Gebiet iſt hier nicht mehr
von den Hemmniſſen, welche die techniſche Bedingung und das Stylge-
ſetz in den Weg legt, ſondern von dem Poſitiven die Rede, was an die
Stelle des Verdrängten tritt. Dieß iſt wiederum der Mythus; die zwei
Ableitungsbette, worein nach der vorhergehenden Anm. das Genregebiet
einen Theil ſeines Stoffes abgibt, vereinigen ſich in der Plaſtik ſo, daß
eben dieſem faſt Alles zufließt. Es iſt höchſt merkwürdig, wie im Al-
terthum der Mythus, insbeſondere die Heroenſage, namentlich für die
Geſchichte vicarirt; z. B. die Perſerkämpfe, ein doch ſo günſtiger Stoff,

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[459/0133] mand, ſondern Meleager, die Dioſkuren, Aphrodite; das Tüchtige, was die ſchöne Menſchen-Natur in allen dieſen Situationen entwickelt, das Bleibende, Gattungsmäßige heißt göttlich und gilt nun nicht mehr als bloßes Genre. In der romantiſchen Kunſt iſt dieß nicht ſo, nur das Höhere, Geiſtige iſt vom Zweige des Genre weggezogen in das mythiſche Gebiet hinüber. Als Ethos, Pathos im Sinn des Charakters führt aber auch die Plaſtik das höhere Geiſtesleben in der Form einer beſtimmten Gottheit auf. Dennoch unterſcheidet auch ſie. Sie ſtellt dieſelbe Form, Situation, Be- ſchäftigung, die ſie unter dem Namen einer Gottheit, eines Heros auf- zuführen liebt, ein andermal auch ohne dieſe höhere Autorität, allgemein rein menſchlich dar. Da fühlt man denn erſt ganz deutlich, wie hier Alles auf die feine Belauſchung des bleibend Eigenthümlichen einer Le- bensform: Kind, Jungfrau, Jüngling, Mann u. ſ. w., Fiſchen, Jagen, einen Dorn aus dem Fuß Ziehen, ſich mit Oel Salben, Sandalen Anle- gen, eine Ehrenbinde als Sieger Umlegen u. ſ. w. ankommt. Es liegt tief in der plaſtiſchen Anſchauung, daß die einfachſten, harmloſeſten, ſchein- bar rein ſinnlichen Aeußerungen, Zuſtände des Menſchen als etwas Rech- tes, Gutes, Weſentliches behandelt werden. Unter den Neueren hat da- für namentlich Göthe das Gefühl gehabt, man vergl. die homeriſch ſchöne Stelle über das Waſſerholen in Werthers Leiden und die Aeußerung über das naive Motiv einer alten Gemme, worauf ein Greis einen Knaben trin- ken läßt, Eckerm. Geſpr. Th. I, S. 113. Immer jedoch wird auch die ge- wöhnliche Natur, welche nicht von der für Geſchichte gehaltenen Sage und mythiſchen Vorſtellung verzeichnet iſt, ſo würdig und mackellos be- handelt, daß ſie zum Olymp erhoben ſcheint, und dieſe vergöttlichende Kraft der Bildnerkunſt, wie ſie ſchon in §. 606 und dann an verſchie- denen Stellen wieder ausgeſprochen worden, iſt Urſache, daß man in dieſer Kunſt von Genre überhaupt nicht zu ſprechen gewohnt iſt. 4. Daß das Geſchichtliche in ſchmale Grenzen eingeſchränkt iſt, wurde in §. 615 aus der nothwendigen Enge des Spielraums abgeleitet, den das Individuelle hat; es kommt dazu als weiteres Hinderniß die nöthige Sparſamkeit der Figurenzahl §. 601 und der mangelnde Hintergrund §. 599. Allein auch in Beziehung auf dieſes Gebiet iſt hier nicht mehr von den Hemmniſſen, welche die techniſche Bedingung und das Stylge- ſetz in den Weg legt, ſondern von dem Poſitiven die Rede, was an die Stelle des Verdrängten tritt. Dieß iſt wiederum der Mythus; die zwei Ableitungsbette, worein nach der vorhergehenden Anm. das Genregebiet einen Theil ſeines Stoffes abgibt, vereinigen ſich in der Plaſtik ſo, daß eben dieſem faſt Alles zufließt. Es iſt höchſt merkwürdig, wie im Al- terthum der Mythus, insbeſondere die Heroenſage, namentlich für die Geſchichte vicarirt; z. B. die Perſerkämpfe, ein doch ſo günſtiger Stoff,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/133>, abgerufen am 24.11.2024.