Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

2sich verschlossenen Gemüthes ist. Hiermit fällt, sofern nicht anderweitige sta-
tuarische Eigenschaften solche Darstellungen in beschränkter Weise rechtfertigen,
das ganze Gebiet von Zuständen und Erregungen weg, welche der subjectiven
Innerlichkeit angehören und der Bestimmung in §. 605, 1. widersprechen.

1. Die erste Beschränkung, die des Gebiets der bewegten Physiogno-
mik oder der Mimik (vergl. §. 339), folgt deutlich aus der Forderung
ganzer und voller Affecte, wie sie eine offene, große, sinnlich-sittliche
Seele bewegen. Die Flüchtigkeit an sich wäre es nicht, was hier dem
Bildner Grenzen setzt, denn wir haben längst erkannt, daß ihm die Feß-
lung des eiligsten Moments, wenn nur kein innerer, qualitativer Grund
dagegen spricht, erlaubt ist. Hegel nennt das kleine Spiel der Mienen
und Gebärden, von denen hier die Rede ist, das Mienenhafte (Aesth.
Th. II, S. 374. 375); er faßt aber das verbotene Gebiet zu weit, denn
nicht alles Mienenhafte, nicht jeder flüchtige Strahl oder Schatten inne-
rer Seelenregung, der sich in kleineren Bewegungen der Glieder und
Gesichtszüge ausdrückt, ist, wie er meint, Ausdruck eines für die plastische
Auffassung zu subjectiven Lebens. Es gibt ein Lächeln, ein Nicken, ein
Stirnrunzeln, Auf- und Niederziehen der Lippen, das einer ganz gedie-
genen, naiven Seele angehört; dasselbe ist wohl zu unterscheiden von
jenem mimischen Spiele, wie es der in sich verschlossenen Subjectivität
eigen ist, die sich hinter ihre Erscheinung verbirgt, ihr Inneres nicht im
Ganzen und Großen herausläßt, sondern nur die Oberfläche, so zu sa-
gen die äußersten Spitzen der besonders sprechenden Theile der Gestalt
den Eindrücken so weit Preis gibt, daß diese durch ein flüchtiges Zucken,
z. B. der Augenlider, der Mundwinkel, der Finger zu sagen scheinen: ich will
wohl merken lassen, daß ich Eindrücke, Urtheile habe, aber nur in der
andeutenden Weise, die keinen weitern Blick in mein Inneres gestattet.
Es ist dieß noch nicht eigentliche Blasirtheit des eitel zugeknöpften Sub-
jects und Lorgnettengesichts, der moderne Mensch überhaupt hat im All-
gemeinen dieß kurz angebundene Agiren, das hinter der Scheidewand
der Verschlossenheit nur leicht und vornehm einen andeutenden Finger
hervorstreckt, aber freilich geht es leicht und häufig in jene widerliche
Form einer aller Natur und Naivetät entfremdeten Menschenclasse über.
Auch der hämische, verschlossene, tuckmäuserische, frivole, böse Mensch,
ganz abgesehen von einer allgemeinen Bildungsform der Zeiten, zeigt
dieß halbe, abgezwickte Mienenspiel; "dagegen auf dem Gesichte der
griechischen Helden zeiget sich kein spitzfindiger, leichtfertiger oder listiger,
noch weniger höhnischer Blick, sondern die Unschuld schwebet mit einer zu-
versichtlichen Stille auf denselben" (Winkelmann a. a. O. Bd. II, S. 146).
Oeffnet sich ein solches Gemüth der momentanen Stimmung und drückt

2ſich verſchloſſenen Gemüthes iſt. Hiermit fällt, ſofern nicht anderweitige ſta-
tuariſche Eigenſchaften ſolche Darſtellungen in beſchränkter Weiſe rechtfertigen,
das ganze Gebiet von Zuſtänden und Erregungen weg, welche der ſubjectiven
Innerlichkeit angehören und der Beſtimmung in §. 605, 1. widerſprechen.

1. Die erſte Beſchränkung, die des Gebiets der bewegten Phyſiogno-
mik oder der Mimik (vergl. §. 339), folgt deutlich aus der Forderung
ganzer und voller Affecte, wie ſie eine offene, große, ſinnlich-ſittliche
Seele bewegen. Die Flüchtigkeit an ſich wäre es nicht, was hier dem
Bildner Grenzen ſetzt, denn wir haben längſt erkannt, daß ihm die Feß-
lung des eiligſten Moments, wenn nur kein innerer, qualitativer Grund
dagegen ſpricht, erlaubt iſt. Hegel nennt das kleine Spiel der Mienen
und Gebärden, von denen hier die Rede iſt, das Mienenhafte (Aeſth.
Th. II, S. 374. 375); er faßt aber das verbotene Gebiet zu weit, denn
nicht alles Mienenhafte, nicht jeder flüchtige Strahl oder Schatten inne-
rer Seelenregung, der ſich in kleineren Bewegungen der Glieder und
Geſichtszüge ausdrückt, iſt, wie er meint, Ausdruck eines für die plaſtiſche
Auffaſſung zu ſubjectiven Lebens. Es gibt ein Lächeln, ein Nicken, ein
Stirnrunzeln, Auf- und Niederziehen der Lippen, das einer ganz gedie-
genen, naiven Seele angehört; daſſelbe iſt wohl zu unterſcheiden von
jenem mimiſchen Spiele, wie es der in ſich verſchloſſenen Subjectivität
eigen iſt, die ſich hinter ihre Erſcheinung verbirgt, ihr Inneres nicht im
Ganzen und Großen herausläßt, ſondern nur die Oberfläche, ſo zu ſa-
gen die äußerſten Spitzen der beſonders ſprechenden Theile der Geſtalt
den Eindrücken ſo weit Preis gibt, daß dieſe durch ein flüchtiges Zucken,
z. B. der Augenlider, der Mundwinkel, der Finger zu ſagen ſcheinen: ich will
wohl merken laſſen, daß ich Eindrücke, Urtheile habe, aber nur in der
andeutenden Weiſe, die keinen weitern Blick in mein Inneres geſtattet.
Es iſt dieß noch nicht eigentliche Blaſirtheit des eitel zugeknöpften Sub-
jects und Lorgnettengeſichts, der moderne Menſch überhaupt hat im All-
gemeinen dieß kurz angebundene Agiren, das hinter der Scheidewand
der Verſchloſſenheit nur leicht und vornehm einen andeutenden Finger
hervorſtreckt, aber freilich geht es leicht und häufig in jene widerliche
Form einer aller Natur und Naivetät entfremdeten Menſchenclaſſe über.
Auch der hämiſche, verſchloſſene, tuckmäuſeriſche, frivole, böſe Menſch,
ganz abgeſehen von einer allgemeinen Bildungsform der Zeiten, zeigt
dieß halbe, abgezwickte Mienenſpiel; „dagegen auf dem Geſichte der
griechiſchen Helden zeiget ſich kein ſpitzfindiger, leichtfertiger oder liſtiger,
noch weniger höhniſcher Blick, ſondern die Unſchuld ſchwebet mit einer zu-
verſichtlichen Stille auf denſelben“ (Winkelmann a. a. O. Bd. II, S. 146).
Oeffnet ſich ein ſolches Gemüth der momentanen Stimmung und drückt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p>
                      <pb facs="#f0110" n="436"/> <hi rendition="#fr"><note place="left">2</note>&#x017F;ich ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Gemüthes i&#x017F;t. Hiermit fällt, &#x017F;ofern nicht anderweitige &#x017F;ta-<lb/>
tuari&#x017F;che Eigen&#x017F;chaften &#x017F;olche Dar&#x017F;tellungen in be&#x017F;chränkter Wei&#x017F;e rechtfertigen,<lb/>
das ganze Gebiet von Zu&#x017F;tänden und Erregungen weg, welche der &#x017F;ubjectiven<lb/>
Innerlichkeit angehören und der Be&#x017F;timmung in §. 605, <hi rendition="#sub">1.</hi> wider&#x017F;prechen.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">1. Die er&#x017F;te Be&#x017F;chränkung, die des Gebiets der bewegten Phy&#x017F;iogno-<lb/>
mik oder der Mimik (vergl. §. 339), folgt deutlich aus der Forderung<lb/>
ganzer und voller Affecte, wie &#x017F;ie eine offene, große, &#x017F;innlich-&#x017F;ittliche<lb/>
Seele bewegen. Die Flüchtigkeit an &#x017F;ich wäre es nicht, was hier dem<lb/>
Bildner Grenzen &#x017F;etzt, denn wir haben läng&#x017F;t erkannt, daß ihm die Feß-<lb/>
lung des eilig&#x017F;ten Moments, wenn nur kein innerer, qualitativer Grund<lb/>
dagegen &#x017F;pricht, erlaubt i&#x017F;t. Hegel nennt das kleine Spiel der Mienen<lb/>
und Gebärden, von denen hier die Rede i&#x017F;t, das Mienenhafte (Ae&#x017F;th.<lb/>
Th. <hi rendition="#aq">II</hi>, S. 374. 375); er faßt aber das verbotene Gebiet zu weit, denn<lb/>
nicht alles Mienenhafte, nicht jeder flüchtige Strahl oder Schatten inne-<lb/>
rer Seelenregung, der &#x017F;ich in kleineren Bewegungen der Glieder und<lb/>
Ge&#x017F;ichtszüge ausdrückt, i&#x017F;t, wie er meint, Ausdruck eines für die pla&#x017F;ti&#x017F;che<lb/>
Auffa&#x017F;&#x017F;ung zu &#x017F;ubjectiven Lebens. Es gibt ein Lächeln, ein Nicken, ein<lb/>
Stirnrunzeln, Auf- und Niederziehen der Lippen, das einer ganz gedie-<lb/>
genen, naiven Seele angehört; da&#x017F;&#x017F;elbe i&#x017F;t wohl zu unter&#x017F;cheiden von<lb/>
jenem mimi&#x017F;chen Spiele, wie es der in &#x017F;ich ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Subjectivität<lb/>
eigen i&#x017F;t, die &#x017F;ich hinter ihre Er&#x017F;cheinung verbirgt, ihr Inneres nicht im<lb/>
Ganzen und Großen herausläßt, &#x017F;ondern nur die Oberfläche, &#x017F;o zu &#x017F;a-<lb/>
gen die äußer&#x017F;ten Spitzen der be&#x017F;onders &#x017F;prechenden Theile der Ge&#x017F;talt<lb/>
den Eindrücken &#x017F;o weit Preis gibt, daß die&#x017F;e durch ein flüchtiges Zucken,<lb/>
z. B. der Augenlider, der Mundwinkel, der Finger zu &#x017F;agen &#x017F;cheinen: ich will<lb/>
wohl merken la&#x017F;&#x017F;en, daß ich Eindrücke, Urtheile habe, aber nur in der<lb/>
andeutenden Wei&#x017F;e, die keinen weitern Blick in mein Inneres ge&#x017F;tattet.<lb/>
Es i&#x017F;t dieß noch nicht eigentliche Bla&#x017F;irtheit des eitel zugeknöpften Sub-<lb/>
jects und Lorgnettenge&#x017F;ichts, der moderne Men&#x017F;ch überhaupt hat im All-<lb/>
gemeinen dieß kurz angebundene Agiren, das hinter der Scheidewand<lb/>
der Ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit nur leicht und vornehm einen andeutenden Finger<lb/>
hervor&#x017F;treckt, aber freilich geht es leicht und häufig in jene widerliche<lb/>
Form einer aller Natur und Naivetät entfremdeten Men&#x017F;chencla&#x017F;&#x017F;e über.<lb/>
Auch der hämi&#x017F;che, ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene, tuckmäu&#x017F;eri&#x017F;che, frivole, bö&#x017F;e Men&#x017F;ch,<lb/>
ganz abge&#x017F;ehen von einer allgemeinen Bildungsform der Zeiten, zeigt<lb/>
dieß halbe, abgezwickte Mienen&#x017F;piel; &#x201E;dagegen auf dem Ge&#x017F;ichte der<lb/>
griechi&#x017F;chen Helden zeiget &#x017F;ich kein &#x017F;pitzfindiger, leichtfertiger oder li&#x017F;tiger,<lb/>
noch weniger höhni&#x017F;cher Blick, &#x017F;ondern die Un&#x017F;chuld &#x017F;chwebet mit einer zu-<lb/>
ver&#x017F;ichtlichen Stille auf den&#x017F;elben&#x201C; (Winkelmann a. a. O. Bd. <hi rendition="#aq">II</hi>, S. 146).<lb/>
Oeffnet &#x017F;ich ein &#x017F;olches Gemüth der momentanen Stimmung und drückt<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[436/0110] ſich verſchloſſenen Gemüthes iſt. Hiermit fällt, ſofern nicht anderweitige ſta- tuariſche Eigenſchaften ſolche Darſtellungen in beſchränkter Weiſe rechtfertigen, das ganze Gebiet von Zuſtänden und Erregungen weg, welche der ſubjectiven Innerlichkeit angehören und der Beſtimmung in §. 605, 1. widerſprechen. 1. Die erſte Beſchränkung, die des Gebiets der bewegten Phyſiogno- mik oder der Mimik (vergl. §. 339), folgt deutlich aus der Forderung ganzer und voller Affecte, wie ſie eine offene, große, ſinnlich-ſittliche Seele bewegen. Die Flüchtigkeit an ſich wäre es nicht, was hier dem Bildner Grenzen ſetzt, denn wir haben längſt erkannt, daß ihm die Feß- lung des eiligſten Moments, wenn nur kein innerer, qualitativer Grund dagegen ſpricht, erlaubt iſt. Hegel nennt das kleine Spiel der Mienen und Gebärden, von denen hier die Rede iſt, das Mienenhafte (Aeſth. Th. II, S. 374. 375); er faßt aber das verbotene Gebiet zu weit, denn nicht alles Mienenhafte, nicht jeder flüchtige Strahl oder Schatten inne- rer Seelenregung, der ſich in kleineren Bewegungen der Glieder und Geſichtszüge ausdrückt, iſt, wie er meint, Ausdruck eines für die plaſtiſche Auffaſſung zu ſubjectiven Lebens. Es gibt ein Lächeln, ein Nicken, ein Stirnrunzeln, Auf- und Niederziehen der Lippen, das einer ganz gedie- genen, naiven Seele angehört; daſſelbe iſt wohl zu unterſcheiden von jenem mimiſchen Spiele, wie es der in ſich verſchloſſenen Subjectivität eigen iſt, die ſich hinter ihre Erſcheinung verbirgt, ihr Inneres nicht im Ganzen und Großen herausläßt, ſondern nur die Oberfläche, ſo zu ſa- gen die äußerſten Spitzen der beſonders ſprechenden Theile der Geſtalt den Eindrücken ſo weit Preis gibt, daß dieſe durch ein flüchtiges Zucken, z. B. der Augenlider, der Mundwinkel, der Finger zu ſagen ſcheinen: ich will wohl merken laſſen, daß ich Eindrücke, Urtheile habe, aber nur in der andeutenden Weiſe, die keinen weitern Blick in mein Inneres geſtattet. Es iſt dieß noch nicht eigentliche Blaſirtheit des eitel zugeknöpften Sub- jects und Lorgnettengeſichts, der moderne Menſch überhaupt hat im All- gemeinen dieß kurz angebundene Agiren, das hinter der Scheidewand der Verſchloſſenheit nur leicht und vornehm einen andeutenden Finger hervorſtreckt, aber freilich geht es leicht und häufig in jene widerliche Form einer aller Natur und Naivetät entfremdeten Menſchenclaſſe über. Auch der hämiſche, verſchloſſene, tuckmäuſeriſche, frivole, böſe Menſch, ganz abgeſehen von einer allgemeinen Bildungsform der Zeiten, zeigt dieß halbe, abgezwickte Mienenſpiel; „dagegen auf dem Geſichte der griechiſchen Helden zeiget ſich kein ſpitzfindiger, leichtfertiger oder liſtiger, noch weniger höhniſcher Blick, ſondern die Unſchuld ſchwebet mit einer zu- verſichtlichen Stille auf denſelben“ (Winkelmann a. a. O. Bd. II, S. 146). Oeffnet ſich ein ſolches Gemüth der momentanen Stimmung und drückt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/110
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/110>, abgerufen am 21.11.2024.