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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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wölb-Verschlüsse nicht einmal den Brand des Dachstuhls aushalten können;
am Thurm ist der durchbrochene Helm kein genügender Wetterschutz, er bedarf
einer besondern hölzernen Eindachung. Tiefer gefaßt schwankt jene kühne
Gewölbung an den Grenzen des Structiven hin; es ist zwar des Gesetz-
lichen nicht so gespottet wie da, wo nicht in einem großen Styl, sondern
in subjectiver Manier das A[rc]hitektonische sentimental, malerisch behandelt
wird in entschieden unberechtigter Art der Einmischung des Styls der einen
Kunst in den der andern (vergl. §. 532), aber es ist doch schon haar-
scharf an das Unberechtigte angestreift, das stimmungsvolle Hinüberfließen
des Tragenden in das Getragene ist eben im Begriff, den Widerstreit von
Kraft und Last nicht zu versöhnen, sondern zu verwischen; namentlich in dem
allmählichen völligen Aufgeben des Kapitells, das sich doch ganz natürlich
ergibt, ist jene Hauptbedingung der schönen Composition, das scharfe
Markiren des vollen Contrasts im Zusammenstoße (vergl. §. 568), das
trotz der vermittelnden Ueberführung der Glieder nie geopfert werden soll,
verflüchtigt. Das Verhältniß zwischen dem Innern und Aeußern des Baus
spiegelt klar jenen bei der Betrachtung des Ornaments mehrfach schon in
Erinnerung gebrachten Dualismus des Geistlichen und Sinnlichen in der
Welt des Mittelalters wieder; die aufgegangene tiefe Geistigkeit ist nicht
durch die Persönlichkeit durchgeführt, Innigkeit und Rohheit, spröder Eigen-
sinn, geistige Durchsichtigkeit aller Dinge und mythisches Verkörperungs-
bedürfniß, das einen neuen Olymp erzeugt, fallen nebeneinander, schieben
sich zwischeneinander: so erscheint der Außenbau an sich als ein unter
allem Reichthum des Ornaments dennoch trockenes Knochengerüste, das
dem stimmungsvollen Innenbau kein genügendes Fleisch umlegt, man ist
an die dürren Leiber bei den ausdrucksvollen Köpfen in der deutschen
Malerei erinnert; die unendlichen Spitzen sind die spröde Monadenwelt
der trotzigen Einzelkräfte der mittelalterlichen Gesellschaft, die noch nicht
wahrhaft Staat heißen kann, sie sind zugleich die vielen Götter des Mittel-
alters; das Gemeinsame der aufsteigenden Linie faßt zwar diese ragenden
Einzelkörper ebenso zusammen, wie die Religion jene spröde Welt von
Individuen, Corporationen in gemeinsamem Schwunge vereinigte, und der
Thurm, worin sich diese Bewegung abschließt, ist zugleich der eine Gott
als Schluß jenes Olypms, aber in der Baukunst reicht jener gemeinsame
Höhenzug als bindende Einheit nicht hin, dieselbe fordert vielmehr eine
körperlich übergreifende Subsumtion des Vielen (unter gemeinsamer Decke);
und ebenso verhält es sich im Leben: kein wahrhaft als Gesetz, Recht,
Regierung zusammengefaßtes Allgemeines faßt die kirchlich vereinigten
Einzelkräfte des Mittelalters auch vernünftig weltlich zusammen; endlich
wie die vielen Spitzen und Ornamente einer durchgängigen Eisenver-
rankerung bedürfen, so muß die scholastische Spitzfindigkeit den ganzen

wölb-Verſchlüſſe nicht einmal den Brand des Dachſtuhls aushalten können;
am Thurm iſt der durchbrochene Helm kein genügender Wetterſchutz, er bedarf
einer beſondern hölzernen Eindachung. Tiefer gefaßt ſchwankt jene kühne
Gewölbung an den Grenzen des Structiven hin; es iſt zwar des Geſetz-
lichen nicht ſo geſpottet wie da, wo nicht in einem großen Styl, ſondern
in ſubjectiver Manier das A[rc]hitektoniſche ſentimental, maleriſch behandelt
wird in entſchieden unberechtigter Art der Einmiſchung des Styls der einen
Kunſt in den der andern (vergl. §. 532), aber es iſt doch ſchon haar-
ſcharf an das Unberechtigte angeſtreift, das ſtimmungsvolle Hinüberfließen
des Tragenden in das Getragene iſt eben im Begriff, den Widerſtreit von
Kraft und Laſt nicht zu verſöhnen, ſondern zu verwiſchen; namentlich in dem
allmählichen völligen Aufgeben des Kapitells, das ſich doch ganz natürlich
ergibt, iſt jene Hauptbedingung der ſchönen Compoſition, das ſcharfe
Markiren des vollen Contraſts im Zuſammenſtoße (vergl. §. 568), das
trotz der vermittelnden Ueberführung der Glieder nie geopfert werden ſoll,
verflüchtigt. Das Verhältniß zwiſchen dem Innern und Aeußern des Baus
ſpiegelt klar jenen bei der Betrachtung des Ornaments mehrfach ſchon in
Erinnerung gebrachten Dualiſmus des Geiſtlichen und Sinnlichen in der
Welt des Mittelalters wieder; die aufgegangene tiefe Geiſtigkeit iſt nicht
durch die Perſönlichkeit durchgeführt, Innigkeit und Rohheit, ſpröder Eigen-
ſinn, geiſtige Durchſichtigkeit aller Dinge und mythiſches Verkörperungs-
bedürfniß, das einen neuen Olymp erzeugt, fallen nebeneinander, ſchieben
ſich zwiſcheneinander: ſo erſcheint der Außenbau an ſich als ein unter
allem Reichthum des Ornaments dennoch trockenes Knochengerüſte, das
dem ſtimmungsvollen Innenbau kein genügendes Fleiſch umlegt, man iſt
an die dürren Leiber bei den ausdrucksvollen Köpfen in der deutſchen
Malerei erinnert; die unendlichen Spitzen ſind die ſpröde Monadenwelt
der trotzigen Einzelkräfte der mittelalterlichen Geſellſchaft, die noch nicht
wahrhaft Staat heißen kann, ſie ſind zugleich die vielen Götter des Mittel-
alters; das Gemeinſame der aufſteigenden Linie faßt zwar dieſe ragenden
Einzelkörper ebenſo zuſammen, wie die Religion jene ſpröde Welt von
Individuen, Corporationen in gemeinſamem Schwunge vereinigte, und der
Thurm, worin ſich dieſe Bewegung abſchließt, iſt zugleich der eine Gott
als Schluß jenes Olypms, aber in der Baukunſt reicht jener gemeinſame
Höhenzug als bindende Einheit nicht hin, dieſelbe fordert vielmehr eine
körperlich übergreifende Subſumtion des Vielen (unter gemeinſamer Decke);
und ebenſo verhält es ſich im Leben: kein wahrhaft als Geſetz, Recht,
Regierung zuſammengefaßtes Allgemeines faßt die kirchlich vereinigten
Einzelkräfte des Mittelalters auch vernünftig weltlich zuſammen; endlich
wie die vielen Spitzen und Ornamente einer durchgängigen Eiſenver-
rankerung bedürfen, ſo muß die ſcholaſtiſche Spitzfindigkeit den ganzen

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[323/0163] wölb-Verſchlüſſe nicht einmal den Brand des Dachſtuhls aushalten können; am Thurm iſt der durchbrochene Helm kein genügender Wetterſchutz, er bedarf einer beſondern hölzernen Eindachung. Tiefer gefaßt ſchwankt jene kühne Gewölbung an den Grenzen des Structiven hin; es iſt zwar des Geſetz- lichen nicht ſo geſpottet wie da, wo nicht in einem großen Styl, ſondern in ſubjectiver Manier das Architektoniſche ſentimental, maleriſch behandelt wird in entſchieden unberechtigter Art der Einmiſchung des Styls der einen Kunſt in den der andern (vergl. §. 532), aber es iſt doch ſchon haar- ſcharf an das Unberechtigte angeſtreift, das ſtimmungsvolle Hinüberfließen des Tragenden in das Getragene iſt eben im Begriff, den Widerſtreit von Kraft und Laſt nicht zu verſöhnen, ſondern zu verwiſchen; namentlich in dem allmählichen völligen Aufgeben des Kapitells, das ſich doch ganz natürlich ergibt, iſt jene Hauptbedingung der ſchönen Compoſition, das ſcharfe Markiren des vollen Contraſts im Zuſammenſtoße (vergl. §. 568), das trotz der vermittelnden Ueberführung der Glieder nie geopfert werden ſoll, verflüchtigt. Das Verhältniß zwiſchen dem Innern und Aeußern des Baus ſpiegelt klar jenen bei der Betrachtung des Ornaments mehrfach ſchon in Erinnerung gebrachten Dualiſmus des Geiſtlichen und Sinnlichen in der Welt des Mittelalters wieder; die aufgegangene tiefe Geiſtigkeit iſt nicht durch die Perſönlichkeit durchgeführt, Innigkeit und Rohheit, ſpröder Eigen- ſinn, geiſtige Durchſichtigkeit aller Dinge und mythiſches Verkörperungs- bedürfniß, das einen neuen Olymp erzeugt, fallen nebeneinander, ſchieben ſich zwiſcheneinander: ſo erſcheint der Außenbau an ſich als ein unter allem Reichthum des Ornaments dennoch trockenes Knochengerüſte, das dem ſtimmungsvollen Innenbau kein genügendes Fleiſch umlegt, man iſt an die dürren Leiber bei den ausdrucksvollen Köpfen in der deutſchen Malerei erinnert; die unendlichen Spitzen ſind die ſpröde Monadenwelt der trotzigen Einzelkräfte der mittelalterlichen Geſellſchaft, die noch nicht wahrhaft Staat heißen kann, ſie ſind zugleich die vielen Götter des Mittel- alters; das Gemeinſame der aufſteigenden Linie faßt zwar dieſe ragenden Einzelkörper ebenſo zuſammen, wie die Religion jene ſpröde Welt von Individuen, Corporationen in gemeinſamem Schwunge vereinigte, und der Thurm, worin ſich dieſe Bewegung abſchließt, iſt zugleich der eine Gott als Schluß jenes Olypms, aber in der Baukunſt reicht jener gemeinſame Höhenzug als bindende Einheit nicht hin, dieſelbe fordert vielmehr eine körperlich übergreifende Subſumtion des Vielen (unter gemeinſamer Decke); und ebenſo verhält es ſich im Leben: kein wahrhaft als Geſetz, Recht, Regierung zuſammengefaßtes Allgemeines faßt die kirchlich vereinigten Einzelkräfte des Mittelalters auch vernünftig weltlich zuſammen; endlich wie die vielen Spitzen und Ornamente einer durchgängigen Eiſenver- rankerung bedürfen, ſo muß die ſcholaſtiſche Spitzfindigkeit den ganzen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/163>, abgerufen am 23.11.2024.