Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

solcher Wesen bedürfen aus demselben Grunde, warum ihrer die Grie-
chen bedurften: aus dem Grunde der Nothwendigkeit der oben genannten
Ablagerung, die sich mit dem Prinzip symbolischer Abbreviatur einer gan-
zen Sphäre von Erscheinungen, Vorstellungen vereinigt. Was die wirk-
lichen Thiere betrifft, so wird es immer Künstler geben, die vorzüglich
auf diese Sphäre durch ihr Talent bezogen sind, woneben sie von der
menschlichen Sphäre etwa namentlich noch das Heroische ergreifen, wie
ein Myron bei den Alten, ein Kiß in der neuern Zeit. Einzelne mögen
auch ihre Kraft mehr in einzelnen Thierarten haben.

3. Das Thierbild ist bereits Genrebild, so wie es sich nicht um
Darstellung bestimmter, von der Sage vermeldeter Thiere handelt, son-
dern Formen, Bewegungen, Gewohnheiten, Charakter einer Thierart an
sich Zweck der künstlerischen Darstellung sind. Da aber der Mensch Haupt-
gegenstand der Kunst, insbesondere der Bildnerkunst ist, so denkt man
bei dem sogenannten Genre mehr an das menschliche Leben. Eigentlich
umfaßt nun dieser Zweig allen und jeden Stoff, sofern darin der Mensch
nicht dargestellt ist in Personen und Momenten, die entweder die wirk-
liche Geschichte oder die für Geschichte gehaltene Sage und Mythe aufge-
zeichnet, in dem Gedächtniß der Menschen festgestellt hat. Wenn man meint,
diese negative Grenzbezeichnung umfasse positiv ein zu weites Gebiet, so
ist dieß nur deßwegen, weil man die höhern Kräfte des menschlichen Le-
bens, sofern sie nicht in Thaten sich Ausdruck gegeben, die in die Gedenk-
bücher der eigentlichen Geschichte sich eingegraben, einem höhern Zweige
zuzuweisen gewohnt ist, eben dem mythischen nämlich, den man dann in
Weise des entsprechenden Bewußtseins wie eine Art höherer Geschichte
ansieht. Dieß ist Irrthum; dieser höhere Theil der allgemeinen Stoffe
kommt vielmehr, wo das Bewußtsein mythisch bestimmt ist, zweimal vor,
im Mythus und außer dem Mythus. Die Sache verhält sich so: Genre
heißt eigentlich ein Allgemeines, Gattungsmäßiges, und es begreift in sich
jede Lebensform, seien es mehr anthropologisch die Formen der Alters-
stufen, Zustände, Geschlechter, oder mehr bezüglich auf Sitte das Thun
und Treiben, Genuß, Spiel, momentane oder stehende Beschäftigung,
also das Gebaren der Stände, oder ernster bewegtes Spiel, d. h. Kampf-
spiel, oder Zustände und Handlungen der Empfindung in Liebe, Ehe,
Familie, Freundschaft, oder gewaltsamer Affect, z. B. im kriegerischen
Kampfe, oder Erhebung der Seele im Gottesdienst, oder endlich der Cha-
rakter und seine Kämpfe in jedem Sinn, auf jeder Stufe: Alles dieß,
so groß oder klein es sein mag, in seiner ganzen Eigenthümlichkeit be-
lauscht und so dargestellt heißt Genre. Dieses umfassende Gebiet hat nun
aber einen großen Theil seines Stoffes an zwei andere abgeben müssen.
Das eine ist die Geschichte, in deren Annalen ein Theil der Erscheinungen

ſolcher Weſen bedürfen aus demſelben Grunde, warum ihrer die Grie-
chen bedurften: aus dem Grunde der Nothwendigkeit der oben genannten
Ablagerung, die ſich mit dem Prinzip ſymboliſcher Abbreviatur einer gan-
zen Sphäre von Erſcheinungen, Vorſtellungen vereinigt. Was die wirk-
lichen Thiere betrifft, ſo wird es immer Künſtler geben, die vorzüglich
auf dieſe Sphäre durch ihr Talent bezogen ſind, woneben ſie von der
menſchlichen Sphäre etwa namentlich noch das Heroiſche ergreifen, wie
ein Myron bei den Alten, ein Kiß in der neuern Zeit. Einzelne mögen
auch ihre Kraft mehr in einzelnen Thierarten haben.

3. Das Thierbild iſt bereits Genrebild, ſo wie es ſich nicht um
Darſtellung beſtimmter, von der Sage vermeldeter Thiere handelt, ſon-
dern Formen, Bewegungen, Gewohnheiten, Charakter einer Thierart an
ſich Zweck der künſtleriſchen Darſtellung ſind. Da aber der Menſch Haupt-
gegenſtand der Kunſt, insbeſondere der Bildnerkunſt iſt, ſo denkt man
bei dem ſogenannten Genre mehr an das menſchliche Leben. Eigentlich
umfaßt nun dieſer Zweig allen und jeden Stoff, ſofern darin der Menſch
nicht dargeſtellt iſt in Perſonen und Momenten, die entweder die wirk-
liche Geſchichte oder die für Geſchichte gehaltene Sage und Mythe aufge-
zeichnet, in dem Gedächtniß der Menſchen feſtgeſtellt hat. Wenn man meint,
dieſe negative Grenzbezeichnung umfaſſe poſitiv ein zu weites Gebiet, ſo
iſt dieß nur deßwegen, weil man die höhern Kräfte des menſchlichen Le-
bens, ſofern ſie nicht in Thaten ſich Ausdruck gegeben, die in die Gedenk-
bücher der eigentlichen Geſchichte ſich eingegraben, einem höhern Zweige
zuzuweiſen gewohnt iſt, eben dem mythiſchen nämlich, den man dann in
Weiſe des entſprechenden Bewußtſeins wie eine Art höherer Geſchichte
anſieht. Dieß iſt Irrthum; dieſer höhere Theil der allgemeinen Stoffe
kommt vielmehr, wo das Bewußtſein mythiſch beſtimmt iſt, zweimal vor,
im Mythus und außer dem Mythus. Die Sache verhält ſich ſo: Genre
heißt eigentlich ein Allgemeines, Gattungsmäßiges, und es begreift in ſich
jede Lebensform, ſeien es mehr anthropologiſch die Formen der Alters-
ſtufen, Zuſtände, Geſchlechter, oder mehr bezüglich auf Sitte das Thun
und Treiben, Genuß, Spiel, momentane oder ſtehende Beſchäftigung,
alſo das Gebaren der Stände, oder ernſter bewegtes Spiel, d. h. Kampf-
ſpiel, oder Zuſtände und Handlungen der Empfindung in Liebe, Ehe,
Familie, Freundſchaft, oder gewaltſamer Affect, z. B. im kriegeriſchen
Kampfe, oder Erhebung der Seele im Gottesdienſt, oder endlich der Cha-
rakter und ſeine Kämpfe in jedem Sinn, auf jeder Stufe: Alles dieß,
ſo groß oder klein es ſein mag, in ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit be-
lauſcht und ſo dargeſtellt heißt Genre. Dieſes umfaſſende Gebiet hat nun
aber einen großen Theil ſeines Stoffes an zwei andere abgeben müſſen.
Das eine iſt die Geſchichte, in deren Annalen ein Theil der Erſcheinungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0131" n="457"/>
&#x017F;olcher We&#x017F;en bedürfen aus dem&#x017F;elben Grunde, warum ihrer die Grie-<lb/>
chen bedurften: aus dem Grunde der Nothwendigkeit der oben genannten<lb/>
Ablagerung, die &#x017F;ich mit dem Prinzip &#x017F;ymboli&#x017F;cher Abbreviatur einer gan-<lb/>
zen Sphäre von Er&#x017F;cheinungen, Vor&#x017F;tellungen vereinigt. Was die wirk-<lb/>
lichen Thiere betrifft, &#x017F;o wird es immer Kün&#x017F;tler geben, die vorzüglich<lb/>
auf die&#x017F;e Sphäre durch ihr Talent bezogen &#x017F;ind, woneben &#x017F;ie von der<lb/>
men&#x017F;chlichen Sphäre etwa namentlich noch das Heroi&#x017F;che ergreifen, wie<lb/>
ein Myron bei den Alten, ein Kiß in der neuern Zeit. Einzelne mögen<lb/>
auch ihre Kraft mehr in einzelnen Thierarten haben.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">3. Das Thierbild i&#x017F;t bereits Genrebild, &#x017F;o wie es &#x017F;ich nicht um<lb/>
Dar&#x017F;tellung be&#x017F;timmter, von der Sage vermeldeter Thiere handelt, &#x017F;on-<lb/>
dern Formen, Bewegungen, Gewohnheiten, Charakter einer Thierart an<lb/>
&#x017F;ich Zweck der kün&#x017F;tleri&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung &#x017F;ind. Da aber der Men&#x017F;ch Haupt-<lb/>
gegen&#x017F;tand der Kun&#x017F;t, insbe&#x017F;ondere der Bildnerkun&#x017F;t i&#x017F;t, &#x017F;o denkt man<lb/>
bei dem &#x017F;ogenannten Genre mehr an das men&#x017F;chliche Leben. Eigentlich<lb/>
umfaßt nun die&#x017F;er Zweig allen und jeden Stoff, &#x017F;ofern darin der Men&#x017F;ch<lb/>
nicht darge&#x017F;tellt i&#x017F;t in Per&#x017F;onen und Momenten, die entweder die wirk-<lb/>
liche Ge&#x017F;chichte oder die für Ge&#x017F;chichte gehaltene Sage und Mythe aufge-<lb/>
zeichnet, in dem Gedächtniß der Men&#x017F;chen fe&#x017F;tge&#x017F;tellt hat. Wenn man meint,<lb/>
die&#x017F;e negative Grenzbezeichnung umfa&#x017F;&#x017F;e po&#x017F;itiv ein zu weites Gebiet, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t dieß nur deßwegen, weil man die höhern Kräfte des men&#x017F;chlichen Le-<lb/>
bens, &#x017F;ofern &#x017F;ie nicht in Thaten &#x017F;ich Ausdruck gegeben, die in die Gedenk-<lb/>
bücher der eigentlichen Ge&#x017F;chichte &#x017F;ich eingegraben, einem höhern Zweige<lb/>
zuzuwei&#x017F;en gewohnt i&#x017F;t, eben dem mythi&#x017F;chen nämlich, den man dann in<lb/>
Wei&#x017F;e des ent&#x017F;prechenden Bewußt&#x017F;eins wie eine Art höherer Ge&#x017F;chichte<lb/>
an&#x017F;ieht. Dieß i&#x017F;t Irrthum; die&#x017F;er höhere Theil der allgemeinen Stoffe<lb/>
kommt vielmehr, wo das Bewußt&#x017F;ein mythi&#x017F;ch be&#x017F;timmt i&#x017F;t, zweimal vor,<lb/>
im Mythus und außer dem Mythus. Die Sache verhält &#x017F;ich &#x017F;o: Genre<lb/>
heißt eigentlich ein Allgemeines, Gattungsmäßiges, und es begreift in &#x017F;ich<lb/>
jede Lebensform, &#x017F;eien es mehr anthropologi&#x017F;ch die Formen der Alters-<lb/>
&#x017F;tufen, Zu&#x017F;tände, Ge&#x017F;chlechter, oder mehr bezüglich auf Sitte das Thun<lb/>
und Treiben, Genuß, Spiel, momentane oder &#x017F;tehende Be&#x017F;chäftigung,<lb/>
al&#x017F;o das Gebaren der Stände, oder ern&#x017F;ter bewegtes Spiel, d. h. Kampf-<lb/>
&#x017F;piel, oder Zu&#x017F;tände und Handlungen der Empfindung in Liebe, Ehe,<lb/>
Familie, Freund&#x017F;chaft, oder gewalt&#x017F;amer Affect, z. B. im kriegeri&#x017F;chen<lb/>
Kampfe, oder Erhebung der Seele im Gottesdien&#x017F;t, oder endlich der Cha-<lb/>
rakter und &#x017F;eine Kämpfe in jedem Sinn, auf jeder Stufe: Alles dieß,<lb/>
&#x017F;o groß oder klein es &#x017F;ein mag, in &#x017F;einer ganzen Eigenthümlichkeit be-<lb/>
lau&#x017F;cht und &#x017F;o darge&#x017F;tellt heißt Genre. Die&#x017F;es umfa&#x017F;&#x017F;ende Gebiet hat nun<lb/>
aber einen großen Theil &#x017F;eines Stoffes an zwei andere abgeben mü&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Das eine i&#x017F;t die Ge&#x017F;chichte, in deren Annalen ein Theil der Er&#x017F;cheinungen<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[457/0131] ſolcher Weſen bedürfen aus demſelben Grunde, warum ihrer die Grie- chen bedurften: aus dem Grunde der Nothwendigkeit der oben genannten Ablagerung, die ſich mit dem Prinzip ſymboliſcher Abbreviatur einer gan- zen Sphäre von Erſcheinungen, Vorſtellungen vereinigt. Was die wirk- lichen Thiere betrifft, ſo wird es immer Künſtler geben, die vorzüglich auf dieſe Sphäre durch ihr Talent bezogen ſind, woneben ſie von der menſchlichen Sphäre etwa namentlich noch das Heroiſche ergreifen, wie ein Myron bei den Alten, ein Kiß in der neuern Zeit. Einzelne mögen auch ihre Kraft mehr in einzelnen Thierarten haben. 3. Das Thierbild iſt bereits Genrebild, ſo wie es ſich nicht um Darſtellung beſtimmter, von der Sage vermeldeter Thiere handelt, ſon- dern Formen, Bewegungen, Gewohnheiten, Charakter einer Thierart an ſich Zweck der künſtleriſchen Darſtellung ſind. Da aber der Menſch Haupt- gegenſtand der Kunſt, insbeſondere der Bildnerkunſt iſt, ſo denkt man bei dem ſogenannten Genre mehr an das menſchliche Leben. Eigentlich umfaßt nun dieſer Zweig allen und jeden Stoff, ſofern darin der Menſch nicht dargeſtellt iſt in Perſonen und Momenten, die entweder die wirk- liche Geſchichte oder die für Geſchichte gehaltene Sage und Mythe aufge- zeichnet, in dem Gedächtniß der Menſchen feſtgeſtellt hat. Wenn man meint, dieſe negative Grenzbezeichnung umfaſſe poſitiv ein zu weites Gebiet, ſo iſt dieß nur deßwegen, weil man die höhern Kräfte des menſchlichen Le- bens, ſofern ſie nicht in Thaten ſich Ausdruck gegeben, die in die Gedenk- bücher der eigentlichen Geſchichte ſich eingegraben, einem höhern Zweige zuzuweiſen gewohnt iſt, eben dem mythiſchen nämlich, den man dann in Weiſe des entſprechenden Bewußtſeins wie eine Art höherer Geſchichte anſieht. Dieß iſt Irrthum; dieſer höhere Theil der allgemeinen Stoffe kommt vielmehr, wo das Bewußtſein mythiſch beſtimmt iſt, zweimal vor, im Mythus und außer dem Mythus. Die Sache verhält ſich ſo: Genre heißt eigentlich ein Allgemeines, Gattungsmäßiges, und es begreift in ſich jede Lebensform, ſeien es mehr anthropologiſch die Formen der Alters- ſtufen, Zuſtände, Geſchlechter, oder mehr bezüglich auf Sitte das Thun und Treiben, Genuß, Spiel, momentane oder ſtehende Beſchäftigung, alſo das Gebaren der Stände, oder ernſter bewegtes Spiel, d. h. Kampf- ſpiel, oder Zuſtände und Handlungen der Empfindung in Liebe, Ehe, Familie, Freundſchaft, oder gewaltſamer Affect, z. B. im kriegeriſchen Kampfe, oder Erhebung der Seele im Gottesdienſt, oder endlich der Cha- rakter und ſeine Kämpfe in jedem Sinn, auf jeder Stufe: Alles dieß, ſo groß oder klein es ſein mag, in ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit be- lauſcht und ſo dargeſtellt heißt Genre. Dieſes umfaſſende Gebiet hat nun aber einen großen Theil ſeines Stoffes an zwei andere abgeben müſſen. Das eine iſt die Geſchichte, in deren Annalen ein Theil der Erſcheinungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/131
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/131>, abgerufen am 23.12.2024.