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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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des immer gleich fließenden Lebens sich mit Namen und Zahl einzeichnet.
In der geschichtlichen Handlung kommt an sich nichts Anderes zur Er-
scheinung, als das Allgemeine, die gattungsmäßigen Kräfte des Men-
schen, allein der Unterschied ist eben, ob sie sich zu der Spitze der That
zusammenfassen, welche sich geschichtlich verewigt, oder nicht. Nun kön-
nen allerdings geschichtlich bekannte Menschen auch in Momenten darge-
stellt werden, wo sie nichts von dem thun, was die Geschichte von ihnen
aufgezeichnet hat, sondern nur allgemein Menschliches an ihnen zur Er-
scheinung kommt; dann aber ist es doch nicht reines Genre, was ent-
steht, sondern ein Gemischtes, von welchem bei der Malerei näher die
Rede sein wird. Diese, ganz objectiv begründete, Seite des Stoff-Ab-
flusses ist es aber nicht, was uns im gegenwärtigen Zusammenhang be-
schäftigt, sondern das andere der Abzug-Gebiete, Sage (auf die Geschichte
zurückweisend, worauf sie ruht) und Mythus. Der höchste, edelste Ge-
halt aus jenem ursprünglichen Stoffgebiete ist von den Völkern vor aller
Geschichte im Mythus hypostasirt. Wir sind nun diesem noch heute nicht so
entwachsen, daß er uns nicht das Genre-Gebiet entschieden verengte, indem
wir mythische Gestalten durch eine gewohnte Verwechslung zur Geschichte
schlagen. So gilt z. B. im romantischen Ideal, das im modernen noch
nicht ganz ausgeschieden ist, ein Weib in verschiedenen Momenten be-
schränkterer Aeußerung des Charakters für Genre, dagegen das reine
Weib, das als Braut, Frau, Mutter, Jungfrau bleibt, für ein beson-
deres, zwar transcendentes, aber doch geschichtliches, nämlich Maria.
Daneben kann aber doch ein Maler auch ein Weib darstellen so hoch und
rein im Ausdruck, daß sie werth wäre, eine Maria zu sein, und nur
gewisse Attribute, ständige Bezeichnungen fehlen, sie dazu zu machen; also
wird der Stoff neben der Ausleihung an den Mythus auch wieder be-
halten und kommt so zweimal vor. In der Plastik nun sind ebenso alle
Götter, Genien, Heroen ein Stoff, der eigentlich dem Genre in dieser
an sich richtigen Ausdehnung des Begriffes angehört, aber der Glaube,
daß sie leben oder gelebt haben, zieht sie hinweg aus diesem Gebiete zu
einem jenseitigen Kreis, der eine Art höherer Geschichte darstellt. Und
diese Anschauung ist hier so stark, daß diese Kunst auch die weniger ge-
wichtigen Formen und Zustände des Lebens in der Gediegenheit und
Schönheit ihrer Naivetät nur dann zu würdigen glaubt, wenn sie die-
selben an Heroen, Halbgöttern, Göttern darstellt, was dann eben nicht
Genre heißt, sondern ein Gemischtes ist, wie oben von ebenso aufgefaß-
ten geschichtlichen Stoffen gesagt worden. Es kommt z. B. darauf an, den
Mann zu belauschen und nachzubilden, wie er sich darstellt, wenn er
Thiere in der Jagd bezwingt, das Pferd bändigt, oder das Weib, wie
es in's Bad steigt, sich schmückt: aber es ist nicht ein unbestimmter Je-

des immer gleich fließenden Lebens ſich mit Namen und Zahl einzeichnet.
In der geſchichtlichen Handlung kommt an ſich nichts Anderes zur Er-
ſcheinung, als das Allgemeine, die gattungsmäßigen Kräfte des Men-
ſchen, allein der Unterſchied iſt eben, ob ſie ſich zu der Spitze der That
zuſammenfaſſen, welche ſich geſchichtlich verewigt, oder nicht. Nun kön-
nen allerdings geſchichtlich bekannte Menſchen auch in Momenten darge-
ſtellt werden, wo ſie nichts von dem thun, was die Geſchichte von ihnen
aufgezeichnet hat, ſondern nur allgemein Menſchliches an ihnen zur Er-
ſcheinung kommt; dann aber iſt es doch nicht reines Genre, was ent-
ſteht, ſondern ein Gemiſchtes, von welchem bei der Malerei näher die
Rede ſein wird. Dieſe, ganz objectiv begründete, Seite des Stoff-Ab-
fluſſes iſt es aber nicht, was uns im gegenwärtigen Zuſammenhang be-
ſchäftigt, ſondern das andere der Abzug-Gebiete, Sage (auf die Geſchichte
zurückweiſend, worauf ſie ruht) und Mythus. Der höchſte, edelſte Ge-
halt aus jenem urſprünglichen Stoffgebiete iſt von den Völkern vor aller
Geſchichte im Mythus hypoſtaſirt. Wir ſind nun dieſem noch heute nicht ſo
entwachſen, daß er uns nicht das Genre-Gebiet entſchieden verengte, indem
wir mythiſche Geſtalten durch eine gewohnte Verwechslung zur Geſchichte
ſchlagen. So gilt z. B. im romantiſchen Ideal, das im modernen noch
nicht ganz ausgeſchieden iſt, ein Weib in verſchiedenen Momenten be-
ſchränkterer Aeußerung des Charakters für Genre, dagegen das reine
Weib, das als Braut, Frau, Mutter, Jungfrau bleibt, für ein beſon-
deres, zwar tranſcendentes, aber doch geſchichtliches, nämlich Maria.
Daneben kann aber doch ein Maler auch ein Weib darſtellen ſo hoch und
rein im Ausdruck, daß ſie werth wäre, eine Maria zu ſein, und nur
gewiſſe Attribute, ſtändige Bezeichnungen fehlen, ſie dazu zu machen; alſo
wird der Stoff neben der Ausleihung an den Mythus auch wieder be-
halten und kommt ſo zweimal vor. In der Plaſtik nun ſind ebenſo alle
Götter, Genien, Heroen ein Stoff, der eigentlich dem Genre in dieſer
an ſich richtigen Ausdehnung des Begriffes angehört, aber der Glaube,
daß ſie leben oder gelebt haben, zieht ſie hinweg aus dieſem Gebiete zu
einem jenſeitigen Kreis, der eine Art höherer Geſchichte darſtellt. Und
dieſe Anſchauung iſt hier ſo ſtark, daß dieſe Kunſt auch die weniger ge-
wichtigen Formen und Zuſtände des Lebens in der Gediegenheit und
Schönheit ihrer Naivetät nur dann zu würdigen glaubt, wenn ſie die-
ſelben an Heroen, Halbgöttern, Göttern darſtellt, was dann eben nicht
Genre heißt, ſondern ein Gemiſchtes iſt, wie oben von ebenſo aufgefaß-
ten geſchichtlichen Stoffen geſagt worden. Es kommt z. B. darauf an, den
Mann zu belauſchen und nachzubilden, wie er ſich darſtellt, wenn er
Thiere in der Jagd bezwingt, das Pferd bändigt, oder das Weib, wie
es in’s Bad ſteigt, ſich ſchmückt: aber es iſt nicht ein unbeſtimmter Je-

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[458/0132] des immer gleich fließenden Lebens ſich mit Namen und Zahl einzeichnet. In der geſchichtlichen Handlung kommt an ſich nichts Anderes zur Er- ſcheinung, als das Allgemeine, die gattungsmäßigen Kräfte des Men- ſchen, allein der Unterſchied iſt eben, ob ſie ſich zu der Spitze der That zuſammenfaſſen, welche ſich geſchichtlich verewigt, oder nicht. Nun kön- nen allerdings geſchichtlich bekannte Menſchen auch in Momenten darge- ſtellt werden, wo ſie nichts von dem thun, was die Geſchichte von ihnen aufgezeichnet hat, ſondern nur allgemein Menſchliches an ihnen zur Er- ſcheinung kommt; dann aber iſt es doch nicht reines Genre, was ent- ſteht, ſondern ein Gemiſchtes, von welchem bei der Malerei näher die Rede ſein wird. Dieſe, ganz objectiv begründete, Seite des Stoff-Ab- fluſſes iſt es aber nicht, was uns im gegenwärtigen Zuſammenhang be- ſchäftigt, ſondern das andere der Abzug-Gebiete, Sage (auf die Geſchichte zurückweiſend, worauf ſie ruht) und Mythus. Der höchſte, edelſte Ge- halt aus jenem urſprünglichen Stoffgebiete iſt von den Völkern vor aller Geſchichte im Mythus hypoſtaſirt. Wir ſind nun dieſem noch heute nicht ſo entwachſen, daß er uns nicht das Genre-Gebiet entſchieden verengte, indem wir mythiſche Geſtalten durch eine gewohnte Verwechslung zur Geſchichte ſchlagen. So gilt z. B. im romantiſchen Ideal, das im modernen noch nicht ganz ausgeſchieden iſt, ein Weib in verſchiedenen Momenten be- ſchränkterer Aeußerung des Charakters für Genre, dagegen das reine Weib, das als Braut, Frau, Mutter, Jungfrau bleibt, für ein beſon- deres, zwar tranſcendentes, aber doch geſchichtliches, nämlich Maria. Daneben kann aber doch ein Maler auch ein Weib darſtellen ſo hoch und rein im Ausdruck, daß ſie werth wäre, eine Maria zu ſein, und nur gewiſſe Attribute, ſtändige Bezeichnungen fehlen, ſie dazu zu machen; alſo wird der Stoff neben der Ausleihung an den Mythus auch wieder be- halten und kommt ſo zweimal vor. In der Plaſtik nun ſind ebenſo alle Götter, Genien, Heroen ein Stoff, der eigentlich dem Genre in dieſer an ſich richtigen Ausdehnung des Begriffes angehört, aber der Glaube, daß ſie leben oder gelebt haben, zieht ſie hinweg aus dieſem Gebiete zu einem jenſeitigen Kreis, der eine Art höherer Geſchichte darſtellt. Und dieſe Anſchauung iſt hier ſo ſtark, daß dieſe Kunſt auch die weniger ge- wichtigen Formen und Zuſtände des Lebens in der Gediegenheit und Schönheit ihrer Naivetät nur dann zu würdigen glaubt, wenn ſie die- ſelben an Heroen, Halbgöttern, Göttern darſtellt, was dann eben nicht Genre heißt, ſondern ein Gemiſchtes iſt, wie oben von ebenſo aufgefaß- ten geſchichtlichen Stoffen geſagt worden. Es kommt z. B. darauf an, den Mann zu belauſchen und nachzubilden, wie er ſich darſtellt, wenn er Thiere in der Jagd bezwingt, das Pferd bändigt, oder das Weib, wie es in’s Bad ſteigt, ſich ſchmückt: aber es iſt nicht ein unbeſtimmter Je-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/132>, abgerufen am 24.11.2024.