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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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als Kreis- und Halbkugel fließt sie in unterschiedsloser Einheit; nur verbunden
mit den Gegensätzen der geraden Linie stellt sie als Kreis- und Kugelaus-
schnitt in allen Formen und Zusammensetzungen, welche möglich sind, ohne das
statische Gesetz aufzuheben, den vollendetsten Anklang innerer Unendlichkeit dar,
der dieser Kunst in ihren structiven
Haupttheilen möglich ist.

1. Wahre, innere Unendlichkeit hat nur jenes Ineinander von Linien
(als Begrenzungen des raumerfüllend Körperlichen), welches der organische
Leib darstellt, in der Durchschnittsbildung zwar meßbar, in der frei spie-
lenden Linie der Individualität unbestimmbar; die Baukunst weist auf
diese vollzogene Gestalt der innern Unendlichkeit nur entfernt hinüber
(vergl. §. 558). Dieses Hinüberweisen liegt aber darin, daß sie den Ver-
lauf der Linie, der in seiner Einfachheit das "schlechte Unendliche" wäre,
durch Zusammenstellung verschiedener Linien bricht. Es versteht sich zwar,
daß die Baukunst nicht eine Linie buchstäblich in's Unendliche fortlaufen
lassen kann, aber sie kann durch Unterlassung architektonischen Abschlusses
diesen Eindruck erregen; dieß zeigt die Pyramide, die nach oben zwar in
ihrer Spitze sich abschließt und so eine Zusammenfassung des breiten
Erdlebens in eine ideale Einheit symbolisirt, aber da sie keine eigentliche
künstlerische Basis hat, den Zuschauer bestimmt, von oben nach unten zu
gehen und die beiden Schenkel als in's Grenzenlose sich absenkend zu
denken: ein unendlicher Prozeß, der in die leere Vorstellung eines un-
organisirten, formlosen Erdlebens hinausführt; sofern in diesen Andeutungen
auch das Politische sich spiegelt, drückt sich darin aus, daß die monarchische
Spitze sich über einer werthlos ungezählten Menge erhebt. In der wahren
Baukunst erscheint die aus zwei schrägen Linien gebildete Spitze nur als
ein auf die bestimmte Basis des Vierecks, Achtecks gestelltes Dreieck. --
Was nun zunächst die allgemeine Bedeutung der Linien (und Flächen)
betrifft, so muß man sich wohl hüten, in der zu §. 561 angegebenen
Weise zu allegorisiren; es ist zunächst der Zweck des Gebäudes und das
statische Gesetz, was die Linien bestimmt, aber wir haben ebenda gesehen,
daß sie in gewissem Sinne doch auch für sich sprechen. Nun, da wir auf
ihre bestimmteren Unterschiede eingehen, kann vorläufig auf den grund-
verschiedenen Eindruck des rechtwinklichen Gebäudes und der Rotunde als
schlagendes Beispiel hingewiesen werden. Die Art, wie wir nun die
Bedeutung der Linien zu bestimmen suchen, weicht einigermaßen von der
in §. 91 und 261 gegebenen ab; dieß ist aber natürlich daraus zu er-
klären, daß dort von Formen der unorganischen Natur die Rede ist, deren
Wirkung nothwendig ein bewegteres Gefühl, so zu sagen mehr Farbe,
lyrischen und dramatischen Ton mit sich führt, als die reine, strenge Linie
der Baukunst. Klarer wird die angegebene Bedeutung werden, wenn die

als Kreis- und Halbkugel fließt ſie in unterſchiedsloſer Einheit; nur verbunden
mit den Gegenſätzen der geraden Linie ſtellt ſie als Kreis- und Kugelaus-
ſchnitt in allen Formen und Zuſammenſetzungen, welche möglich ſind, ohne das
ſtatiſche Geſetz aufzuheben, den vollendetſten Anklang innerer Unendlichkeit dar,
der dieſer Kunſt in ihren ſtructiven
Haupttheilen möglich iſt.

1. Wahre, innere Unendlichkeit hat nur jenes Ineinander von Linien
(als Begrenzungen des raumerfüllend Körperlichen), welches der organiſche
Leib darſtellt, in der Durchſchnittsbildung zwar meßbar, in der frei ſpie-
lenden Linie der Individualität unbeſtimmbar; die Baukunſt weist auf
dieſe vollzogene Geſtalt der innern Unendlichkeit nur entfernt hinüber
(vergl. §. 558). Dieſes Hinüberweiſen liegt aber darin, daß ſie den Ver-
lauf der Linie, der in ſeiner Einfachheit das „ſchlechte Unendliche“ wäre,
durch Zuſammenſtellung verſchiedener Linien bricht. Es verſteht ſich zwar,
daß die Baukunſt nicht eine Linie buchſtäblich in’s Unendliche fortlaufen
laſſen kann, aber ſie kann durch Unterlaſſung architektoniſchen Abſchluſſes
dieſen Eindruck erregen; dieß zeigt die Pyramide, die nach oben zwar in
ihrer Spitze ſich abſchließt und ſo eine Zuſammenfaſſung des breiten
Erdlebens in eine ideale Einheit ſymboliſirt, aber da ſie keine eigentliche
künſtleriſche Baſis hat, den Zuſchauer beſtimmt, von oben nach unten zu
gehen und die beiden Schenkel als in’s Grenzenloſe ſich abſenkend zu
denken: ein unendlicher Prozeß, der in die leere Vorſtellung eines un-
organiſirten, formloſen Erdlebens hinausführt; ſofern in dieſen Andeutungen
auch das Politiſche ſich ſpiegelt, drückt ſich darin aus, daß die monarchiſche
Spitze ſich über einer werthlos ungezählten Menge erhebt. In der wahren
Baukunſt erſcheint die aus zwei ſchrägen Linien gebildete Spitze nur als
ein auf die beſtimmte Baſis des Vierecks, Achtecks geſtelltes Dreieck. —
Was nun zunächſt die allgemeine Bedeutung der Linien (und Flächen)
betrifft, ſo muß man ſich wohl hüten, in der zu §. 561 angegebenen
Weiſe zu allegoriſiren; es iſt zunächſt der Zweck des Gebäudes und das
ſtatiſche Geſetz, was die Linien beſtimmt, aber wir haben ebenda geſehen,
daß ſie in gewiſſem Sinne doch auch für ſich ſprechen. Nun, da wir auf
ihre beſtimmteren Unterſchiede eingehen, kann vorläufig auf den grund-
verſchiedenen Eindruck des rechtwinklichen Gebäudes und der Rotunde als
ſchlagendes Beiſpiel hingewieſen werden. Die Art, wie wir nun die
Bedeutung der Linien zu beſtimmen ſuchen, weicht einigermaßen von der
in §. 91 und 261 gegebenen ab; dieß iſt aber natürlich daraus zu er-
klären, daß dort von Formen der unorganiſchen Natur die Rede iſt, deren
Wirkung nothwendig ein bewegteres Gefühl, ſo zu ſagen mehr Farbe,
lyriſchen und dramatiſchen Ton mit ſich führt, als die reine, ſtrenge Linie
der Baukunſt. Klarer wird die angegebene Bedeutung werden, wenn die

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[218/0058] als Kreis- und Halbkugel fließt ſie in unterſchiedsloſer Einheit; nur verbunden mit den Gegenſätzen der geraden Linie ſtellt ſie als Kreis- und Kugelaus- ſchnitt in allen Formen und Zuſammenſetzungen, welche möglich ſind, ohne das ſtatiſche Geſetz aufzuheben, den vollendetſten Anklang innerer Unendlichkeit dar, der dieſer Kunſt in ihren ſtructiven Haupttheilen möglich iſt. 1. Wahre, innere Unendlichkeit hat nur jenes Ineinander von Linien (als Begrenzungen des raumerfüllend Körperlichen), welches der organiſche Leib darſtellt, in der Durchſchnittsbildung zwar meßbar, in der frei ſpie- lenden Linie der Individualität unbeſtimmbar; die Baukunſt weist auf dieſe vollzogene Geſtalt der innern Unendlichkeit nur entfernt hinüber (vergl. §. 558). Dieſes Hinüberweiſen liegt aber darin, daß ſie den Ver- lauf der Linie, der in ſeiner Einfachheit das „ſchlechte Unendliche“ wäre, durch Zuſammenſtellung verſchiedener Linien bricht. Es verſteht ſich zwar, daß die Baukunſt nicht eine Linie buchſtäblich in’s Unendliche fortlaufen laſſen kann, aber ſie kann durch Unterlaſſung architektoniſchen Abſchluſſes dieſen Eindruck erregen; dieß zeigt die Pyramide, die nach oben zwar in ihrer Spitze ſich abſchließt und ſo eine Zuſammenfaſſung des breiten Erdlebens in eine ideale Einheit ſymboliſirt, aber da ſie keine eigentliche künſtleriſche Baſis hat, den Zuſchauer beſtimmt, von oben nach unten zu gehen und die beiden Schenkel als in’s Grenzenloſe ſich abſenkend zu denken: ein unendlicher Prozeß, der in die leere Vorſtellung eines un- organiſirten, formloſen Erdlebens hinausführt; ſofern in dieſen Andeutungen auch das Politiſche ſich ſpiegelt, drückt ſich darin aus, daß die monarchiſche Spitze ſich über einer werthlos ungezählten Menge erhebt. In der wahren Baukunſt erſcheint die aus zwei ſchrägen Linien gebildete Spitze nur als ein auf die beſtimmte Baſis des Vierecks, Achtecks geſtelltes Dreieck. — Was nun zunächſt die allgemeine Bedeutung der Linien (und Flächen) betrifft, ſo muß man ſich wohl hüten, in der zu §. 561 angegebenen Weiſe zu allegoriſiren; es iſt zunächſt der Zweck des Gebäudes und das ſtatiſche Geſetz, was die Linien beſtimmt, aber wir haben ebenda geſehen, daß ſie in gewiſſem Sinne doch auch für ſich ſprechen. Nun, da wir auf ihre beſtimmteren Unterſchiede eingehen, kann vorläufig auf den grund- verſchiedenen Eindruck des rechtwinklichen Gebäudes und der Rotunde als ſchlagendes Beiſpiel hingewieſen werden. Die Art, wie wir nun die Bedeutung der Linien zu beſtimmen ſuchen, weicht einigermaßen von der in §. 91 und 261 gegebenen ab; dieß iſt aber natürlich daraus zu er- klären, daß dort von Formen der unorganiſchen Natur die Rede iſt, deren Wirkung nothwendig ein bewegteres Gefühl, ſo zu ſagen mehr Farbe, lyriſchen und dramatiſchen Ton mit ſich führt, als die reine, ſtrenge Linie der Baukunſt. Klarer wird die angegebene Bedeutung werden, wenn die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/58>, abgerufen am 24.11.2024.