Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
Decoration sich auflöst, der phantasievolle Reichthum der Renaissance, der
Decoration ſich auflöst, der phantaſievolle Reichthum der Renaiſſance, der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0177" n="337"/> Decoration ſich auflöst, der phantaſievolle Reichthum der Renaiſſance, der<lb/> gerollte, gefaſerte, geſchnörkelte, die Muſchelform liebende, doch in ſeiner<lb/> leidenſchaftlichen Manier immer noch einer gewiſſen Energie theilhafte<lb/> Rokoko: alle dieſe Geſtaltungen entſprechen genau der Phyſiognomie des<lb/> gleichzeitigen Bauſtyls. Dagegen iſt die moderne Zeit von jedem Bildungs-<lb/> geſetze verlaſſen und zwar eben aus dem Grunde, weil ſie keinen eigenen<lb/> Architekturſtyl hat; wie ſie in der Baukunſt prinzipienlos eklektiſch iſt, ſo<lb/> fährt ſie in dieſem Gebiet anhängender Technik nachahmend zwiſchen allen<lb/> dageweſenen Formen umher. Es fehlt ihr nicht an Erfindung und Geiſt;<lb/> namentlich die Franzoſen, das Volk des <hi rendition="#g">Geſchmacks</hi> (denn dieſem nament-<lb/> lich gehört das vorliegende Gebiet an, vergl. §. 79), aber auch die<lb/> Deutſchen (man denke an einen Schinkel) entwickeln einen Reichthum von<lb/> Talent, aber alle Erfindung bewegt ſich nur auf der Grundlage des Form-<lb/> geſetzes dieſes oder jenes ſchon dageweſenen Styls und daher haben Völker<lb/> des Orients, die noch Reſte feſter, nicht auf einem Widerſpruche mit der<lb/> Natur beruhender Cultur bewahren, auf der Weltausſtellung in London<lb/> die moderne Bildung ſo vielfach durch das Charaktervolle ihrer Producte<lb/> beſchämt. Wir haben den Grund, warum wir keinen eigenen Bauſtyl<lb/> haben, §. 577. 595, <hi rendition="#sub">2.</hi> in der Unruhe eines Zeitalters aufgezeigt, das<lb/> es zu keinem Gemeingefühl bringen kann, welches die Beſtimmtheit und<lb/> Feſtigkeit, die objective Geſtaltungsfähigkeit einer Naturkraft hätte. Aus<lb/> dem Gewühle dieſer in unzählich ſich durchkreuzenden Thätigkeiten auf<lb/> eine dunkle Zukunft unbefriedigt hinarbeitenden Zeit ſind noch mehrere<lb/> poſitive Erſcheinungen hervorzuheben, welche, ebenſoſehr wohlthätig und<lb/> ſtaunenswerth, als auch Quelle des Uebels und Unſchönen, im Gebiete<lb/> der Culturformen einer poſitiven Stylbildung ungünſtig ſind. Die Wiſſen-<lb/> ſchaften, Phyſik, Chemie, Technologie u. ſ. w. haben eine Welt neuer<lb/> Stoffe, neuer techniſcher Verfahrungsweiſen entdeckt und eingeführt; die<lb/> Stoffe werden zwar wunderbar leicht verarbeitet, aber es iſt ihrer zu<lb/> viel, um ihnen ruhig einen künſtleriſchen Styl zu entlocken. Der Markt wird<lb/> mit Maſchinenproducten überſchwemmt; das Maſchinenproduct iſt todt, ab-<lb/> ſtract, aber wohlfeil, es führt das Bequeme auch dem Armen zu. So un-<lb/> endlich dadurch die Bedürfniſſe geſteigert ſind, ſo muß doch die Speculation<lb/> athemlos über alles beſtimmte Bedürfniß hinaus auf Neues ſinnen, um die<lb/> neuen Stoffe (Guttapercha u. dgl.) zu benützen, die Maſchine zu be-<lb/> ſchäftigen, und die Haſt des Modewechſels, des größten Stylfeinds, wird<lb/> daher von der Production noch mit doppelter Hetzpeitſche angetrieben.<lb/> Daß ſie durchaus auf den Markt arbeitet, dieß verhindert die Bildung<lb/> lebendigen Styls auch darum, weil nicht, wie bei der beſtellten Arbeit der<lb/> Hand, die Rückſicht auf Zeit und Ort das Innige des individuellen Motivs<lb/> hinzubringt. Die höhere Kunſt ſucht von oben einzuwirken, vergl. über<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [337/0177]
Decoration ſich auflöst, der phantaſievolle Reichthum der Renaiſſance, der
gerollte, gefaſerte, geſchnörkelte, die Muſchelform liebende, doch in ſeiner
leidenſchaftlichen Manier immer noch einer gewiſſen Energie theilhafte
Rokoko: alle dieſe Geſtaltungen entſprechen genau der Phyſiognomie des
gleichzeitigen Bauſtyls. Dagegen iſt die moderne Zeit von jedem Bildungs-
geſetze verlaſſen und zwar eben aus dem Grunde, weil ſie keinen eigenen
Architekturſtyl hat; wie ſie in der Baukunſt prinzipienlos eklektiſch iſt, ſo
fährt ſie in dieſem Gebiet anhängender Technik nachahmend zwiſchen allen
dageweſenen Formen umher. Es fehlt ihr nicht an Erfindung und Geiſt;
namentlich die Franzoſen, das Volk des Geſchmacks (denn dieſem nament-
lich gehört das vorliegende Gebiet an, vergl. §. 79), aber auch die
Deutſchen (man denke an einen Schinkel) entwickeln einen Reichthum von
Talent, aber alle Erfindung bewegt ſich nur auf der Grundlage des Form-
geſetzes dieſes oder jenes ſchon dageweſenen Styls und daher haben Völker
des Orients, die noch Reſte feſter, nicht auf einem Widerſpruche mit der
Natur beruhender Cultur bewahren, auf der Weltausſtellung in London
die moderne Bildung ſo vielfach durch das Charaktervolle ihrer Producte
beſchämt. Wir haben den Grund, warum wir keinen eigenen Bauſtyl
haben, §. 577. 595, 2. in der Unruhe eines Zeitalters aufgezeigt, das
es zu keinem Gemeingefühl bringen kann, welches die Beſtimmtheit und
Feſtigkeit, die objective Geſtaltungsfähigkeit einer Naturkraft hätte. Aus
dem Gewühle dieſer in unzählich ſich durchkreuzenden Thätigkeiten auf
eine dunkle Zukunft unbefriedigt hinarbeitenden Zeit ſind noch mehrere
poſitive Erſcheinungen hervorzuheben, welche, ebenſoſehr wohlthätig und
ſtaunenswerth, als auch Quelle des Uebels und Unſchönen, im Gebiete
der Culturformen einer poſitiven Stylbildung ungünſtig ſind. Die Wiſſen-
ſchaften, Phyſik, Chemie, Technologie u. ſ. w. haben eine Welt neuer
Stoffe, neuer techniſcher Verfahrungsweiſen entdeckt und eingeführt; die
Stoffe werden zwar wunderbar leicht verarbeitet, aber es iſt ihrer zu
viel, um ihnen ruhig einen künſtleriſchen Styl zu entlocken. Der Markt wird
mit Maſchinenproducten überſchwemmt; das Maſchinenproduct iſt todt, ab-
ſtract, aber wohlfeil, es führt das Bequeme auch dem Armen zu. So un-
endlich dadurch die Bedürfniſſe geſteigert ſind, ſo muß doch die Speculation
athemlos über alles beſtimmte Bedürfniß hinaus auf Neues ſinnen, um die
neuen Stoffe (Guttapercha u. dgl.) zu benützen, die Maſchine zu be-
ſchäftigen, und die Haſt des Modewechſels, des größten Stylfeinds, wird
daher von der Production noch mit doppelter Hetzpeitſche angetrieben.
Daß ſie durchaus auf den Markt arbeitet, dieß verhindert die Bildung
lebendigen Styls auch darum, weil nicht, wie bei der beſtellten Arbeit der
Hand, die Rückſicht auf Zeit und Ort das Innige des individuellen Motivs
hinzubringt. Die höhere Kunſt ſucht von oben einzuwirken, vergl. über
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