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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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gemeinen, die Symmetrie nun unter sich begreifenden Ausdruck haben,
aber auch dieser muß sich in einer streng geometrischen Kunst in einem
Zahlenverhältniß äußern. Nur bewegt sich jetzt die Zählung in andern
Richtungen und ist nicht mehr von einem gleichen Maaße gezählter Theile
die Rede. So gibt denn in der Richtung der Höhe das Tragende und
Getragene einen vollen Zweischlag, nimmt man den Unterbau dazu, so
ist es ein Dreischlag. Unterscheidet man zwischen Dach und Säule oder
Wand das Mittelglied des Gebälkes, so spricht sich ohne den Unterbau
wieder eine Drei, mit diesem eine Vier aus. Zieht man das Massen-
theilende und Raumöffnende bei, so tritt in der Mauer Sockel, Haupt-
fläche, Fries, in den frei stützenden Körpern Fuß, Schaft, Capitell, im
gothisch gegliederten Thurme Viereck, Achteck, Helm einander im Drei-
Tacte gegenüber. Im Kreuzgewölbe scheiden sich vier Felder, der Schluß-
stein als herrschende Mitte eingezählt gibt die Fünf. Im Wohnhaus wird
die Zahl von drei Stockwerken die rhythmisch beste sein. Geht man dem
Grundriß nach in die Länge und Breite, so gibt im griechischen Tempel
die Celle mit Vor- und Hinterhalle eine Drei, dieß Ganze mit dem
Säulen-Umgang eine Zwei; der gothische Bau läßt verschiedene Aus-
gangspuncte der Zählung zu: die Vierung als herrschende Mitte mit den
vier Ausstrahlungen Chor, Querschiffe, Langschiff bildet eine Fünf; nimmt
man den Chor als reichern Vorschuß des Centralpuncts der Vierung mit
diesem zusammen und so als Herrschendes, so schickt dieser Kern zwei
Arme nach der Seite, einen dritten in gerader Richtung aus; geht man
aber von der Facade aus, so hat man im Langschiff den einheitlichen
Ausgang, der sich in den Quer-Schiffen nach zwei Seiten auseinander-
schlägt und in der Schluß-Einheit des Chors wieder zusammenfaßt. Die
Verschiedenheit dieser Zählungsweisen, deren eine wie die andere zuläßig
ist, beweist nun aber allerdings, daß die Zahl nicht der Kern des ästhe-
tischen Geheimnisses, sondern nur sein Ausdruck ist; das Wesen der Sache
ist die Bewegung mit ihren gegensätzlichen Wendungen und ansammelnden
Ruhepuncten, diesen Tactschlägen mit den Ausathmungen dazwischen; im
ästhetischen Genusse läuft ein Zählen dieser Momente nur dunkel und
halbbewußt unter, wirft sich das Bewußtsein darauf, so kann verschieden
gezählt werden, nur daß die Progressionen der geraden oder ungeraden
Zahl auf die bezeichnete Weise einen Zwei- oder Dreischlag mit den ge-
nannten Fortschreitungen immer unterscheiden lassen. Jede weitere mystische
Ausdeutung ist schon zu §. 561 Anm. 1. abgewiesen. Eine solche hat sich
namentlich an die Messungs-Verhältnisse der gothischen Baukunst gehängt,
denen man ein allegorisches Zahlen-Geheimniß unterlegte, das in ihren
Gewerks-Vereinen bewahrt sein sollte. Die Grundzahl soll im polygonen
Chorschluß gegeben sein: ist er dreiseitig aus dem Achtecke construirt, so

gemeinen, die Symmetrie nun unter ſich begreifenden Ausdruck haben,
aber auch dieſer muß ſich in einer ſtreng geometriſchen Kunſt in einem
Zahlenverhältniß äußern. Nur bewegt ſich jetzt die Zählung in andern
Richtungen und iſt nicht mehr von einem gleichen Maaße gezählter Theile
die Rede. So gibt denn in der Richtung der Höhe das Tragende und
Getragene einen vollen Zweiſchlag, nimmt man den Unterbau dazu, ſo
iſt es ein Dreiſchlag. Unterſcheidet man zwiſchen Dach und Säule oder
Wand das Mittelglied des Gebälkes, ſo ſpricht ſich ohne den Unterbau
wieder eine Drei, mit dieſem eine Vier aus. Zieht man das Maſſen-
theilende und Raumöffnende bei, ſo tritt in der Mauer Sockel, Haupt-
fläche, Fries, in den frei ſtützenden Körpern Fuß, Schaft, Capitell, im
gothiſch gegliederten Thurme Viereck, Achteck, Helm einander im Drei-
Tacte gegenüber. Im Kreuzgewölbe ſcheiden ſich vier Felder, der Schluß-
ſtein als herrſchende Mitte eingezählt gibt die Fünf. Im Wohnhaus wird
die Zahl von drei Stockwerken die rhythmiſch beſte ſein. Geht man dem
Grundriß nach in die Länge und Breite, ſo gibt im griechiſchen Tempel
die Celle mit Vor- und Hinterhalle eine Drei, dieß Ganze mit dem
Säulen-Umgang eine Zwei; der gothiſche Bau läßt verſchiedene Aus-
gangspuncte der Zählung zu: die Vierung als herrſchende Mitte mit den
vier Ausſtrahlungen Chor, Querſchiffe, Langſchiff bildet eine Fünf; nimmt
man den Chor als reichern Vorſchuß des Centralpuncts der Vierung mit
dieſem zuſammen und ſo als Herrſchendes, ſo ſchickt dieſer Kern zwei
Arme nach der Seite, einen dritten in gerader Richtung aus; geht man
aber von der Façade aus, ſo hat man im Langſchiff den einheitlichen
Ausgang, der ſich in den Quer-Schiffen nach zwei Seiten auseinander-
ſchlägt und in der Schluß-Einheit des Chors wieder zuſammenfaßt. Die
Verſchiedenheit dieſer Zählungsweiſen, deren eine wie die andere zuläßig
iſt, beweist nun aber allerdings, daß die Zahl nicht der Kern des äſthe-
tiſchen Geheimniſſes, ſondern nur ſein Ausdruck iſt; das Weſen der Sache
iſt die Bewegung mit ihren gegenſätzlichen Wendungen und anſammelnden
Ruhepuncten, dieſen Tactſchlägen mit den Ausathmungen dazwiſchen; im
äſthetiſchen Genuſſe läuft ein Zählen dieſer Momente nur dunkel und
halbbewußt unter, wirft ſich das Bewußtſein darauf, ſo kann verſchieden
gezählt werden, nur daß die Progreſſionen der geraden oder ungeraden
Zahl auf die bezeichnete Weiſe einen Zwei- oder Dreiſchlag mit den ge-
nannten Fortſchreitungen immer unterſcheiden laſſen. Jede weitere myſtiſche
Ausdeutung iſt ſchon zu §. 561 Anm. 1. abgewieſen. Eine ſolche hat ſich
namentlich an die Meſſungs-Verhältniſſe der gothiſchen Baukunſt gehängt,
denen man ein allegoriſches Zahlen-Geheimniß unterlegte, das in ihren
Gewerks-Vereinen bewahrt ſein ſollte. Die Grundzahl ſoll im polygonen
Chorſchluß gegeben ſein: iſt er dreiſeitig aus dem Achtecke conſtruirt, ſo

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[235/0075] gemeinen, die Symmetrie nun unter ſich begreifenden Ausdruck haben, aber auch dieſer muß ſich in einer ſtreng geometriſchen Kunſt in einem Zahlenverhältniß äußern. Nur bewegt ſich jetzt die Zählung in andern Richtungen und iſt nicht mehr von einem gleichen Maaße gezählter Theile die Rede. So gibt denn in der Richtung der Höhe das Tragende und Getragene einen vollen Zweiſchlag, nimmt man den Unterbau dazu, ſo iſt es ein Dreiſchlag. Unterſcheidet man zwiſchen Dach und Säule oder Wand das Mittelglied des Gebälkes, ſo ſpricht ſich ohne den Unterbau wieder eine Drei, mit dieſem eine Vier aus. Zieht man das Maſſen- theilende und Raumöffnende bei, ſo tritt in der Mauer Sockel, Haupt- fläche, Fries, in den frei ſtützenden Körpern Fuß, Schaft, Capitell, im gothiſch gegliederten Thurme Viereck, Achteck, Helm einander im Drei- Tacte gegenüber. Im Kreuzgewölbe ſcheiden ſich vier Felder, der Schluß- ſtein als herrſchende Mitte eingezählt gibt die Fünf. Im Wohnhaus wird die Zahl von drei Stockwerken die rhythmiſch beſte ſein. Geht man dem Grundriß nach in die Länge und Breite, ſo gibt im griechiſchen Tempel die Celle mit Vor- und Hinterhalle eine Drei, dieß Ganze mit dem Säulen-Umgang eine Zwei; der gothiſche Bau läßt verſchiedene Aus- gangspuncte der Zählung zu: die Vierung als herrſchende Mitte mit den vier Ausſtrahlungen Chor, Querſchiffe, Langſchiff bildet eine Fünf; nimmt man den Chor als reichern Vorſchuß des Centralpuncts der Vierung mit dieſem zuſammen und ſo als Herrſchendes, ſo ſchickt dieſer Kern zwei Arme nach der Seite, einen dritten in gerader Richtung aus; geht man aber von der Façade aus, ſo hat man im Langſchiff den einheitlichen Ausgang, der ſich in den Quer-Schiffen nach zwei Seiten auseinander- ſchlägt und in der Schluß-Einheit des Chors wieder zuſammenfaßt. Die Verſchiedenheit dieſer Zählungsweiſen, deren eine wie die andere zuläßig iſt, beweist nun aber allerdings, daß die Zahl nicht der Kern des äſthe- tiſchen Geheimniſſes, ſondern nur ſein Ausdruck iſt; das Weſen der Sache iſt die Bewegung mit ihren gegenſätzlichen Wendungen und anſammelnden Ruhepuncten, dieſen Tactſchlägen mit den Ausathmungen dazwiſchen; im äſthetiſchen Genuſſe läuft ein Zählen dieſer Momente nur dunkel und halbbewußt unter, wirft ſich das Bewußtſein darauf, ſo kann verſchieden gezählt werden, nur daß die Progreſſionen der geraden oder ungeraden Zahl auf die bezeichnete Weiſe einen Zwei- oder Dreiſchlag mit den ge- nannten Fortſchreitungen immer unterſcheiden laſſen. Jede weitere myſtiſche Ausdeutung iſt ſchon zu §. 561 Anm. 1. abgewieſen. Eine ſolche hat ſich namentlich an die Meſſungs-Verhältniſſe der gothiſchen Baukunſt gehängt, denen man ein allegoriſches Zahlen-Geheimniß unterlegte, das in ihren Gewerks-Vereinen bewahrt ſein ſollte. Die Grundzahl ſoll im polygonen Chorſchluß gegeben ſein: iſt er dreiſeitig aus dem Achtecke conſtruirt, ſo

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/75>, abgerufen am 25.11.2024.