Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
Leben dem Bewußtsein inwohnt, einen Tempel, in welchem die Gemeinde
Leben dem Bewußtſein inwohnt, einen Tempel, in welchem die Gemeinde <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0138" n="298"/> Leben dem Bewußtſein inwohnt, einen Tempel, in welchem die Gemeinde<lb/> ſich verſammelt, in deren Andacht eben der Gott gegenwärtig iſt. Wie<lb/> nun die Kunſt-Anfänge dieſer Phantaſie überall an die Formen der antiken<lb/> Kunſt anknüpfen, ſo auch hier. Daß das eigene Bedürfniß des neuen<lb/> Gottesdienſtes die Form, von welcher nun zu ſprechen iſt, auch ohne<lb/> Vorbild erzeugen konnte (vergl. <hi rendition="#g">Zeſtermann</hi> d. antiken und die chriſtl.<lb/> Baſiliken), unterliegt keinem Zweifel, aber wenn einmal in der heidniſch-<lb/> römiſchen Baſilika die Grundform für die chriſtliche ſo klar vorliegt,<lb/> iſt auch kein Grund da, die Annahme eines wirklichen Ausgangs dieſer<lb/> von jener zu verwerfen. Die antike Baſilika war von dem Bedürfniß<lb/> erzeugt, einen bedeckten Raum für Handel, Börſe, Luſtwandeln und<lb/> ſpäter zugleich für Rechtspflege zu beſitzen. Wir kennen die vielen Hallen,<lb/> Stoen, Porticus der Alten (§. 575). Perſien hatte ſäulengetragene Säle<lb/> in ſeinen Königspaläſten, der ägyptiſche Tempel ſein vielſäuliges Vorhaus.<lb/> Dieſe Form eines gegliederten Innenbaus war vom Occidente vergeſſen;<lb/> jenes Bedürfniß ſollte ſie in beſtimmterer Geſtalt neu erzeugen und ſo<lb/> führte es denn auf den Gedanken, vier Hallen, zu einem länglichen<lb/> Viereck zuſammengeſchloſſen, oben zu decken. Man hatte nun einen dop-<lb/> pelten innern Raum: den breiteren in der Mitte der an den vier Seiten<lb/> ganz umlaufenden Säulenreihe und den Umgang um dieſelbe, der ſich<lb/> namentlich zu Buden, Läden, überhaupt Handelsgeſchäften darbot. Dieſer<lb/> hatte gewöhnlich zwei Stockwerke, das obere namentlich für Solche, die<lb/> luſtwandeln oder den Gerichtsverhandlungen im Mittelraume zuhören wollten.<lb/> Ein rings abfallendes Dach deckte dieſen Umgang. Nun aber konnte nicht<lb/> daſſelbe Dach den Mittelraum decken, denn dieſem verſchafften die Fenſter,<lb/> welche den umlaufenden Porticus erhellten, nicht hinreichendes Licht. Daher<lb/> mußte derſelbe mit einer neuen, Licht einlaſſenden Erhöhung, die nun ihr<lb/> eigenes Dach erhielt, über dieſes Dach aufſteigen. Nimmt man mit<lb/> Zeſtermann an, daß es gar keine gewölbten Baſiliken gab, was aber<lb/> unwahrſcheinlich iſt, ſo bleiben nur die zwei Formen übrig: entweder erhob<lb/> ſich über dem Gebälke der erſten Säulenreihe, die den Mittelraum und<lb/> die umlaufende Halle trennte, eine zweite für das zweite Stockwerk dieſer<lb/> Halle, die das Dach dieſes Seitenraums trug, und zugleich eine dritte<lb/> Stellung von Säulen, Pilaſtern oder nur eine Mauer als Umfaſſung des<lb/> erhöhten Mittelſchiffs, worüber dann das Dach deſſelben ſich legte; oder<lb/> aber es ſtiegen ſehr hohe Säulen von unten bis unter dieſes letztere Dach,<lb/> an welche ſich als Träger für das untere Stockwerk und das Dach der<lb/> Seitenhalle niedrigere Pilaſter anlegten. Das Licht für den Mittelraum<lb/> fiel bei der zweiten Form durch die Zwiſchenweiten dieſer hohen Säulen,<lb/> bei der erſten durch die Zwiſchenweiten jener dritten Säulen- oder Pilaſter-<lb/> Reihe oder, wenn es eine Mauer war, durch Fenſter. Wir haben alſo<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [298/0138]
Leben dem Bewußtſein inwohnt, einen Tempel, in welchem die Gemeinde
ſich verſammelt, in deren Andacht eben der Gott gegenwärtig iſt. Wie
nun die Kunſt-Anfänge dieſer Phantaſie überall an die Formen der antiken
Kunſt anknüpfen, ſo auch hier. Daß das eigene Bedürfniß des neuen
Gottesdienſtes die Form, von welcher nun zu ſprechen iſt, auch ohne
Vorbild erzeugen konnte (vergl. Zeſtermann d. antiken und die chriſtl.
Baſiliken), unterliegt keinem Zweifel, aber wenn einmal in der heidniſch-
römiſchen Baſilika die Grundform für die chriſtliche ſo klar vorliegt,
iſt auch kein Grund da, die Annahme eines wirklichen Ausgangs dieſer
von jener zu verwerfen. Die antike Baſilika war von dem Bedürfniß
erzeugt, einen bedeckten Raum für Handel, Börſe, Luſtwandeln und
ſpäter zugleich für Rechtspflege zu beſitzen. Wir kennen die vielen Hallen,
Stoen, Porticus der Alten (§. 575). Perſien hatte ſäulengetragene Säle
in ſeinen Königspaläſten, der ägyptiſche Tempel ſein vielſäuliges Vorhaus.
Dieſe Form eines gegliederten Innenbaus war vom Occidente vergeſſen;
jenes Bedürfniß ſollte ſie in beſtimmterer Geſtalt neu erzeugen und ſo
führte es denn auf den Gedanken, vier Hallen, zu einem länglichen
Viereck zuſammengeſchloſſen, oben zu decken. Man hatte nun einen dop-
pelten innern Raum: den breiteren in der Mitte der an den vier Seiten
ganz umlaufenden Säulenreihe und den Umgang um dieſelbe, der ſich
namentlich zu Buden, Läden, überhaupt Handelsgeſchäften darbot. Dieſer
hatte gewöhnlich zwei Stockwerke, das obere namentlich für Solche, die
luſtwandeln oder den Gerichtsverhandlungen im Mittelraume zuhören wollten.
Ein rings abfallendes Dach deckte dieſen Umgang. Nun aber konnte nicht
daſſelbe Dach den Mittelraum decken, denn dieſem verſchafften die Fenſter,
welche den umlaufenden Porticus erhellten, nicht hinreichendes Licht. Daher
mußte derſelbe mit einer neuen, Licht einlaſſenden Erhöhung, die nun ihr
eigenes Dach erhielt, über dieſes Dach aufſteigen. Nimmt man mit
Zeſtermann an, daß es gar keine gewölbten Baſiliken gab, was aber
unwahrſcheinlich iſt, ſo bleiben nur die zwei Formen übrig: entweder erhob
ſich über dem Gebälke der erſten Säulenreihe, die den Mittelraum und
die umlaufende Halle trennte, eine zweite für das zweite Stockwerk dieſer
Halle, die das Dach dieſes Seitenraums trug, und zugleich eine dritte
Stellung von Säulen, Pilaſtern oder nur eine Mauer als Umfaſſung des
erhöhten Mittelſchiffs, worüber dann das Dach deſſelben ſich legte; oder
aber es ſtiegen ſehr hohe Säulen von unten bis unter dieſes letztere Dach,
an welche ſich als Träger für das untere Stockwerk und das Dach der
Seitenhalle niedrigere Pilaſter anlegten. Das Licht für den Mittelraum
fiel bei der zweiten Form durch die Zwiſchenweiten dieſer hohen Säulen,
bei der erſten durch die Zwiſchenweiten jener dritten Säulen- oder Pilaſter-
Reihe oder, wenn es eine Mauer war, durch Fenſter. Wir haben alſo
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