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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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des Raumes (vergl. §. 609, 2.) als eine wesentliche Bestimmtheit fest-
hält. Diese Rückführung eines innern Verhältnisses auf ein äußeres
soll allerdings nicht mehr schlechthin herrschen wie in der orientalischen
Kunst, namentlich in Aegypten, wo nicht nur der Gott, sondern auch der
König neben dem Volke wie ein Riese erscheint; es ist nicht ein stehen-
der Werth des Gegenstands an sich, sondern die Absicht des Kunstwerks,
die Bedeutung dahin oder dorthin zu legen, was dieselbe bestimmt. So
zeigt die der Natur widersprechende verhältnißmäßige Kleinheit der Thiere
in den Herkuleskämpfen, der Gruppe von Monte Cavallo und wo solche
als Attribut verschiedener Götter auftreten, daß hier kein Bildwerk beab-
sichtigt ist, das ebensosehr Thierstück als Menschendarstellung sein soll,
und ebenso die Kleinheit menschlicher Figuren, daß sie nur Attribut sind,
wie Nike auf der Hand des Zeus, oder daß überhaupt auf ihnen in
diesem Zusammenhang nicht der Nachdruck liegt. Eine andere Seite
dieses quantitativen Ausdrucks für ein Qualitatives ist die Höherstellung
des Bedeutenderen, das dann den natürlichen Mittelpunct bildet, zu
dessen Seiten Untergeordnetes, das sich zueinander als ein Nebengeord-
netes verhält, sich gegenübersteht; letzteres Verhältniß wird sich dem Auge
als ungefähr gleiche Höhe darstellen, und wir sind hiermit eigentlich so-
gleich zur pyramidalen Linie geführt, die wir aber erst weiterhin auffassen
werden. Dieß Alles ist Anklag oder Nachklang des benachbarten Gebie-
tes der Baukunst. Die Symmetrie hat freilich noch eine andere Bedeu-
tung, als die der entsprechenden Größe, Höhe, darüber s. im folg. §.

2. Die einzelne Figur ist das Hauptgebiet der Bildnerkunst, dieß folgt
aus §. 606; sie entfaltet sich mehr in der Gruppe, aber sie zeigt ihren
ganzen Reichthum gesammelt in der Statue; es verhält sich dieß zu ein-
ander wie Affect und Ruhe, vergl. §. 625, 1. Ueberordnung, Unterord-
nung und Nebenordnung, Contrast, seine Vorbereitung, Motivirung, Lö-
sung, Rhythmus und Bestimmtheit der Begrenzung: alles dieß ist nun
am Linienleben des Wunderbaues der Gestalt an sich zu entwickeln. Diese
sämmtlichen Momente sind eigentlich schon an sich im Stoffe gegeben von
der großen Compositionsmeisterinn, der Natur, der Bildhauer hat sie in
seiner Weise zum Idealen zu erheben. Das an sich rhythmische System
der Proportionen (vergl. §. 617) verschärft er zum festen Generalbaß
des Concerts der lebendigeren Theile: unter dem übergeordneten Haupte
gruppiren sich symmetrisch die gleichen Seiten des Rumpfs und die Paare
der Bewegungsorgane; das Verhältniß aller Erstreckungen nach Länge
und Stärke untereinander, das schlank Aufgeschossene und das breit Ge-
wölbte, das frei Gedehnte und in Gelenken Vereinigte bildet den starken
Tact, Grundton und Tempo zu dem Vollen und Entfalteten des Baues
mit seinen Muskeln, Bedeckung und allen feineren Bildungen. Alle

des Raumes (vergl. §. 609, 2.) als eine weſentliche Beſtimmtheit feſt-
hält. Dieſe Rückführung eines innern Verhältniſſes auf ein äußeres
ſoll allerdings nicht mehr ſchlechthin herrſchen wie in der orientaliſchen
Kunſt, namentlich in Aegypten, wo nicht nur der Gott, ſondern auch der
König neben dem Volke wie ein Rieſe erſcheint; es iſt nicht ein ſtehen-
der Werth des Gegenſtands an ſich, ſondern die Abſicht des Kunſtwerks,
die Bedeutung dahin oder dorthin zu legen, was dieſelbe beſtimmt. So
zeigt die der Natur widerſprechende verhältnißmäßige Kleinheit der Thiere
in den Herkuleskämpfen, der Gruppe von Monte Cavallo und wo ſolche
als Attribut verſchiedener Götter auftreten, daß hier kein Bildwerk beab-
ſichtigt iſt, das ebenſoſehr Thierſtück als Menſchendarſtellung ſein ſoll,
und ebenſo die Kleinheit menſchlicher Figuren, daß ſie nur Attribut ſind,
wie Nike auf der Hand des Zeus, oder daß überhaupt auf ihnen in
dieſem Zuſammenhang nicht der Nachdruck liegt. Eine andere Seite
dieſes quantitativen Ausdrucks für ein Qualitatives iſt die Höherſtellung
des Bedeutenderen, das dann den natürlichen Mittelpunct bildet, zu
deſſen Seiten Untergeordnetes, das ſich zueinander als ein Nebengeord-
netes verhält, ſich gegenüberſteht; letzteres Verhältniß wird ſich dem Auge
als ungefähr gleiche Höhe darſtellen, und wir ſind hiermit eigentlich ſo-
gleich zur pyramidalen Linie geführt, die wir aber erſt weiterhin auffaſſen
werden. Dieß Alles iſt Anklag oder Nachklang des benachbarten Gebie-
tes der Baukunſt. Die Symmetrie hat freilich noch eine andere Bedeu-
tung, als die der entſprechenden Größe, Höhe, darüber ſ. im folg. §.

2. Die einzelne Figur iſt das Hauptgebiet der Bildnerkunſt, dieß folgt
aus §. 606; ſie entfaltet ſich mehr in der Gruppe, aber ſie zeigt ihren
ganzen Reichthum geſammelt in der Statue; es verhält ſich dieß zu ein-
ander wie Affect und Ruhe, vergl. §. 625, 1. Ueberordnung, Unterord-
nung und Nebenordnung, Contraſt, ſeine Vorbereitung, Motivirung, Lö-
ſung, Rhythmus und Beſtimmtheit der Begrenzung: alles dieß iſt nun
am Linienleben des Wunderbaues der Geſtalt an ſich zu entwickeln. Dieſe
ſämmtlichen Momente ſind eigentlich ſchon an ſich im Stoffe gegeben von
der großen Compoſitionsmeiſterinn, der Natur, der Bildhauer hat ſie in
ſeiner Weiſe zum Idealen zu erheben. Das an ſich rhythmiſche Syſtem
der Proportionen (vergl. §. 617) verſchärft er zum feſten Generalbaß
des Concerts der lebendigeren Theile: unter dem übergeordneten Haupte
gruppiren ſich ſymmetriſch die gleichen Seiten des Rumpfs und die Paare
der Bewegungsorgane; das Verhältniß aller Erſtreckungen nach Länge
und Stärke untereinander, das ſchlank Aufgeſchoſſene und das breit Ge-
wölbte, das frei Gedehnte und in Gelenken Vereinigte bildet den ſtarken
Tact, Grundton und Tempo zu dem Vollen und Entfalteten des Baues
mit ſeinen Muskeln, Bedeckung und allen feineren Bildungen. Alle

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[445/0119] des Raumes (vergl. §. 609, 2.) als eine weſentliche Beſtimmtheit feſt- hält. Dieſe Rückführung eines innern Verhältniſſes auf ein äußeres ſoll allerdings nicht mehr ſchlechthin herrſchen wie in der orientaliſchen Kunſt, namentlich in Aegypten, wo nicht nur der Gott, ſondern auch der König neben dem Volke wie ein Rieſe erſcheint; es iſt nicht ein ſtehen- der Werth des Gegenſtands an ſich, ſondern die Abſicht des Kunſtwerks, die Bedeutung dahin oder dorthin zu legen, was dieſelbe beſtimmt. So zeigt die der Natur widerſprechende verhältnißmäßige Kleinheit der Thiere in den Herkuleskämpfen, der Gruppe von Monte Cavallo und wo ſolche als Attribut verſchiedener Götter auftreten, daß hier kein Bildwerk beab- ſichtigt iſt, das ebenſoſehr Thierſtück als Menſchendarſtellung ſein ſoll, und ebenſo die Kleinheit menſchlicher Figuren, daß ſie nur Attribut ſind, wie Nike auf der Hand des Zeus, oder daß überhaupt auf ihnen in dieſem Zuſammenhang nicht der Nachdruck liegt. Eine andere Seite dieſes quantitativen Ausdrucks für ein Qualitatives iſt die Höherſtellung des Bedeutenderen, das dann den natürlichen Mittelpunct bildet, zu deſſen Seiten Untergeordnetes, das ſich zueinander als ein Nebengeord- netes verhält, ſich gegenüberſteht; letzteres Verhältniß wird ſich dem Auge als ungefähr gleiche Höhe darſtellen, und wir ſind hiermit eigentlich ſo- gleich zur pyramidalen Linie geführt, die wir aber erſt weiterhin auffaſſen werden. Dieß Alles iſt Anklag oder Nachklang des benachbarten Gebie- tes der Baukunſt. Die Symmetrie hat freilich noch eine andere Bedeu- tung, als die der entſprechenden Größe, Höhe, darüber ſ. im folg. §. 2. Die einzelne Figur iſt das Hauptgebiet der Bildnerkunſt, dieß folgt aus §. 606; ſie entfaltet ſich mehr in der Gruppe, aber ſie zeigt ihren ganzen Reichthum geſammelt in der Statue; es verhält ſich dieß zu ein- ander wie Affect und Ruhe, vergl. §. 625, 1. Ueberordnung, Unterord- nung und Nebenordnung, Contraſt, ſeine Vorbereitung, Motivirung, Lö- ſung, Rhythmus und Beſtimmtheit der Begrenzung: alles dieß iſt nun am Linienleben des Wunderbaues der Geſtalt an ſich zu entwickeln. Dieſe ſämmtlichen Momente ſind eigentlich ſchon an ſich im Stoffe gegeben von der großen Compoſitionsmeiſterinn, der Natur, der Bildhauer hat ſie in ſeiner Weiſe zum Idealen zu erheben. Das an ſich rhythmiſche Syſtem der Proportionen (vergl. §. 617) verſchärft er zum feſten Generalbaß des Concerts der lebendigeren Theile: unter dem übergeordneten Haupte gruppiren ſich ſymmetriſch die gleichen Seiten des Rumpfs und die Paare der Bewegungsorgane; das Verhältniß aller Erſtreckungen nach Länge und Stärke untereinander, das ſchlank Aufgeſchoſſene und das breit Ge- wölbte, das frei Gedehnte und in Gelenken Vereinigte bildet den ſtarken Tact, Grundton und Tempo zu dem Vollen und Entfalteten des Baues mit ſeinen Muskeln, Bedeckung und allen feineren Bildungen. Alle

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/119>, abgerufen am 22.11.2024.