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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Gegebenes, die stumpfe Dreieckform des Giebelfelds, denn dessen Schmuck
ist es ja natürlich, wovon es sich hier handelt. Da wird denn, wie ge-
rufen, von außen hinzugebracht, was ohne dieß Zubringen die Bildner-
kunst auch aus sich entwickeln müßte. Wir haben nämlich zu §. 626 ge-
sehen, wie jene Uebersetzung des qualitativ Bedeutenderen in ein quan-
titativ Größeres nothwendig auch nach der Höhe wirken muß, wie nun,
wenn das Uebergeordnete sich erhebt, das Untergeordnete, das sich zu
einander als Nebengeordnetes verhält, in verschiedenen Abstufungen zwang-
los symmetrisch zur Seite tritt, und damit ist die Pyramidalform, natür-
lich nicht in geometrischer Regelmäßigkeit, gegeben; im Giebelfeld aber
bringt die Baukunst diesen Rahmen entgegen, zugleich erlaubt die aus-
gedehnte Fläche innerhalb desselben eine größere, figurenreichere Compo-
sition, als die ganz freie Plastik diese entwickeln kann, und zwar eine ge-
schloßnere, als im Relief, wiewohl eine weniger geschloßne, als in dieser.
Das symmetrisch Nebengeordnete kann nun an sich kleiner sein, als die
Mitte, wie Menschen gegenüber einer Gottheit (z. B. die Helden der
Aegineten-Gruppe neben Athene), Kinder neben der Mutter (Niobe-Gruppe),
oder durch Sitzen, Knieen, Liegen dem sich verengenden Dreieckschenkel
angepaßt, oder Beides zugleich. Auch bloße Füllfiguren, wie ein liegen-
der Flußgott, um das Local zu bezeichnen, wohl auch bloße Stücke sol-
cher, wie das aufsteigende und niedertauchende Gespann des Helios im
östlichen Parthenongiebel, mögen dienen, den äußersten Winkel zu besetzen.
Die Composition kann nun eben wieder die losere oder die inniger ver-
bindende, untergeordnete Gruppen in Gruppen bildende sein: bloße Zu-
sammenstellung oder Handlung; die Handlung im Mittelpunkt, die Zu-
schauer umher wie im westlichen Tympanum des Parthenon, wo Athene,
die Rosse bändigend, mit dem zurückfahrenden Poseidon die schön divergi-
rende mittlere Gruppe bildet, während auf den Seiten die Gruppen der
Zuschauer in verschiedenen Graden der Theilnahme sich abstufend nach
den Winkeln des Dreiecks hin absinken; oder ein Herrschen, Schützen in
der Mitte, Handeln, Kämpfen auf den Seiten; oder Kampf, Bewegung
überall, am stärksten in der Mitte. Auch ein Auf- und Absteigen ist
wohl motivirt, wie über der Trinkhalle zu Baden die zur labenden Nym-
phe aufsteigenden Kranken, die herabsteigenden Verjüngten; ein sehr
schöner Gedanke. Neben dieser äußern Symmetrie der Höhenmaaße herrscht
aber, je belebter eine solche Composition, desto kräftiger auch die innere
und greift durch milden oder starken Contrast als ein freies Entsprechen
der Figuren und Gruppen auf den Seiten und durch die Mittelgruppe
selbst hindurch.

2. Die freie Plastik wäre durch die Nothwendigkeit, das sich Decken ihrer
Formen zu vermeiden, auf einen engen Spielraum eingegränzt, wenn sie

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 30

Gegebenes, die ſtumpfe Dreieckform des Giebelfelds, denn deſſen Schmuck
iſt es ja natürlich, wovon es ſich hier handelt. Da wird denn, wie ge-
rufen, von außen hinzugebracht, was ohne dieß Zubringen die Bildner-
kunſt auch aus ſich entwickeln müßte. Wir haben nämlich zu §. 626 ge-
ſehen, wie jene Ueberſetzung des qualitativ Bedeutenderen in ein quan-
titativ Größeres nothwendig auch nach der Höhe wirken muß, wie nun,
wenn das Uebergeordnete ſich erhebt, das Untergeordnete, das ſich zu
einander als Nebengeordnetes verhält, in verſchiedenen Abſtufungen zwang-
los ſymmetriſch zur Seite tritt, und damit iſt die Pyramidalform, natür-
lich nicht in geometriſcher Regelmäßigkeit, gegeben; im Giebelfeld aber
bringt die Baukunſt dieſen Rahmen entgegen, zugleich erlaubt die aus-
gedehnte Fläche innerhalb deſſelben eine größere, figurenreichere Compo-
ſition, als die ganz freie Plaſtik dieſe entwickeln kann, und zwar eine ge-
ſchloßnere, als im Relief, wiewohl eine weniger geſchloßne, als in dieſer.
Das ſymmetriſch Nebengeordnete kann nun an ſich kleiner ſein, als die
Mitte, wie Menſchen gegenüber einer Gottheit (z. B. die Helden der
Aegineten-Gruppe neben Athene), Kinder neben der Mutter (Niobe-Gruppe),
oder durch Sitzen, Knieen, Liegen dem ſich verengenden Dreieckſchenkel
angepaßt, oder Beides zugleich. Auch bloße Füllfiguren, wie ein liegen-
der Flußgott, um das Local zu bezeichnen, wohl auch bloße Stücke ſol-
cher, wie das aufſteigende und niedertauchende Geſpann des Helios im
öſtlichen Parthenongiebel, mögen dienen, den äußerſten Winkel zu beſetzen.
Die Compoſition kann nun eben wieder die loſere oder die inniger ver-
bindende, untergeordnete Gruppen in Gruppen bildende ſein: bloße Zu-
ſammenſtellung oder Handlung; die Handlung im Mittelpunkt, die Zu-
ſchauer umher wie im weſtlichen Tympanum des Parthenon, wo Athene,
die Roſſe bändigend, mit dem zurückfahrenden Poſeidon die ſchön divergi-
rende mittlere Gruppe bildet, während auf den Seiten die Gruppen der
Zuſchauer in verſchiedenen Graden der Theilnahme ſich abſtufend nach
den Winkeln des Dreiecks hin abſinken; oder ein Herrſchen, Schützen in
der Mitte, Handeln, Kämpfen auf den Seiten; oder Kampf, Bewegung
überall, am ſtärkſten in der Mitte. Auch ein Auf- und Abſteigen iſt
wohl motivirt, wie über der Trinkhalle zu Baden die zur labenden Nym-
phe aufſteigenden Kranken, die herabſteigenden Verjüngten; ein ſehr
ſchöner Gedanke. Neben dieſer äußern Symmetrie der Höhenmaaße herrſcht
aber, je belebter eine ſolche Compoſition, deſto kräftiger auch die innere
und greift durch milden oder ſtarken Contraſt als ein freies Entſprechen
der Figuren und Gruppen auf den Seiten und durch die Mittelgruppe
ſelbſt hindurch.

2. Die freie Plaſtik wäre durch die Nothwendigkeit, das ſich Decken ihrer
Formen zu vermeiden, auf einen engen Spielraum eingegränzt, wenn ſie

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 30
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[451/0125] Gegebenes, die ſtumpfe Dreieckform des Giebelfelds, denn deſſen Schmuck iſt es ja natürlich, wovon es ſich hier handelt. Da wird denn, wie ge- rufen, von außen hinzugebracht, was ohne dieß Zubringen die Bildner- kunſt auch aus ſich entwickeln müßte. Wir haben nämlich zu §. 626 ge- ſehen, wie jene Ueberſetzung des qualitativ Bedeutenderen in ein quan- titativ Größeres nothwendig auch nach der Höhe wirken muß, wie nun, wenn das Uebergeordnete ſich erhebt, das Untergeordnete, das ſich zu einander als Nebengeordnetes verhält, in verſchiedenen Abſtufungen zwang- los ſymmetriſch zur Seite tritt, und damit iſt die Pyramidalform, natür- lich nicht in geometriſcher Regelmäßigkeit, gegeben; im Giebelfeld aber bringt die Baukunſt dieſen Rahmen entgegen, zugleich erlaubt die aus- gedehnte Fläche innerhalb deſſelben eine größere, figurenreichere Compo- ſition, als die ganz freie Plaſtik dieſe entwickeln kann, und zwar eine ge- ſchloßnere, als im Relief, wiewohl eine weniger geſchloßne, als in dieſer. Das ſymmetriſch Nebengeordnete kann nun an ſich kleiner ſein, als die Mitte, wie Menſchen gegenüber einer Gottheit (z. B. die Helden der Aegineten-Gruppe neben Athene), Kinder neben der Mutter (Niobe-Gruppe), oder durch Sitzen, Knieen, Liegen dem ſich verengenden Dreieckſchenkel angepaßt, oder Beides zugleich. Auch bloße Füllfiguren, wie ein liegen- der Flußgott, um das Local zu bezeichnen, wohl auch bloße Stücke ſol- cher, wie das aufſteigende und niedertauchende Geſpann des Helios im öſtlichen Parthenongiebel, mögen dienen, den äußerſten Winkel zu beſetzen. Die Compoſition kann nun eben wieder die loſere oder die inniger ver- bindende, untergeordnete Gruppen in Gruppen bildende ſein: bloße Zu- ſammenſtellung oder Handlung; die Handlung im Mittelpunkt, die Zu- ſchauer umher wie im weſtlichen Tympanum des Parthenon, wo Athene, die Roſſe bändigend, mit dem zurückfahrenden Poſeidon die ſchön divergi- rende mittlere Gruppe bildet, während auf den Seiten die Gruppen der Zuſchauer in verſchiedenen Graden der Theilnahme ſich abſtufend nach den Winkeln des Dreiecks hin abſinken; oder ein Herrſchen, Schützen in der Mitte, Handeln, Kämpfen auf den Seiten; oder Kampf, Bewegung überall, am ſtärkſten in der Mitte. Auch ein Auf- und Abſteigen iſt wohl motivirt, wie über der Trinkhalle zu Baden die zur labenden Nym- phe aufſteigenden Kranken, die herabſteigenden Verjüngten; ein ſehr ſchöner Gedanke. Neben dieſer äußern Symmetrie der Höhenmaaße herrſcht aber, je belebter eine ſolche Compoſition, deſto kräftiger auch die innere und greift durch milden oder ſtarken Contraſt als ein freies Entſprechen der Figuren und Gruppen auf den Seiten und durch die Mittelgruppe ſelbſt hindurch. 2. Die freie Plaſtik wäre durch die Nothwendigkeit, das ſich Decken ihrer Formen zu vermeiden, auf einen engen Spielraum eingegränzt, wenn ſie Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 30

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/125>, abgerufen am 23.12.2024.