Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
überhaupt sowohl Ausfluß, als Quelle der wahren Freiheit, die dem
überhaupt ſowohl Ausfluß, als Quelle der wahren Freiheit, die dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0169" n="329"/> überhaupt ſowohl Ausfluß, als Quelle der <hi rendition="#g">wahren</hi> Freiheit, die dem<lb/> Mittelalter noch fehlte, daher ſeine Subjectivität eben die phantaſtiſche<lb/> war. Das Bewußtſein des Mittelalters war zu innerlich, weil es nicht<lb/> innerlich genug war, d. h. weil es die Geiſtigkeit der Weltanſchauung<lb/> nicht im freien Denken wirklich innerlich durchzuführen vermochte, und<lb/> ebendaher fiel es zugleich und neben der aufgegangenen Innerlichkeit der<lb/> Aeußerlichkeit, der politiſch ungeeinigten Vielheit roher Kräfte, der neuen<lb/> Vielgötterei anheim. Dieß drückte ſich in ſeinem Bauſtyl aus und dieſe<lb/> Seite ſeines Bauſtyls ſoll eben dadurch, daß das ewig Gültige im Claſſi-<lb/> ſchen, die harmoniſche Gediegenheit, die organiſche Einheit, die Ruhe, die<lb/> er voraus hatte, mit dem Wahren des mittelalterlichen Baus ſich verſchmelzt,<lb/> getilgt werden. Das antike Bewußtſein hatte aber die Subjectivität nicht<lb/> entwickelt, dem entſprechend iſt ſein Bauſtyl zu gebunden, und wie das<lb/> Mittelalterliche, ſo muß daher in dieſer Verſchmelzung nothwendig auch<lb/> das Claſſiſche einer weſentlichen Umbildung unterliegen. Worin aber<lb/> dieſe Umbildung beider Miſchungsbeſtandtheile, denen ſo entgegengeſetzte<lb/> ſtructive Prinzipien zu Grunde liegen, beſtehen ſoll? Darauf hat nur<lb/> die Zukunft die Antwort. <hi rendition="#g">Bötticher</hi> beſtimmt die „Syntheſe“ dahin,<lb/> daß zum Deckenbau des Mittelalters die claſſiſche Baukunſt ihre organiſch<lb/> naturgemäße Formenſprache (Glieder und Ornament) geben müſſe. Allein<lb/> er ſelbſt hat die reine Strenge dieſer Formenſprache nur im griechiſchen<lb/> Architravſtyl nachgewieſen, dieſer, als prinzipiell verſchieden, läßt ſich als<lb/> ſolcher offenbar mit dem Gewölbebau nicht verſchmelzen. Auch wird man<lb/> ſo, nach dem einfachen Gegenſatze von Kernform und Kunſtform, nicht<lb/> ſcheiden können, denn nicht <hi rendition="#g">alle</hi> Glieder- und Ornamentbildung des go-<lb/> thiſchen Styls war phantaſtiſch und abentheuerlich; das Hohlkehlen- und<lb/> Ecken-Abſtoßungsſyſtem, alſo das Prinzip der einwärts gewendeten Glie-<lb/> derung mindeſtens war wohlthuend für das Auge, warm, heimlich, dem<lb/> Norden angemeſſen. <hi rendition="#g">Hübſch</hi> (in der öfters angeführten geiſtreichen<lb/> Schrift) ſucht den Punct, welchen die moderne Baukunſt erfaſſen und fort-<lb/> bilden müſſe, zwiſchen der altitalieniſchen (gemiſcht romaniſchen und alt-<lb/> römiſchen) Bauart und der Früh-Renaiſſance; Verbindung der Säule<lb/> und des Rundbogens (namentlich als flachen oder Stichbogens in der<lb/> Archivolte) iſt das Weſentliche der von ihm empfohlenen Verſchmelzung,<lb/> für die geſchloſſene Fa<hi rendition="#aq">ç</hi>ade nimmt er die Liſſene auf, für die Decke der<lb/> (proteſtantiſchen) Kirche, deren Bild er entwirft, das Tonnengewölbe.<lb/> Die Wölbungsart bietet noch ihre beſondern ſchwierigen Fragen; die<lb/> Meiſten rathen das romaniſche Rundbogen-Kreuzgewölbe; daſſelbe ließe<lb/> ſich mit dem ſpitzbogigen in Einem Gebäude immerhin verbinden, aber<lb/> von dem Gottesdienſte, dem der neue Styl dienen ſoll, wird, ſo wenig<lb/> wir ihn noch kennen, doch anzunehmen ſein, daß er von dem proteſtan-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [329/0169]
überhaupt ſowohl Ausfluß, als Quelle der wahren Freiheit, die dem
Mittelalter noch fehlte, daher ſeine Subjectivität eben die phantaſtiſche
war. Das Bewußtſein des Mittelalters war zu innerlich, weil es nicht
innerlich genug war, d. h. weil es die Geiſtigkeit der Weltanſchauung
nicht im freien Denken wirklich innerlich durchzuführen vermochte, und
ebendaher fiel es zugleich und neben der aufgegangenen Innerlichkeit der
Aeußerlichkeit, der politiſch ungeeinigten Vielheit roher Kräfte, der neuen
Vielgötterei anheim. Dieß drückte ſich in ſeinem Bauſtyl aus und dieſe
Seite ſeines Bauſtyls ſoll eben dadurch, daß das ewig Gültige im Claſſi-
ſchen, die harmoniſche Gediegenheit, die organiſche Einheit, die Ruhe, die
er voraus hatte, mit dem Wahren des mittelalterlichen Baus ſich verſchmelzt,
getilgt werden. Das antike Bewußtſein hatte aber die Subjectivität nicht
entwickelt, dem entſprechend iſt ſein Bauſtyl zu gebunden, und wie das
Mittelalterliche, ſo muß daher in dieſer Verſchmelzung nothwendig auch
das Claſſiſche einer weſentlichen Umbildung unterliegen. Worin aber
dieſe Umbildung beider Miſchungsbeſtandtheile, denen ſo entgegengeſetzte
ſtructive Prinzipien zu Grunde liegen, beſtehen ſoll? Darauf hat nur
die Zukunft die Antwort. Bötticher beſtimmt die „Syntheſe“ dahin,
daß zum Deckenbau des Mittelalters die claſſiſche Baukunſt ihre organiſch
naturgemäße Formenſprache (Glieder und Ornament) geben müſſe. Allein
er ſelbſt hat die reine Strenge dieſer Formenſprache nur im griechiſchen
Architravſtyl nachgewieſen, dieſer, als prinzipiell verſchieden, läßt ſich als
ſolcher offenbar mit dem Gewölbebau nicht verſchmelzen. Auch wird man
ſo, nach dem einfachen Gegenſatze von Kernform und Kunſtform, nicht
ſcheiden können, denn nicht alle Glieder- und Ornamentbildung des go-
thiſchen Styls war phantaſtiſch und abentheuerlich; das Hohlkehlen- und
Ecken-Abſtoßungsſyſtem, alſo das Prinzip der einwärts gewendeten Glie-
derung mindeſtens war wohlthuend für das Auge, warm, heimlich, dem
Norden angemeſſen. Hübſch (in der öfters angeführten geiſtreichen
Schrift) ſucht den Punct, welchen die moderne Baukunſt erfaſſen und fort-
bilden müſſe, zwiſchen der altitalieniſchen (gemiſcht romaniſchen und alt-
römiſchen) Bauart und der Früh-Renaiſſance; Verbindung der Säule
und des Rundbogens (namentlich als flachen oder Stichbogens in der
Archivolte) iſt das Weſentliche der von ihm empfohlenen Verſchmelzung,
für die geſchloſſene Façade nimmt er die Liſſene auf, für die Decke der
(proteſtantiſchen) Kirche, deren Bild er entwirft, das Tonnengewölbe.
Die Wölbungsart bietet noch ihre beſondern ſchwierigen Fragen; die
Meiſten rathen das romaniſche Rundbogen-Kreuzgewölbe; daſſelbe ließe
ſich mit dem ſpitzbogigen in Einem Gebäude immerhin verbinden, aber
von dem Gottesdienſte, dem der neue Styl dienen ſoll, wird, ſo wenig
wir ihn noch kennen, doch anzunehmen ſein, daß er von dem proteſtan-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |