Antagonismus der Formen in Einem Leibe zusammendrängt; eigentlich ist aber doch mehr künstlerischer Gegensatz vorhanden, wo ein vollerer Un- terschied von Stufen der Handlung und zugleich Formen des Lebens die Figuren in der Verschlingung zugleich auseinander hält, wie in der mehrerwähnten Ludovisischen Gruppe das Auge von der schlaff nieder- hängenden schon getödteten Frau oder Tochter zu dem straffen, wilden, eben erst sich tödtenden Mann aufsteigt, um wieder zu jener milderen Form gerührter niederzusteigen, so daß dieses mildere Bild des Todes zugleich als Vorbereitung und Lösung zu dem gewaltsameren im Manne sich verhält. Gegensatz von Thier und Mensch im Kampf oder freund- lichen Verkehr bietet starken, aber weniger tiefen Contrast. Die vollere Gruppe wird sich naturgemäß zur Dreizahl der Figuren neigen, weil in dieser die Hauptmomente der Composition: Ueberordnung mit symmetrischer Unterordnung, Vorbereitung, höchster Gipfel, Lösung und darin das volle Le- ben und die Versöhnung der Contraste mit der ganzen Einfachheit und Spar- samkeit, welche diese Kunst fordert, sich entwickeln lassen; bei den Alten ging auch hierin das Schauspiel voran (vergl. Winkelmann G. d. K. Band 2, S. 178). Die Gruppe des farnesischen Stiers ist bekanntlich durch spätere Zuthat überladen. Kindergestalten, Thiere oder halbthierisch mythische Wesen werden am ehesten eine Gruppe über die Zwei- oder Dreizahl vermehren können (die berühmte große Gruppe des Skopas: Achilles und Thetis von Meeresgottheiten nach der Insel Leuke geführt, war wohl in aufgelöster Composition gehalten). Die Pyramidalform tritt nun aus den nachgewiesenen Gründen in Kraft; man darf aber da- bei nicht an gleich volle Geltung aller Seiten einer vielseitig vorgestellten Pyramide denken, vielmehr ist nur Eine Seite die vollgültige, denn gerade hier kehrt in gewissem Sinn der Standpunct des Reliefs wieder: die Gruppe ist nämlich zwar bestimmt, umwandelt zu werden und eine Viel- heit schöner Gruppen zu entfalten, aber doch auf Einen Gesichtspunct vor allen berechnet und daraus ergibt sich, daß sich die Figuren von der Hauptseite als ein Nebeneinander präsentiren müssen, wie angelehnt an eine verticale Fläche; auch wird nur so erreicht, daß sie sich wenig mit den Gliedern decken; es ist dieß natürlich auch bei der Gruppe von nur zwei Figuren der Fall, aber es drängt sich erst hier in seinem Nachdruck auf, indem die in der Dreizahl begründete Pyramidalform wieder an das Giebelfeld erinnert, das dem Relief zunächst steht. Ein näheres Bild des rhythmischen Lebens in solcher Composition ist zu §. 500, 1. am Bei- spiele der Laokoongruppe gegeben. In der des farnesischen Stiers sehen wir zwei active Gestalten, tiefer, halbliegend zwischen ihnen die passive der Dirke; über ihr, die Pyramidenspitze bildend, bäumt sich der Stier, er bildet gegen sie den vollen Contrast des thierisch Wilden zu dem weib-
30*
Antagonismus der Formen in Einem Leibe zuſammendrängt; eigentlich iſt aber doch mehr künſtleriſcher Gegenſatz vorhanden, wo ein vollerer Un- terſchied von Stufen der Handlung und zugleich Formen des Lebens die Figuren in der Verſchlingung zugleich auseinander hält, wie in der mehrerwähnten Ludoviſiſchen Gruppe das Auge von der ſchlaff nieder- hängenden ſchon getödteten Frau oder Tochter zu dem ſtraffen, wilden, eben erſt ſich tödtenden Mann aufſteigt, um wieder zu jener milderen Form gerührter niederzuſteigen, ſo daß dieſes mildere Bild des Todes zugleich als Vorbereitung und Löſung zu dem gewaltſameren im Manne ſich verhält. Gegenſatz von Thier und Menſch im Kampf oder freund- lichen Verkehr bietet ſtarken, aber weniger tiefen Contraſt. Die vollere Gruppe wird ſich naturgemäß zur Dreizahl der Figuren neigen, weil in dieſer die Hauptmomente der Compoſition: Ueberordnung mit ſymmetriſcher Unterordnung, Vorbereitung, höchſter Gipfel, Löſung und darin das volle Le- ben und die Verſöhnung der Contraſte mit der ganzen Einfachheit und Spar- ſamkeit, welche dieſe Kunſt fordert, ſich entwickeln laſſen; bei den Alten ging auch hierin das Schauſpiel voran (vergl. Winkelmann G. d. K. Band 2, S. 178). Die Gruppe des farneſiſchen Stiers iſt bekanntlich durch ſpätere Zuthat überladen. Kindergeſtalten, Thiere oder halbthieriſch mythiſche Weſen werden am eheſten eine Gruppe über die Zwei- oder Dreizahl vermehren können (die berühmte große Gruppe des Skopas: Achilles und Thetis von Meeresgottheiten nach der Inſel Leuke geführt, war wohl in aufgelöſter Compoſition gehalten). Die Pyramidalform tritt nun aus den nachgewieſenen Gründen in Kraft; man darf aber da- bei nicht an gleich volle Geltung aller Seiten einer vielſeitig vorgeſtellten Pyramide denken, vielmehr iſt nur Eine Seite die vollgültige, denn gerade hier kehrt in gewiſſem Sinn der Standpunct des Reliefs wieder: die Gruppe iſt nämlich zwar beſtimmt, umwandelt zu werden und eine Viel- heit ſchöner Gruppen zu entfalten, aber doch auf Einen Geſichtspunct vor allen berechnet und daraus ergibt ſich, daß ſich die Figuren von der Hauptſeite als ein Nebeneinander präſentiren müſſen, wie angelehnt an eine verticale Fläche; auch wird nur ſo erreicht, daß ſie ſich wenig mit den Gliedern decken; es iſt dieß natürlich auch bei der Gruppe von nur zwei Figuren der Fall, aber es drängt ſich erſt hier in ſeinem Nachdruck auf, indem die in der Dreizahl begründete Pyramidalform wieder an das Giebelfeld erinnert, das dem Relief zunächſt ſteht. Ein näheres Bild des rhythmiſchen Lebens in ſolcher Compoſition iſt zu §. 500, 1. am Bei- ſpiele der Laokoongruppe gegeben. In der des farneſiſchen Stiers ſehen wir zwei active Geſtalten, tiefer, halbliegend zwiſchen ihnen die paſſive der Dirke; über ihr, die Pyramidenſpitze bildend, bäumt ſich der Stier, er bildet gegen ſie den vollen Contraſt des thieriſch Wilden zu dem weib-
30*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0127"n="453"/>
Antagonismus der Formen in Einem Leibe zuſammendrängt; eigentlich<lb/>
iſt aber doch mehr künſtleriſcher Gegenſatz vorhanden, wo ein vollerer Un-<lb/>
terſchied von Stufen der Handlung und zugleich Formen des Lebens<lb/>
die Figuren in der Verſchlingung zugleich auseinander hält, wie in der<lb/>
mehrerwähnten Ludoviſiſchen Gruppe das Auge von der ſchlaff nieder-<lb/>
hängenden ſchon getödteten Frau oder Tochter zu dem ſtraffen, wilden,<lb/>
eben erſt ſich tödtenden Mann aufſteigt, um wieder zu jener milderen<lb/>
Form gerührter niederzuſteigen, ſo daß dieſes mildere Bild des Todes<lb/>
zugleich als Vorbereitung und Löſung zu dem gewaltſameren im Manne<lb/>ſich verhält. Gegenſatz von Thier und Menſch im Kampf oder freund-<lb/>
lichen Verkehr bietet ſtarken, aber weniger tiefen Contraſt. Die vollere<lb/>
Gruppe wird ſich naturgemäß zur Dreizahl der Figuren neigen, weil in<lb/>
dieſer die Hauptmomente der Compoſition: Ueberordnung mit ſymmetriſcher<lb/>
Unterordnung, Vorbereitung, höchſter Gipfel, Löſung und darin das volle Le-<lb/>
ben und die Verſöhnung der Contraſte mit der ganzen Einfachheit und Spar-<lb/>ſamkeit, welche dieſe Kunſt fordert, ſich entwickeln laſſen; bei den Alten<lb/>
ging auch hierin das Schauſpiel voran (vergl. Winkelmann G. d. K.<lb/>
Band 2, S. 178). Die Gruppe des farneſiſchen Stiers iſt bekanntlich<lb/>
durch ſpätere Zuthat überladen. Kindergeſtalten, Thiere oder halbthieriſch<lb/>
mythiſche Weſen werden am eheſten eine Gruppe über die Zwei- oder<lb/>
Dreizahl vermehren können (die berühmte große Gruppe des Skopas:<lb/>
Achilles und Thetis von Meeresgottheiten nach der Inſel Leuke geführt,<lb/>
war wohl in aufgelöſter Compoſition gehalten). Die Pyramidalform<lb/>
tritt nun aus den nachgewieſenen Gründen in Kraft; man darf aber da-<lb/>
bei nicht an gleich volle Geltung aller Seiten einer vielſeitig vorgeſtellten<lb/>
Pyramide denken, vielmehr iſt nur Eine Seite die vollgültige, denn gerade<lb/>
hier kehrt in gewiſſem Sinn der Standpunct des Reliefs wieder: die<lb/>
Gruppe iſt nämlich zwar beſtimmt, umwandelt zu werden und eine Viel-<lb/>
heit ſchöner Gruppen zu entfalten, aber doch auf Einen Geſichtspunct vor<lb/>
allen berechnet und daraus ergibt ſich, daß ſich die Figuren von der<lb/>
Hauptſeite als ein Nebeneinander präſentiren müſſen, wie angelehnt an<lb/>
eine verticale Fläche; auch wird nur ſo erreicht, daß ſie ſich wenig mit<lb/>
den Gliedern decken; es iſt dieß natürlich auch bei der Gruppe von nur zwei<lb/>
Figuren der Fall, aber es drängt ſich erſt hier in ſeinem Nachdruck auf,<lb/>
indem die in der Dreizahl begründete Pyramidalform wieder an das<lb/>
Giebelfeld erinnert, das dem Relief zunächſt ſteht. Ein näheres Bild<lb/>
des rhythmiſchen Lebens in ſolcher Compoſition iſt zu §. 500, <hirendition="#sub">1.</hi> am Bei-<lb/>ſpiele der Laokoongruppe gegeben. In der des farneſiſchen Stiers ſehen<lb/>
wir zwei active Geſtalten, tiefer, halbliegend zwiſchen ihnen die paſſive<lb/>
der Dirke; über ihr, die Pyramidenſpitze bildend, bäumt ſich der Stier,<lb/>
er bildet gegen ſie den vollen Contraſt des thieriſch Wilden zu dem weib-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">30*</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[453/0127]
Antagonismus der Formen in Einem Leibe zuſammendrängt; eigentlich
iſt aber doch mehr künſtleriſcher Gegenſatz vorhanden, wo ein vollerer Un-
terſchied von Stufen der Handlung und zugleich Formen des Lebens
die Figuren in der Verſchlingung zugleich auseinander hält, wie in der
mehrerwähnten Ludoviſiſchen Gruppe das Auge von der ſchlaff nieder-
hängenden ſchon getödteten Frau oder Tochter zu dem ſtraffen, wilden,
eben erſt ſich tödtenden Mann aufſteigt, um wieder zu jener milderen
Form gerührter niederzuſteigen, ſo daß dieſes mildere Bild des Todes
zugleich als Vorbereitung und Löſung zu dem gewaltſameren im Manne
ſich verhält. Gegenſatz von Thier und Menſch im Kampf oder freund-
lichen Verkehr bietet ſtarken, aber weniger tiefen Contraſt. Die vollere
Gruppe wird ſich naturgemäß zur Dreizahl der Figuren neigen, weil in
dieſer die Hauptmomente der Compoſition: Ueberordnung mit ſymmetriſcher
Unterordnung, Vorbereitung, höchſter Gipfel, Löſung und darin das volle Le-
ben und die Verſöhnung der Contraſte mit der ganzen Einfachheit und Spar-
ſamkeit, welche dieſe Kunſt fordert, ſich entwickeln laſſen; bei den Alten
ging auch hierin das Schauſpiel voran (vergl. Winkelmann G. d. K.
Band 2, S. 178). Die Gruppe des farneſiſchen Stiers iſt bekanntlich
durch ſpätere Zuthat überladen. Kindergeſtalten, Thiere oder halbthieriſch
mythiſche Weſen werden am eheſten eine Gruppe über die Zwei- oder
Dreizahl vermehren können (die berühmte große Gruppe des Skopas:
Achilles und Thetis von Meeresgottheiten nach der Inſel Leuke geführt,
war wohl in aufgelöſter Compoſition gehalten). Die Pyramidalform
tritt nun aus den nachgewieſenen Gründen in Kraft; man darf aber da-
bei nicht an gleich volle Geltung aller Seiten einer vielſeitig vorgeſtellten
Pyramide denken, vielmehr iſt nur Eine Seite die vollgültige, denn gerade
hier kehrt in gewiſſem Sinn der Standpunct des Reliefs wieder: die
Gruppe iſt nämlich zwar beſtimmt, umwandelt zu werden und eine Viel-
heit ſchöner Gruppen zu entfalten, aber doch auf Einen Geſichtspunct vor
allen berechnet und daraus ergibt ſich, daß ſich die Figuren von der
Hauptſeite als ein Nebeneinander präſentiren müſſen, wie angelehnt an
eine verticale Fläche; auch wird nur ſo erreicht, daß ſie ſich wenig mit
den Gliedern decken; es iſt dieß natürlich auch bei der Gruppe von nur zwei
Figuren der Fall, aber es drängt ſich erſt hier in ſeinem Nachdruck auf,
indem die in der Dreizahl begründete Pyramidalform wieder an das
Giebelfeld erinnert, das dem Relief zunächſt ſteht. Ein näheres Bild
des rhythmiſchen Lebens in ſolcher Compoſition iſt zu §. 500, 1. am Bei-
ſpiele der Laokoongruppe gegeben. In der des farneſiſchen Stiers ſehen
wir zwei active Geſtalten, tiefer, halbliegend zwiſchen ihnen die paſſive
der Dirke; über ihr, die Pyramidenſpitze bildend, bäumt ſich der Stier,
er bildet gegen ſie den vollen Contraſt des thieriſch Wilden zu dem weib-
30*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/127>, abgerufen am 07.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.