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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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schlechten Formen unmittelbar architektonisch in's Auge. Man darf natür-
lich den Cultuszweck nicht zu enge nehmen: das Götterbild oder die
Gemeinde soll nicht nur gehörigen, sondern würdigen Raum haben, worin
das Gemüth entsprechend der Stimmung, die in der Art der Gottesver-
ehrung liegt, sich erweitern kann. Inhaltsvoller entfaltet sich das Gesetz
der Oekonomie, wenn sich der Bau dem umfassenderen Zwecke gemäß
mehrfach gliedert, wie in der reich entwickelten Kreuzesform der gothischen
Kirche, verglichen mit dem einfachen Säulenhause der Griechen, am inhalt-
vollsten, wenn eine ganze Gruppe von Gebäuden Einen Gedanken darzu-
stellen hat. Nach der structiven Seite, deren innige Einheit mit der ästhe-
tischen Belebung schon erläutert ist, gebietet das ökonomische Gesetz, keine
Kraft zu verschwenden, sondern sie an der rechten Stelle so zu sparen, daß sie
an der andern mit um so vollerer Wirkung entwickelt werden kann, und um-
gekehrt durch Kraftaufwand am rechten Orte Ersparniß am andern zu gewinnen,
allerdings also mit möglichst wenigen Mitteln das möglich Bedeutendste zu wir-
ken, nur daß dabei nicht vergessen werde, wie jede Zurückhaltung und Entfal-
tung der Kraft im ästhetischen Gebiete auch vollkommen erscheinen muß. Da
dieß ein Wechselverhältniß aller Theile voraussetzt, so führt das Gesetz der
Oekonomie bereits auf das tiefere der durchgängigen Gliederung, wonach
nichts im Bau hervortreten soll, was nicht ein Moment ist in jener gegen-
seitigen Spannung des Ganzen, worin Alles trägt und getragen, hält
und gehalten wird. Nur kommt dieses tiefere Gesetz noch nicht nach
seinem positiven innern Grunde, sondern erst äußerlich, negativ, quanti-
tativ zur Sprache. Es handelt sich um das Zuviel und Zuwenig, die
nur zwei Kehrseiten desselben Fehlers sind. Eine Säule, die nichts trägt,
ein schwebender Anbau (z. B. Balkon), dessen Unterstützung nicht augen-
fällig ist, Säule und Gebälk, die vor einer gewölbten Oeffnung, welche
ihrer nicht bedarf, rein decorativ vorspringen: Alles dieß ist sowohl Zuviel,
als Zuwenig. Es versteht sich, daß es verschiedene Grade der Innigkeit
gibt, womit die einzelnen Theile als Glieder organisirt werden. Das
Dach trägt nicht ebenso, wie es getragen wird, wiewohl es in anderer
Weise wesentlich dem Ganzen dient, nicht nur als mechanischer Schutz,
sondern auch als ästhetischer Abschluß; die horizontale Deckung trägt zwar
die Decktafeln (Kalymmata) und, wenn man die Triglyphen mit ihr
zusammenfaßt, das Kranzgesimse und die Dachsparren, aber sie trägt nicht
so viel wie die Säule; dagegen übt die gewölbte Decke eine ungleich
stärkere, organisch eingreifendere Thätigkeit aus. Vom Standpuncte der
Oekonomie betrachtet ist nun an diesen zwei Hauptsystemen namentlich in's
Auge zu fassen, wie der griechische Styl den rohen Pfeiler auf die Säule,
diese vom plumpen auf den schlankeren Schaft reduzirt und indem er alle
Last auf die Säulen-Axen wirft, eine straffe Sparsamkeit entwickelt, wie

ſchlechten Formen unmittelbar architektoniſch in’s Auge. Man darf natür-
lich den Cultuszweck nicht zu enge nehmen: das Götterbild oder die
Gemeinde ſoll nicht nur gehörigen, ſondern würdigen Raum haben, worin
das Gemüth entſprechend der Stimmung, die in der Art der Gottesver-
ehrung liegt, ſich erweitern kann. Inhaltsvoller entfaltet ſich das Geſetz
der Oekonomie, wenn ſich der Bau dem umfaſſenderen Zwecke gemäß
mehrfach gliedert, wie in der reich entwickelten Kreuzesform der gothiſchen
Kirche, verglichen mit dem einfachen Säulenhauſe der Griechen, am inhalt-
vollſten, wenn eine ganze Gruppe von Gebäuden Einen Gedanken darzu-
ſtellen hat. Nach der ſtructiven Seite, deren innige Einheit mit der äſthe-
tiſchen Belebung ſchon erläutert iſt, gebietet das ökonomiſche Geſetz, keine
Kraft zu verſchwenden, ſondern ſie an der rechten Stelle ſo zu ſparen, daß ſie
an der andern mit um ſo vollerer Wirkung entwickelt werden kann, und um-
gekehrt durch Kraftaufwand am rechten Orte Erſparniß am andern zu gewinnen,
allerdings alſo mit möglichſt wenigen Mitteln das möglich Bedeutendſte zu wir-
ken, nur daß dabei nicht vergeſſen werde, wie jede Zurückhaltung und Entfal-
tung der Kraft im äſthetiſchen Gebiete auch vollkommen erſcheinen muß. Da
dieß ein Wechſelverhältniß aller Theile vorausſetzt, ſo führt das Geſetz der
Oekonomie bereits auf das tiefere der durchgängigen Gliederung, wonach
nichts im Bau hervortreten ſoll, was nicht ein Moment iſt in jener gegen-
ſeitigen Spannung des Ganzen, worin Alles trägt und getragen, hält
und gehalten wird. Nur kommt dieſes tiefere Geſetz noch nicht nach
ſeinem poſitiven innern Grunde, ſondern erſt äußerlich, negativ, quanti-
tativ zur Sprache. Es handelt ſich um das Zuviel und Zuwenig, die
nur zwei Kehrſeiten deſſelben Fehlers ſind. Eine Säule, die nichts trägt,
ein ſchwebender Anbau (z. B. Balkon), deſſen Unterſtützung nicht augen-
fällig iſt, Säule und Gebälk, die vor einer gewölbten Oeffnung, welche
ihrer nicht bedarf, rein decorativ vorſpringen: Alles dieß iſt ſowohl Zuviel,
als Zuwenig. Es verſteht ſich, daß es verſchiedene Grade der Innigkeit
gibt, womit die einzelnen Theile als Glieder organiſirt werden. Das
Dach trägt nicht ebenſo, wie es getragen wird, wiewohl es in anderer
Weiſe weſentlich dem Ganzen dient, nicht nur als mechaniſcher Schutz,
ſondern auch als äſthetiſcher Abſchluß; die horizontale Deckung trägt zwar
die Decktafeln (Kalymmata) und, wenn man die Triglyphen mit ihr
zuſammenfaßt, das Kranzgeſimſe und die Dachſparren, aber ſie trägt nicht
ſo viel wie die Säule; dagegen übt die gewölbte Decke eine ungleich
ſtärkere, organiſch eingreifendere Thätigkeit aus. Vom Standpuncte der
Oekonomie betrachtet iſt nun an dieſen zwei Hauptſyſtemen namentlich in’s
Auge zu faſſen, wie der griechiſche Styl den rohen Pfeiler auf die Säule,
dieſe vom plumpen auf den ſchlankeren Schaft reduzirt und indem er alle
Laſt auf die Säulen-Axen wirft, eine ſtraffe Sparſamkeit entwickelt, wie

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[225/0065] ſchlechten Formen unmittelbar architektoniſch in’s Auge. Man darf natür- lich den Cultuszweck nicht zu enge nehmen: das Götterbild oder die Gemeinde ſoll nicht nur gehörigen, ſondern würdigen Raum haben, worin das Gemüth entſprechend der Stimmung, die in der Art der Gottesver- ehrung liegt, ſich erweitern kann. Inhaltsvoller entfaltet ſich das Geſetz der Oekonomie, wenn ſich der Bau dem umfaſſenderen Zwecke gemäß mehrfach gliedert, wie in der reich entwickelten Kreuzesform der gothiſchen Kirche, verglichen mit dem einfachen Säulenhauſe der Griechen, am inhalt- vollſten, wenn eine ganze Gruppe von Gebäuden Einen Gedanken darzu- ſtellen hat. Nach der ſtructiven Seite, deren innige Einheit mit der äſthe- tiſchen Belebung ſchon erläutert iſt, gebietet das ökonomiſche Geſetz, keine Kraft zu verſchwenden, ſondern ſie an der rechten Stelle ſo zu ſparen, daß ſie an der andern mit um ſo vollerer Wirkung entwickelt werden kann, und um- gekehrt durch Kraftaufwand am rechten Orte Erſparniß am andern zu gewinnen, allerdings alſo mit möglichſt wenigen Mitteln das möglich Bedeutendſte zu wir- ken, nur daß dabei nicht vergeſſen werde, wie jede Zurückhaltung und Entfal- tung der Kraft im äſthetiſchen Gebiete auch vollkommen erſcheinen muß. Da dieß ein Wechſelverhältniß aller Theile vorausſetzt, ſo führt das Geſetz der Oekonomie bereits auf das tiefere der durchgängigen Gliederung, wonach nichts im Bau hervortreten ſoll, was nicht ein Moment iſt in jener gegen- ſeitigen Spannung des Ganzen, worin Alles trägt und getragen, hält und gehalten wird. Nur kommt dieſes tiefere Geſetz noch nicht nach ſeinem poſitiven innern Grunde, ſondern erſt äußerlich, negativ, quanti- tativ zur Sprache. Es handelt ſich um das Zuviel und Zuwenig, die nur zwei Kehrſeiten deſſelben Fehlers ſind. Eine Säule, die nichts trägt, ein ſchwebender Anbau (z. B. Balkon), deſſen Unterſtützung nicht augen- fällig iſt, Säule und Gebälk, die vor einer gewölbten Oeffnung, welche ihrer nicht bedarf, rein decorativ vorſpringen: Alles dieß iſt ſowohl Zuviel, als Zuwenig. Es verſteht ſich, daß es verſchiedene Grade der Innigkeit gibt, womit die einzelnen Theile als Glieder organiſirt werden. Das Dach trägt nicht ebenſo, wie es getragen wird, wiewohl es in anderer Weiſe weſentlich dem Ganzen dient, nicht nur als mechaniſcher Schutz, ſondern auch als äſthetiſcher Abſchluß; die horizontale Deckung trägt zwar die Decktafeln (Kalymmata) und, wenn man die Triglyphen mit ihr zuſammenfaßt, das Kranzgeſimſe und die Dachſparren, aber ſie trägt nicht ſo viel wie die Säule; dagegen übt die gewölbte Decke eine ungleich ſtärkere, organiſch eingreifendere Thätigkeit aus. Vom Standpuncte der Oekonomie betrachtet iſt nun an dieſen zwei Hauptſyſtemen namentlich in’s Auge zu faſſen, wie der griechiſche Styl den rohen Pfeiler auf die Säule, dieſe vom plumpen auf den ſchlankeren Schaft reduzirt und indem er alle Laſt auf die Säulen-Axen wirft, eine ſtraffe Sparſamkeit entwickelt, wie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/65>, abgerufen am 24.11.2024.