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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Theile unter sich stellen ein reiches Leben von milden und starken Con-
trasten, von harter Kraft und schutzloser Weichheit, Fläche, Eintiefung,
Welle dar, aber Alles bereitet in der organischen Herauswicklung des
einen Gliedes aus dem andern sich gegenseitig vor, Eines motivirt das
Andere, Eines löst das Andere auf und führt überleitend weiter; die
"unendliche Kreisbewegung" in sämmtlichen überkleidenden Weichtheilen
mildert alle Härten, übergießt Alles mit dem Flusse des wärmeren, volle-
ren Rhythmus. Obwohl nun die Kunst alle diese Momente durch jene
Stylisirung, die wir schon kennen, erhöht und klärt, so würde doch das
Ganze zu einem todt Symmetrischen, weil es durchschnitten in zwei ganz
gleiche Hälften zerfiele, wenn nicht der Bildner durch das Spiel der Be-
wegung eine neue Welt von freien Contrasten zugleich einführen und
lösen würde. Die Natur thut dieß auch, aber in zufälliger, roher, ver-
worrener oder eckig hart gemessener Weise. Es tritt jetzt Alles, was wir
über die Behandlung der Bewegung §. 622 gesagt, unter den Stand-
punct der Composition, des ausdrücklichen Rhythmus-Gesetzes, und ist
darnach zu ergänzen. Der Bildhauer hebt nun die unbelebte Symmetrie
auf und führt in die so gebildeten Contraste eine neue Symmetrie ein.
Dieß gilt hauptsächlich von den Bewegungsorganen: vergleicht man Arm
mit Arm, so wird die ursprüngliche Symmetrie sich in Contraste auflö-
sen, indem der eine gehoben, aufgestützt, der andere gesenkt oder, die stär-
kere Bewegung des ersteren begleitend, schwächer gehoben, zurückgeworfen
ist; Fuß mit Fuß: so ist der eine aufgestemmt, vorgeworfen, der andere
spielend vorgesetzt, übergeschlagen, zurückgeworfen; vergleicht man Fuß
und Arm derselben Seite, so ist auch hier Contrast: der Fuß schreitet,
der Arm hängt ruhig, der Fuß fährt zurück, der Arm vor und in die
Höhe, der Fuß ruht, trägt ruhig, der Arm handelt. Geht man nun vom
Arm der einen Seite zum Fuße der andern, also über das Kreuz, so
werden sich diese Contraste irgendwie in einer Symmetrie lösen, etwa,
wo es zwanglos geschehen kann, so, wie im Gange des Pferdes, das den
Vorder- und Hinterfuß der entgegengesetzten Seiten gleichzeitig hebt: z. B.
rechter Fuß, linker Arm aufgestemmt, linker Fuß, rechter Arm nachlässig
spielend, oder es wird sich statt der kreuzweisen Aehnlichkeit der Lage
und Stellung eine große Linienflucht darstellen, welche von einer Seite
nach der andern hinüber geht und zwar natürlich nicht von einer zweiten ähn-
lichen quer durchschnitten wird (sonst entstünde das Kreuz der Wind-
mühlenflügel), wohl aber auf der andern Seite ein Gegengewicht findet,
wie z. B. bei dem borghesischen Fechter eine große Linie vom zurückge-
worfenen linken Fuß zum emporgehaltenen linken Arm und zum Kopfe
geht, wogegen auf der andern Seite der Unterschenkel des vorgeworfe-
nen rechten Fußes und der zurückgestreckte rechte Arm parallele Linien

Theile unter ſich ſtellen ein reiches Leben von milden und ſtarken Con-
traſten, von harter Kraft und ſchutzloſer Weichheit, Fläche, Eintiefung,
Welle dar, aber Alles bereitet in der organiſchen Herauswicklung des
einen Gliedes aus dem andern ſich gegenſeitig vor, Eines motivirt das
Andere, Eines löſt das Andere auf und führt überleitend weiter; die
„unendliche Kreisbewegung“ in ſämmtlichen überkleidenden Weichtheilen
mildert alle Härten, übergießt Alles mit dem Fluſſe des wärmeren, volle-
ren Rhythmus. Obwohl nun die Kunſt alle dieſe Momente durch jene
Styliſirung, die wir ſchon kennen, erhöht und klärt, ſo würde doch das
Ganze zu einem todt Symmetriſchen, weil es durchſchnitten in zwei ganz
gleiche Hälften zerfiele, wenn nicht der Bildner durch das Spiel der Be-
wegung eine neue Welt von freien Contraſten zugleich einführen und
löſen würde. Die Natur thut dieß auch, aber in zufälliger, roher, ver-
worrener oder eckig hart gemeſſener Weiſe. Es tritt jetzt Alles, was wir
über die Behandlung der Bewegung §. 622 geſagt, unter den Stand-
punct der Compoſition, des ausdrücklichen Rhythmus-Geſetzes, und iſt
darnach zu ergänzen. Der Bildhauer hebt nun die unbelebte Symmetrie
auf und führt in die ſo gebildeten Contraſte eine neue Symmetrie ein.
Dieß gilt hauptſächlich von den Bewegungsorganen: vergleicht man Arm
mit Arm, ſo wird die urſprüngliche Symmetrie ſich in Contraſte auflö-
ſen, indem der eine gehoben, aufgeſtützt, der andere geſenkt oder, die ſtär-
kere Bewegung des erſteren begleitend, ſchwächer gehoben, zurückgeworfen
iſt; Fuß mit Fuß: ſo iſt der eine aufgeſtemmt, vorgeworfen, der andere
ſpielend vorgeſetzt, übergeſchlagen, zurückgeworfen; vergleicht man Fuß
und Arm derſelben Seite, ſo iſt auch hier Contraſt: der Fuß ſchreitet,
der Arm hängt ruhig, der Fuß fährt zurück, der Arm vor und in die
Höhe, der Fuß ruht, trägt ruhig, der Arm handelt. Geht man nun vom
Arm der einen Seite zum Fuße der andern, alſo über das Kreuz, ſo
werden ſich dieſe Contraſte irgendwie in einer Symmetrie löſen, etwa,
wo es zwanglos geſchehen kann, ſo, wie im Gange des Pferdes, das den
Vorder- und Hinterfuß der entgegengeſetzten Seiten gleichzeitig hebt: z. B.
rechter Fuß, linker Arm aufgeſtemmt, linker Fuß, rechter Arm nachläſſig
ſpielend, oder es wird ſich ſtatt der kreuzweiſen Aehnlichkeit der Lage
und Stellung eine große Linienflucht darſtellen, welche von einer Seite
nach der andern hinüber geht und zwar natürlich nicht von einer zweiten ähn-
lichen quer durchſchnitten wird (ſonſt entſtünde das Kreuz der Wind-
mühlenflügel), wohl aber auf der andern Seite ein Gegengewicht findet,
wie z. B. bei dem borgheſiſchen Fechter eine große Linie vom zurückge-
worfenen linken Fuß zum emporgehaltenen linken Arm und zum Kopfe
geht, wogegen auf der andern Seite der Unterſchenkel des vorgeworfe-
nen rechten Fußes und der zurückgeſtreckte rechte Arm parallele Linien

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[446/0120] Theile unter ſich ſtellen ein reiches Leben von milden und ſtarken Con- traſten, von harter Kraft und ſchutzloſer Weichheit, Fläche, Eintiefung, Welle dar, aber Alles bereitet in der organiſchen Herauswicklung des einen Gliedes aus dem andern ſich gegenſeitig vor, Eines motivirt das Andere, Eines löſt das Andere auf und führt überleitend weiter; die „unendliche Kreisbewegung“ in ſämmtlichen überkleidenden Weichtheilen mildert alle Härten, übergießt Alles mit dem Fluſſe des wärmeren, volle- ren Rhythmus. Obwohl nun die Kunſt alle dieſe Momente durch jene Styliſirung, die wir ſchon kennen, erhöht und klärt, ſo würde doch das Ganze zu einem todt Symmetriſchen, weil es durchſchnitten in zwei ganz gleiche Hälften zerfiele, wenn nicht der Bildner durch das Spiel der Be- wegung eine neue Welt von freien Contraſten zugleich einführen und löſen würde. Die Natur thut dieß auch, aber in zufälliger, roher, ver- worrener oder eckig hart gemeſſener Weiſe. Es tritt jetzt Alles, was wir über die Behandlung der Bewegung §. 622 geſagt, unter den Stand- punct der Compoſition, des ausdrücklichen Rhythmus-Geſetzes, und iſt darnach zu ergänzen. Der Bildhauer hebt nun die unbelebte Symmetrie auf und führt in die ſo gebildeten Contraſte eine neue Symmetrie ein. Dieß gilt hauptſächlich von den Bewegungsorganen: vergleicht man Arm mit Arm, ſo wird die urſprüngliche Symmetrie ſich in Contraſte auflö- ſen, indem der eine gehoben, aufgeſtützt, der andere geſenkt oder, die ſtär- kere Bewegung des erſteren begleitend, ſchwächer gehoben, zurückgeworfen iſt; Fuß mit Fuß: ſo iſt der eine aufgeſtemmt, vorgeworfen, der andere ſpielend vorgeſetzt, übergeſchlagen, zurückgeworfen; vergleicht man Fuß und Arm derſelben Seite, ſo iſt auch hier Contraſt: der Fuß ſchreitet, der Arm hängt ruhig, der Fuß fährt zurück, der Arm vor und in die Höhe, der Fuß ruht, trägt ruhig, der Arm handelt. Geht man nun vom Arm der einen Seite zum Fuße der andern, alſo über das Kreuz, ſo werden ſich dieſe Contraſte irgendwie in einer Symmetrie löſen, etwa, wo es zwanglos geſchehen kann, ſo, wie im Gange des Pferdes, das den Vorder- und Hinterfuß der entgegengeſetzten Seiten gleichzeitig hebt: z. B. rechter Fuß, linker Arm aufgeſtemmt, linker Fuß, rechter Arm nachläſſig ſpielend, oder es wird ſich ſtatt der kreuzweiſen Aehnlichkeit der Lage und Stellung eine große Linienflucht darſtellen, welche von einer Seite nach der andern hinüber geht und zwar natürlich nicht von einer zweiten ähn- lichen quer durchſchnitten wird (ſonſt entſtünde das Kreuz der Wind- mühlenflügel), wohl aber auf der andern Seite ein Gegengewicht findet, wie z. B. bei dem borgheſiſchen Fechter eine große Linie vom zurückge- worfenen linken Fuß zum emporgehaltenen linken Arm und zum Kopfe geht, wogegen auf der andern Seite der Unterſchenkel des vorgeworfe- nen rechten Fußes und der zurückgeſtreckte rechte Arm parallele Linien

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/120>, abgerufen am 22.11.2024.