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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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und Thüren ohne Unterschied sein; ein solcher ist unpersönlich, man soll
dem Bau ansehen, daß zwischen den untergeordneten Gelassen für die Be-
dürfnisse ein bevorzugter Raum die Bewohner zum freien geselligen Zusammen-
sein vereinigt; dieser soll sich als idealer Kern, als herrschende Mitte
reicher gegliedert und verziert hervorheben. Natürlich ist dabei nicht buch-
stäblich an einen Einzelnen, sondern an eine Familie gedacht; die Familie
ist Prototyp des Staats und das edlere Wohnhaus daher bereits auch
Prototyp der öffentlichen Bauten. Im Hause des Landmanns herrschen
nothwendig die Gelasse für Vorräthe, Vieh u. s. w. im Umfange sehr
stark über jenen Mittelpunct vor, es ist Prototyp des Gesammtlebens in
seinen primitiven Zuständen; es wäre sehr anziehend, bei der ländlichen
Architektur, namentlich dem schönen idyllischen Holzbau des alemannischen
Deutschlands und der Schweiz zu verweilen, es ist aber hauptsächlich das
bürgerliche Wohnhaus in der größeren, Städtebildenden Gemeinde, das
hier zur Sprache kommen muß. Das antike Haus wendet seine be-
deutendste Seite nach innen: der umsäulte Hof, nach welchem alle Ge-
mächer münden, obwohl nicht nach der Straße gekehrt, ist hier das Vor-
bild des öffentlichen Platzes, der Agora, des Forums; das neuere Haus
wirft eine Facade nach der Straße, durch die es verkündigt, daß der
Einzelne dem Ganzen angehört, legt gewöhnlich die edleren Räume in
den mittleren Stock und spricht ihren Werth durch erhöhte architektonische
Schönheit, durch einen reichsten Mittelpunct in dem reicheren Stockwerk
aus, öffnet sie auch wohl durch Loggia, Balkon, Erker nach außen; in
jenem ländlichen Holzbau entsprechen die zierlichen Galerien dieser Be-
deutung. Unter dem Palaste, zu dem wir nun übergehen, wird hier nur
der Privatpalast verstanden. Es ist hier allerdings eine logische Schwierig-
keit: im monarchischen Staate ist der fürstliche Palast zugleich Privatge-
bäude und zugleich soll er das Ganze des Staates im concentrirtesten
Sinne darstellen; da müßte er an die Spitze der Eintheilung im §. ge-
stellt werden. Wir sehen aber auf die Sache und stellen die Gebäude für
öffentliche Thätigkeiten an die Spitze. Im Palaste, wenn man ihn in
seiner richtigen Bedeutung nimmt, steigert sich denn das Privathaus für
sich zur Idealität; er ist für diese Gattung, was der Tempel für das
Ganze aller Gattungen ist. Da er die Blüthe glücklicher Humanität dar-
stellt, so werden selbst die untergeordneten Gelasse durch ihren Reichthum
die Erleichterung und Veredlung des Bedürfnisses anzeigen, für die Räume
des reinen Genusses wird daher noch höhere Pracht gefordert. Für diese
Steigerung des Einzelnen im Staate soll aber der Palast durch den
Charakter des Einladenden, heiter und gastfrei Geöffneten seinen Tribut
an das Ganze zahlen. Das Wohnhaus erhält nun aber seine öffentliche
Bedeutung wesentlich durch die Vielheit, sie ist die Heerde, die in den

und Thüren ohne Unterſchied ſein; ein ſolcher iſt unperſönlich, man ſoll
dem Bau anſehen, daß zwiſchen den untergeordneten Gelaſſen für die Be-
dürfniſſe ein bevorzugter Raum die Bewohner zum freien geſelligen Zuſammen-
ſein vereinigt; dieſer ſoll ſich als idealer Kern, als herrſchende Mitte
reicher gegliedert und verziert hervorheben. Natürlich iſt dabei nicht buch-
ſtäblich an einen Einzelnen, ſondern an eine Familie gedacht; die Familie
iſt Prototyp des Staats und das edlere Wohnhaus daher bereits auch
Prototyp der öffentlichen Bauten. Im Hauſe des Landmanns herrſchen
nothwendig die Gelaſſe für Vorräthe, Vieh u. ſ. w. im Umfange ſehr
ſtark über jenen Mittelpunct vor, es iſt Prototyp des Geſammtlebens in
ſeinen primitiven Zuſtänden; es wäre ſehr anziehend, bei der ländlichen
Architektur, namentlich dem ſchönen idylliſchen Holzbau des alemanniſchen
Deutſchlands und der Schweiz zu verweilen, es iſt aber hauptſächlich das
bürgerliche Wohnhaus in der größeren, Städtebildenden Gemeinde, das
hier zur Sprache kommen muß. Das antike Haus wendet ſeine be-
deutendſte Seite nach innen: der umſäulte Hof, nach welchem alle Ge-
mächer münden, obwohl nicht nach der Straße gekehrt, iſt hier das Vor-
bild des öffentlichen Platzes, der Agora, des Forums; das neuere Haus
wirft eine Façade nach der Straße, durch die es verkündigt, daß der
Einzelne dem Ganzen angehört, legt gewöhnlich die edleren Räume in
den mittleren Stock und ſpricht ihren Werth durch erhöhte architektoniſche
Schönheit, durch einen reichſten Mittelpunct in dem reicheren Stockwerk
aus, öffnet ſie auch wohl durch Loggia, Balkon, Erker nach außen; in
jenem ländlichen Holzbau entſprechen die zierlichen Galerien dieſer Be-
deutung. Unter dem Palaſte, zu dem wir nun übergehen, wird hier nur
der Privatpalaſt verſtanden. Es iſt hier allerdings eine logiſche Schwierig-
keit: im monarchiſchen Staate iſt der fürſtliche Palaſt zugleich Privatge-
bäude und zugleich ſoll er das Ganze des Staates im concentrirteſten
Sinne darſtellen; da müßte er an die Spitze der Eintheilung im §. ge-
ſtellt werden. Wir ſehen aber auf die Sache und ſtellen die Gebäude für
öffentliche Thätigkeiten an die Spitze. Im Palaſte, wenn man ihn in
ſeiner richtigen Bedeutung nimmt, ſteigert ſich denn das Privathaus für
ſich zur Idealität; er iſt für dieſe Gattung, was der Tempel für das
Ganze aller Gattungen iſt. Da er die Blüthe glücklicher Humanität dar-
ſtellt, ſo werden ſelbſt die untergeordneten Gelaſſe durch ihren Reichthum
die Erleichterung und Veredlung des Bedürfniſſes anzeigen, für die Räume
des reinen Genuſſes wird daher noch höhere Pracht gefordert. Für dieſe
Steigerung des Einzelnen im Staate ſoll aber der Palaſt durch den
Charakter des Einladenden, heiter und gaſtfrei Geöffneten ſeinen Tribut
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[257/0097] und Thüren ohne Unterſchied ſein; ein ſolcher iſt unperſönlich, man ſoll dem Bau anſehen, daß zwiſchen den untergeordneten Gelaſſen für die Be- dürfniſſe ein bevorzugter Raum die Bewohner zum freien geſelligen Zuſammen- ſein vereinigt; dieſer ſoll ſich als idealer Kern, als herrſchende Mitte reicher gegliedert und verziert hervorheben. Natürlich iſt dabei nicht buch- ſtäblich an einen Einzelnen, ſondern an eine Familie gedacht; die Familie iſt Prototyp des Staats und das edlere Wohnhaus daher bereits auch Prototyp der öffentlichen Bauten. Im Hauſe des Landmanns herrſchen nothwendig die Gelaſſe für Vorräthe, Vieh u. ſ. w. im Umfange ſehr ſtark über jenen Mittelpunct vor, es iſt Prototyp des Geſammtlebens in ſeinen primitiven Zuſtänden; es wäre ſehr anziehend, bei der ländlichen Architektur, namentlich dem ſchönen idylliſchen Holzbau des alemanniſchen Deutſchlands und der Schweiz zu verweilen, es iſt aber hauptſächlich das bürgerliche Wohnhaus in der größeren, Städtebildenden Gemeinde, das hier zur Sprache kommen muß. Das antike Haus wendet ſeine be- deutendſte Seite nach innen: der umſäulte Hof, nach welchem alle Ge- mächer münden, obwohl nicht nach der Straße gekehrt, iſt hier das Vor- bild des öffentlichen Platzes, der Agora, des Forums; das neuere Haus wirft eine Façade nach der Straße, durch die es verkündigt, daß der Einzelne dem Ganzen angehört, legt gewöhnlich die edleren Räume in den mittleren Stock und ſpricht ihren Werth durch erhöhte architektoniſche Schönheit, durch einen reichſten Mittelpunct in dem reicheren Stockwerk aus, öffnet ſie auch wohl durch Loggia, Balkon, Erker nach außen; in jenem ländlichen Holzbau entſprechen die zierlichen Galerien dieſer Be- deutung. Unter dem Palaſte, zu dem wir nun übergehen, wird hier nur der Privatpalaſt verſtanden. Es iſt hier allerdings eine logiſche Schwierig- keit: im monarchiſchen Staate iſt der fürſtliche Palaſt zugleich Privatge- bäude und zugleich ſoll er das Ganze des Staates im concentrirteſten Sinne darſtellen; da müßte er an die Spitze der Eintheilung im §. ge- ſtellt werden. Wir ſehen aber auf die Sache und ſtellen die Gebäude für öffentliche Thätigkeiten an die Spitze. Im Palaſte, wenn man ihn in ſeiner richtigen Bedeutung nimmt, ſteigert ſich denn das Privathaus für ſich zur Idealität; er iſt für dieſe Gattung, was der Tempel für das Ganze aller Gattungen iſt. Da er die Blüthe glücklicher Humanität dar- ſtellt, ſo werden ſelbſt die untergeordneten Gelaſſe durch ihren Reichthum die Erleichterung und Veredlung des Bedürfniſſes anzeigen, für die Räume des reinen Genuſſes wird daher noch höhere Pracht gefordert. Für dieſe Steigerung des Einzelnen im Staate ſoll aber der Palaſt durch den Charakter des Einladenden, heiter und gaſtfrei Geöffneten ſeinen Tribut an das Ganze zahlen. Das Wohnhaus erhält nun aber ſeine öffentliche Bedeutung weſentlich durch die Vielheit, ſie iſt die Heerde, die in den

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/97>, abgerufen am 22.11.2024.