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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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forderliche Behandlung gelernt haben. Durch dieses Gesetz wird jede
Bauthätigkeit, die den gewachsenen Felsen stehen läßt und entweder aus-
höhlt, um nur ein Inneres zu schaffen, oder ausspart und nun von
außen und innen bearbeitet, einer unreifen Vorstufe zugewiesen, denn
sie ist von ihrem Material im Grundplane, in der ganzen Anordnung,
vor Allem in Gestaltung der Decke, in allen Einzelheiten ebenso ab-
hängig, als sie auf der andern Seite zu jeder Willkühr verführt wird.
Von jener Belebung des statisch Wirkenden, die in §. 557 dargestellt ist,
kann nicht die Rede sein, wo die Gegensätze des Tragenden und Ge-
tragenen überhaupt nicht da sind, weil kein getrenntes Material in gegen-
sätzliche Wechselwirkung tritt, sondern Wand, Stütze, Dach in der Con-
tinuität des Naturproducts fortlaufen. Es ist hier das Prinzip der Bau-
kunst, die Idealisirung der unorganischen Natur (§. 558) noch nicht ent-
wickelt, weil der Mensch nur an der stehen gelassenen unorganischen Natur
thätig ist, nicht Theile derselben ablöst, um sie ihr in freiem Aufbau
entgegenzustellen. Statt der entfernten Analogie mit ihr, mit Felsen,
Gebirge herrscht noch das Verwachsensein mit ihr. Wie innig damit die
tiefere ästhetische Wirkung zusammenhängt, zeigt sich aus dem Eindrucke
solcher Höhlen- und Fels-Tempel: sie rufen wohl auch die Ahnung der
bauenden Urkraft hervor, aber nicht als einer lichten, geistigen, sondern
als einer dunkeln, blinden, düstern. Die nächste Stufe ist die Anwendung
großer, unbehauener Steinblöcke, aus denen die Haupttheile eines Ge-
bäudes, Wand und Decke, je aus Einem Stücke bestehend, zusammen-
gefügt werden. Die Glieder fangen an, sich zu lösen, aber die bauende
Hand ist noch von dem Zufall abhängig, ob das Material in großen
Blöcken bricht. Die freie Thätigkeit fordert, daß jedes Glied aus ein-
zelnen Stücken gefügt wird, und dieß geschieht in erster, roher Weise
im cyklopischen Mauerverbande, der die einzelnen Stücke, aus denen er
sein Werk zusammensetzt, noch nicht geometrisch bearbeitet, sondern, wie
sie brechen, nach der zufällig gegebenen Fuge aneinanderlegt und auf-
thürmt: immer noch ein halb unorganisches, berg-ähnliches Häufen, ein
halbes Naturwerk (vergl. §. 524, Anm. S. 116, wo das Stehenlassen
eines Stücks Natur im Kunstwerk als Folge von Unreife oder Ueberreife
erwähnt ist). Ein Rest dieses Natürlichen ist nach eingetretener regel-
mäßiger Bearbeitung und Fügung absichtlich beibehalten im sog. style
rustico,
wo dieses belassene Stück Natur den Eindruck derber Kraft her-
vorbringen soll. Die wirkliche Beherrschung des Materials setzt voraus,
daß die Größe des einzelnen der Stücke, aus denen der Bau gefügt wird,
sowie seine Gestalt frei bestimmt werde; ist das Material natürlicher
Stein, so muß man verstehen, ihn in verschiedenen Größen zu brechen,
nach dem Winkelmaaße für die einfache Würfelfigur und nach andern

forderliche Behandlung gelernt haben. Durch dieſes Geſetz wird jede
Bauthätigkeit, die den gewachſenen Felſen ſtehen läßt und entweder aus-
höhlt, um nur ein Inneres zu ſchaffen, oder ausſpart und nun von
außen und innen bearbeitet, einer unreifen Vorſtufe zugewieſen, denn
ſie iſt von ihrem Material im Grundplane, in der ganzen Anordnung,
vor Allem in Geſtaltung der Decke, in allen Einzelheiten ebenſo ab-
hängig, als ſie auf der andern Seite zu jeder Willkühr verführt wird.
Von jener Belebung des ſtatiſch Wirkenden, die in §. 557 dargeſtellt iſt,
kann nicht die Rede ſein, wo die Gegenſätze des Tragenden und Ge-
tragenen überhaupt nicht da ſind, weil kein getrenntes Material in gegen-
ſätzliche Wechſelwirkung tritt, ſondern Wand, Stütze, Dach in der Con-
tinuität des Naturproducts fortlaufen. Es iſt hier das Prinzip der Bau-
kunſt, die Idealiſirung der unorganiſchen Natur (§. 558) noch nicht ent-
wickelt, weil der Menſch nur an der ſtehen gelaſſenen unorganiſchen Natur
thätig iſt, nicht Theile derſelben ablöst, um ſie ihr in freiem Aufbau
entgegenzuſtellen. Statt der entfernten Analogie mit ihr, mit Felſen,
Gebirge herrſcht noch das Verwachſenſein mit ihr. Wie innig damit die
tiefere äſthetiſche Wirkung zuſammenhängt, zeigt ſich aus dem Eindrucke
ſolcher Höhlen- und Fels-Tempel: ſie rufen wohl auch die Ahnung der
bauenden Urkraft hervor, aber nicht als einer lichten, geiſtigen, ſondern
als einer dunkeln, blinden, düſtern. Die nächſte Stufe iſt die Anwendung
großer, unbehauener Steinblöcke, aus denen die Haupttheile eines Ge-
bäudes, Wand und Decke, je aus Einem Stücke beſtehend, zuſammen-
gefügt werden. Die Glieder fangen an, ſich zu löſen, aber die bauende
Hand iſt noch von dem Zufall abhängig, ob das Material in großen
Blöcken bricht. Die freie Thätigkeit fordert, daß jedes Glied aus ein-
zelnen Stücken gefügt wird, und dieß geſchieht in erſter, roher Weiſe
im cyklopiſchen Mauerverbande, der die einzelnen Stücke, aus denen er
ſein Werk zuſammenſetzt, noch nicht geometriſch bearbeitet, ſondern, wie
ſie brechen, nach der zufällig gegebenen Fuge aneinanderlegt und auf-
thürmt: immer noch ein halb unorganiſches, berg-ähnliches Häufen, ein
halbes Naturwerk (vergl. §. 524, Anm. S. 116, wo das Stehenlaſſen
eines Stücks Natur im Kunſtwerk als Folge von Unreife oder Ueberreife
erwähnt iſt). Ein Reſt dieſes Natürlichen iſt nach eingetretener regel-
mäßiger Bearbeitung und Fügung abſichtlich beibehalten im ſog. style
rustico,
wo dieſes belaſſene Stück Natur den Eindruck derber Kraft her-
vorbringen ſoll. Die wirkliche Beherrſchung des Materials ſetzt voraus,
daß die Größe des einzelnen der Stücke, aus denen der Bau gefügt wird,
ſowie ſeine Geſtalt frei beſtimmt werde; iſt das Material natürlicher
Stein, ſo muß man verſtehen, ihn in verſchiedenen Größen zu brechen,
nach dem Winkelmaaße für die einfache Würfelfigur und nach andern

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[208/0048] forderliche Behandlung gelernt haben. Durch dieſes Geſetz wird jede Bauthätigkeit, die den gewachſenen Felſen ſtehen läßt und entweder aus- höhlt, um nur ein Inneres zu ſchaffen, oder ausſpart und nun von außen und innen bearbeitet, einer unreifen Vorſtufe zugewieſen, denn ſie iſt von ihrem Material im Grundplane, in der ganzen Anordnung, vor Allem in Geſtaltung der Decke, in allen Einzelheiten ebenſo ab- hängig, als ſie auf der andern Seite zu jeder Willkühr verführt wird. Von jener Belebung des ſtatiſch Wirkenden, die in §. 557 dargeſtellt iſt, kann nicht die Rede ſein, wo die Gegenſätze des Tragenden und Ge- tragenen überhaupt nicht da ſind, weil kein getrenntes Material in gegen- ſätzliche Wechſelwirkung tritt, ſondern Wand, Stütze, Dach in der Con- tinuität des Naturproducts fortlaufen. Es iſt hier das Prinzip der Bau- kunſt, die Idealiſirung der unorganiſchen Natur (§. 558) noch nicht ent- wickelt, weil der Menſch nur an der ſtehen gelaſſenen unorganiſchen Natur thätig iſt, nicht Theile derſelben ablöst, um ſie ihr in freiem Aufbau entgegenzuſtellen. Statt der entfernten Analogie mit ihr, mit Felſen, Gebirge herrſcht noch das Verwachſenſein mit ihr. Wie innig damit die tiefere äſthetiſche Wirkung zuſammenhängt, zeigt ſich aus dem Eindrucke ſolcher Höhlen- und Fels-Tempel: ſie rufen wohl auch die Ahnung der bauenden Urkraft hervor, aber nicht als einer lichten, geiſtigen, ſondern als einer dunkeln, blinden, düſtern. Die nächſte Stufe iſt die Anwendung großer, unbehauener Steinblöcke, aus denen die Haupttheile eines Ge- bäudes, Wand und Decke, je aus Einem Stücke beſtehend, zuſammen- gefügt werden. Die Glieder fangen an, ſich zu löſen, aber die bauende Hand iſt noch von dem Zufall abhängig, ob das Material in großen Blöcken bricht. Die freie Thätigkeit fordert, daß jedes Glied aus ein- zelnen Stücken gefügt wird, und dieß geſchieht in erſter, roher Weiſe im cyklopiſchen Mauerverbande, der die einzelnen Stücke, aus denen er ſein Werk zuſammenſetzt, noch nicht geometriſch bearbeitet, ſondern, wie ſie brechen, nach der zufällig gegebenen Fuge aneinanderlegt und auf- thürmt: immer noch ein halb unorganiſches, berg-ähnliches Häufen, ein halbes Naturwerk (vergl. §. 524, Anm. S. 116, wo das Stehenlaſſen eines Stücks Natur im Kunſtwerk als Folge von Unreife oder Ueberreife erwähnt iſt). Ein Reſt dieſes Natürlichen iſt nach eingetretener regel- mäßiger Bearbeitung und Fügung abſichtlich beibehalten im ſog. style rustico, wo dieſes belaſſene Stück Natur den Eindruck derber Kraft her- vorbringen ſoll. Die wirkliche Beherrſchung des Materials ſetzt voraus, daß die Größe des einzelnen der Stücke, aus denen der Bau gefügt wird, ſowie ſeine Geſtalt frei beſtimmt werde; iſt das Material natürlicher Stein, ſo muß man verſtehen, ihn in verſchiedenen Größen zu brechen, nach dem Winkelmaaße für die einfache Würfelfigur und nach andern

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/48>, abgerufen am 21.11.2024.