Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
straff angezogen, berichtigt, bereinigt, rectificirt sei. Nun scheinen wir
ſtraff angezogen, berichtigt, bereinigt, rectificirt ſei. Nun ſcheinen wir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0034" n="194"/> ſtraff angezogen, berichtigt, bereinigt, rectificirt ſei. Nun ſcheinen wir<lb/> aber, wie ſchon zu §. 557, <hi rendition="#sub">1.</hi> angedeutet, hiedurch in einen tiefen Wider-<lb/> ſpruch zu gerathen, denn wie wir prinzipiell die Zufälligkeit als Geſetz<lb/> des Schönen aufgeſtellt haben (§. 34), ſo haben wir überall nur die von<lb/> der freien Linie der Individualität umſpielte regemäßige Linie als ſchön gelten<lb/> laſſen (vergl. Th. <hi rendition="#aq">I,</hi> S. 105. Th. <hi rendition="#aq">II,</hi> S. 60. 61, ferner das von der regel-<lb/> mäßigen und unregelmäßigen Kryſtallbildung §. 265 Geſagte, endlich die<lb/> Hervorhebung des individuell von der ſtrengen Linie Abweichenden in der<lb/> Pflanze §. 274, der Thiergeſtalt §. 287, den individuellen Formen der<lb/> menſchlich n Schönheit §. 331 ff.). Die Wahrheit dieſes Satzes bewährt<lb/> ſich auch unmittelbar im Anblick regelmäßig bebauten und bepflanzten<lb/> Erdreichs: die gerade Linie wirkt hier gerade unerfreulich. Aber eben<lb/> dieſe Betrachtung wird hier auch zur Löſung des ſcheinbaren Widerſpruchs<lb/> führen. Unmittelbar in die naturſchöne Landſchaft eingeführt iſt nämlich<lb/> die reine Linie darum ſtörend, weil ſie hier eingreift in einen Zuſammen-<lb/> hang, deſſen äſthetiſche Bedeutung, obwohl nicht ohne Mitwirkung hindurch-<lb/> klingenden Linienreizes, auf ganz anderem Gebiete (bewegte Schönheit des<lb/> Licht- und Luftlebens, Farbe u. ſ. w.) liegt. Ohne dieſe Einmiſchung<lb/> in ein beſtimmtes anderweitiges Schönheitsgebiet wäre ſie nur äſthetiſch<lb/> nichtsſagend, denn es bleibt bei dem, was über eine Stelle in Plato’s<lb/> Philebus zu §. 257 geſagt iſt, daß nämlich die Linie in ihrer abſtracten<lb/> Regelmäßigkeit, wie ſie an geometriſchen Körpern vorkommt, äſthetiſch be-<lb/> deutungslos iſt; in jener Einmiſchung aber bedeutet ſie etwas den äſthe-<lb/> tiſchen Zuſammenhang Störendes, nämlich gemeine Nützlichkeit (Aecker-<lb/> Theilung, regelmäßige Baumſtellung in moderner Waldcultur u. dgl.).<lb/> Die Kunſt aber, welche jene in der unorganiſchen Natur angedeutete<lb/> Linienwelt herauszieht und in eigenem freien Gebilde ordnend diſponirt,<lb/> gibt ihr auch ihre eigene Bedeutung und ſie durchdringt und umgrenzt<lb/> nun die Hülle eines Innern, das ethiſch iſt. Wo man nun ſieht und<lb/> weiß, daß ſie die Stoffe beherrſcht, die einen für idealen Inhalt beſtimmten<lb/> Raum umſchließen, wo ſie die Schaale ethiſchen Kernes ordnend beſtimmt,<lb/> da wird ſie äſthetiſch. Allerdings führt dieß auf den innern Mangel der<lb/> Baukunſt, ihre Getheiltheit nämlich, zurück, denn bei keiner andern Kunſt<lb/> bedarf es dieſes Zuſchluſſes eines anderweitigen, ein leergelaſſenes Inneres<lb/> beherrſchenden Gehalts. Sucht nun aber die Baukunſt dieſes Innere in<lb/> reinen Linien auszudrücken, ſo überſehe man ferner nicht, daß dieſe<lb/> abſtract zu nennen ſind nur gegenüber der organiſch individuellen Geſtalt,<lb/> an ſich aber von der bloß geometriſchen Linie, von welcher Plato in der<lb/> zu §. 257 angeführten Stelle des Philebus redet, ſich dadurch unterſcheiden,<lb/> daß ein mit concretem Gehalte erfüllter Künſtlergeiſt ſie zuſammenſtellt,<lb/> daß alſo hier von keinem <hi rendition="#g">abſtracten</hi>, ein für allemal gültigen Kanon<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [194/0034]
ſtraff angezogen, berichtigt, bereinigt, rectificirt ſei. Nun ſcheinen wir
aber, wie ſchon zu §. 557, 1. angedeutet, hiedurch in einen tiefen Wider-
ſpruch zu gerathen, denn wie wir prinzipiell die Zufälligkeit als Geſetz
des Schönen aufgeſtellt haben (§. 34), ſo haben wir überall nur die von
der freien Linie der Individualität umſpielte regemäßige Linie als ſchön gelten
laſſen (vergl. Th. I, S. 105. Th. II, S. 60. 61, ferner das von der regel-
mäßigen und unregelmäßigen Kryſtallbildung §. 265 Geſagte, endlich die
Hervorhebung des individuell von der ſtrengen Linie Abweichenden in der
Pflanze §. 274, der Thiergeſtalt §. 287, den individuellen Formen der
menſchlich n Schönheit §. 331 ff.). Die Wahrheit dieſes Satzes bewährt
ſich auch unmittelbar im Anblick regelmäßig bebauten und bepflanzten
Erdreichs: die gerade Linie wirkt hier gerade unerfreulich. Aber eben
dieſe Betrachtung wird hier auch zur Löſung des ſcheinbaren Widerſpruchs
führen. Unmittelbar in die naturſchöne Landſchaft eingeführt iſt nämlich
die reine Linie darum ſtörend, weil ſie hier eingreift in einen Zuſammen-
hang, deſſen äſthetiſche Bedeutung, obwohl nicht ohne Mitwirkung hindurch-
klingenden Linienreizes, auf ganz anderem Gebiete (bewegte Schönheit des
Licht- und Luftlebens, Farbe u. ſ. w.) liegt. Ohne dieſe Einmiſchung
in ein beſtimmtes anderweitiges Schönheitsgebiet wäre ſie nur äſthetiſch
nichtsſagend, denn es bleibt bei dem, was über eine Stelle in Plato’s
Philebus zu §. 257 geſagt iſt, daß nämlich die Linie in ihrer abſtracten
Regelmäßigkeit, wie ſie an geometriſchen Körpern vorkommt, äſthetiſch be-
deutungslos iſt; in jener Einmiſchung aber bedeutet ſie etwas den äſthe-
tiſchen Zuſammenhang Störendes, nämlich gemeine Nützlichkeit (Aecker-
Theilung, regelmäßige Baumſtellung in moderner Waldcultur u. dgl.).
Die Kunſt aber, welche jene in der unorganiſchen Natur angedeutete
Linienwelt herauszieht und in eigenem freien Gebilde ordnend diſponirt,
gibt ihr auch ihre eigene Bedeutung und ſie durchdringt und umgrenzt
nun die Hülle eines Innern, das ethiſch iſt. Wo man nun ſieht und
weiß, daß ſie die Stoffe beherrſcht, die einen für idealen Inhalt beſtimmten
Raum umſchließen, wo ſie die Schaale ethiſchen Kernes ordnend beſtimmt,
da wird ſie äſthetiſch. Allerdings führt dieß auf den innern Mangel der
Baukunſt, ihre Getheiltheit nämlich, zurück, denn bei keiner andern Kunſt
bedarf es dieſes Zuſchluſſes eines anderweitigen, ein leergelaſſenes Inneres
beherrſchenden Gehalts. Sucht nun aber die Baukunſt dieſes Innere in
reinen Linien auszudrücken, ſo überſehe man ferner nicht, daß dieſe
abſtract zu nennen ſind nur gegenüber der organiſch individuellen Geſtalt,
an ſich aber von der bloß geometriſchen Linie, von welcher Plato in der
zu §. 257 angeführten Stelle des Philebus redet, ſich dadurch unterſcheiden,
daß ein mit concretem Gehalte erfüllter Künſtlergeiſt ſie zuſammenſtellt,
daß alſo hier von keinem abſtracten, ein für allemal gültigen Kanon
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