uns nicht völlig überzeugen. Der Würde des Steinbaus verschlägt ohne- dieß die freie Beibehaltung einer solchen Reminiscenz als künstlerischen Motivs ebensowenig, als die Aufnahme von Motiven eines Prachtzeltes, wie man sie an andern Theilen der Gliederung nachzuweisen sucht. Die Triglyphe, die Stütze des Kranzgesimses, ist als kurze Wiederholung des aufstrebend Tragenden in der Säule mit jenen dem Pflanzenstengel ent- nommenen Schlitzen gefurcht. Das Kranzgesimse namentlich führt uns auf die eigentlichen Glieder, die wir ebenfalls aus §. 572 kennen. Der ägyptische Styl hat ihre wuchernde Ueberfülle eingeschränkt, aber bis zur Armuth. Im griechischen Bau ist die Armuth wieder zu wohl gemessener Fülle entwickelt und jedes einzelne Glied hat innere Nothwendigkeit; es symbolisirt frei, aber mit der bezeichnendsten Form, die denkbar ist, die structive Function. So umsäumen reich und doch sparsam die Glieder alle Theilungen des Gebäudes, lassen nichts nackt und stoffartig. Statt weiteren Eingehens heben wir nur hervor, daß die Welle jetzt nicht mehr als kelchförmiges Kapitell, sondern, den Druck des lastenden Dachs zu charakterisiren, namentlich am Traufgesimse auftritt und daß die senk- recht einfassenden Rundstäbe verschwunden sind, weil die äußersten Enden des Baus nicht einer letzten Zierde bedürftige Mauern, sondern Säulen sind. Die Glieder nun blühen durch gewisse eingeritzte und bemalte oder wirklich geschnitzte Formen, die zum Theil ihr ursprüngliches Motiv dar- stellen, zum Theil sich nur als entsprechendster Anklang nachträglich an- legen (vergl. §. 572 Anm.), in das Ornament hinüber: es sind Blumen, Blätter, Zeichnungen von Gewirktem, Geflochtenem u. dgl. Um den or- ganischen Schönheitssinn der Griechen ins Licht zu setzen, fügen wir zu den Bemerkungen jenes §. nur noch hinzu, wie naturgemäß der Abakus des Kranz- und Giebel-Gesimses mit dem Ornamente der Wasserwoge, die Kymatien mit Blumen (Anthemien) und überfallenden Blättern, die horizontalen Platten und Bänder mit Mäander-Tänien (kopfschmuck-artigen Wirkereien), Perlenschnüren, an ihrer Unterseite mit starken geflochtenen Gurtbändern verziert sind. In diesen Ornamenten findet denn Bötticher die künstlerische Reminiscenz der Zeltdecke; Sempers Erklärung aller Ornamentirung der Verschlüsse aus der ursprünglichen Kunst der Matten- flechter und Teppichwirker ist schon zu §. 573 angeführt. Die innere Decke soll durch den Schmuck eines Sternes auf den einzelnen Deckplatten an das Himmelsgewölbe erinnern: der ideale Raum wiederholt in sich auch das Bild des Himmels im natürlichen. Das Dach zieren die aufgeschlagenen, Blumen darstellenden Stirn- und Firstziegel, die wasserausspeienden Löwen- köpfe, den Giebel die Akroterien (große Blumen, Greife u. dgl.), welche das letzte Ausathmen der Höhe-Richtung versinnlichen. Die Löwenköpfe gehören als thierische Formen schon in das Feld der eigentlichen Plastik.
uns nicht völlig überzeugen. Der Würde des Steinbaus verſchlägt ohne- dieß die freie Beibehaltung einer ſolchen Reminiſcenz als künſtleriſchen Motivs ebenſowenig, als die Aufnahme von Motiven eines Prachtzeltes, wie man ſie an andern Theilen der Gliederung nachzuweiſen ſucht. Die Triglyphe, die Stütze des Kranzgeſimſes, iſt als kurze Wiederholung des aufſtrebend Tragenden in der Säule mit jenen dem Pflanzenſtengel ent- nommenen Schlitzen gefurcht. Das Kranzgeſimſe namentlich führt uns auf die eigentlichen Glieder, die wir ebenfalls aus §. 572 kennen. Der ägyptiſche Styl hat ihre wuchernde Ueberfülle eingeſchränkt, aber bis zur Armuth. Im griechiſchen Bau iſt die Armuth wieder zu wohl gemeſſener Fülle entwickelt und jedes einzelne Glied hat innere Nothwendigkeit; es ſymboliſirt frei, aber mit der bezeichnendſten Form, die denkbar iſt, die ſtructive Function. So umſäumen reich und doch ſparſam die Glieder alle Theilungen des Gebäudes, laſſen nichts nackt und ſtoffartig. Statt weiteren Eingehens heben wir nur hervor, daß die Welle jetzt nicht mehr als kelchförmiges Kapitell, ſondern, den Druck des laſtenden Dachs zu charakteriſiren, namentlich am Traufgeſimſe auftritt und daß die ſenk- recht einfaſſenden Rundſtäbe verſchwunden ſind, weil die äußerſten Enden des Baus nicht einer letzten Zierde bedürftige Mauern, ſondern Säulen ſind. Die Glieder nun blühen durch gewiſſe eingeritzte und bemalte oder wirklich geſchnitzte Formen, die zum Theil ihr urſprüngliches Motiv dar- ſtellen, zum Theil ſich nur als entſprechendſter Anklang nachträglich an- legen (vergl. §. 572 Anm.), in das Ornament hinüber: es ſind Blumen, Blätter, Zeichnungen von Gewirktem, Geflochtenem u. dgl. Um den or- ganiſchen Schönheitsſinn der Griechen ins Licht zu ſetzen, fügen wir zu den Bemerkungen jenes §. nur noch hinzu, wie naturgemäß der Abakus des Kranz- und Giebel-Geſimſes mit dem Ornamente der Waſſerwoge, die Kymatien mit Blumen (Anthemien) und überfallenden Blättern, die horizontalen Platten und Bänder mit Mäander-Tänien (kopfſchmuck-artigen Wirkereien), Perlenſchnüren, an ihrer Unterſeite mit ſtarken geflochtenen Gurtbändern verziert ſind. In dieſen Ornamenten findet denn Bötticher die künſtleriſche Reminiſcenz der Zeltdecke; Sempers Erklärung aller Ornamentirung der Verſchlüſſe aus der urſprünglichen Kunſt der Matten- flechter und Teppichwirker iſt ſchon zu §. 573 angeführt. Die innere Decke ſoll durch den Schmuck eines Sternes auf den einzelnen Deckplatten an das Himmelsgewölbe erinnern: der ideale Raum wiederholt in ſich auch das Bild des Himmels im natürlichen. Das Dach zieren die aufgeſchlagenen, Blumen darſtellenden Stirn- und Firſtziegel, die waſſerausſpeienden Löwen- köpfe, den Giebel die Akroterien (große Blumen, Greife u. dgl.), welche das letzte Ausathmen der Höhe-Richtung verſinnlichen. Die Löwenköpfe gehören als thieriſche Formen ſchon in das Feld der eigentlichen Plaſtik.
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uns nicht völlig überzeugen. Der Würde des Steinbaus verſchlägt ohne-
dieß die freie Beibehaltung einer ſolchen Reminiſcenz als künſtleriſchen
Motivs ebenſowenig, als die Aufnahme von Motiven eines Prachtzeltes,
wie man ſie an andern Theilen der Gliederung nachzuweiſen ſucht. Die
Triglyphe, die Stütze des Kranzgeſimſes, iſt als kurze Wiederholung des
aufſtrebend Tragenden in der Säule mit jenen dem Pflanzenſtengel ent-
nommenen Schlitzen gefurcht. Das Kranzgeſimſe namentlich führt uns
auf die eigentlichen Glieder, die wir ebenfalls aus §. 572 kennen. Der
ägyptiſche Styl hat ihre wuchernde Ueberfülle eingeſchränkt, aber bis zur
Armuth. Im griechiſchen Bau iſt die Armuth wieder zu wohl gemeſſener
Fülle entwickelt und jedes einzelne Glied hat innere Nothwendigkeit; es
ſymboliſirt frei, aber mit der bezeichnendſten Form, die denkbar iſt, die
ſtructive Function. So umſäumen reich und doch ſparſam die Glieder
alle Theilungen des Gebäudes, laſſen nichts nackt und ſtoffartig. Statt
weiteren Eingehens heben wir nur hervor, daß die Welle jetzt nicht mehr
als kelchförmiges Kapitell, ſondern, den Druck des laſtenden Dachs
zu charakteriſiren, namentlich am Traufgeſimſe auftritt und daß die ſenk-
recht einfaſſenden Rundſtäbe verſchwunden ſind, weil die äußerſten Enden
des Baus nicht einer letzten Zierde bedürftige Mauern, ſondern Säulen
ſind. Die Glieder nun blühen durch gewiſſe eingeritzte und bemalte oder
wirklich geſchnitzte Formen, die zum Theil ihr urſprüngliches Motiv dar-
ſtellen, zum Theil ſich nur als entſprechendſter Anklang nachträglich an-
legen (vergl. §. 572 Anm.), in das Ornament hinüber: es ſind Blumen,
Blätter, Zeichnungen von Gewirktem, Geflochtenem u. dgl. Um den or-
ganiſchen Schönheitsſinn der Griechen ins Licht zu ſetzen, fügen wir zu
den Bemerkungen jenes §. nur noch hinzu, wie naturgemäß der Abakus
des Kranz- und Giebel-Geſimſes mit dem Ornamente der Waſſerwoge,
die Kymatien mit Blumen (Anthemien) und überfallenden Blättern, die
horizontalen Platten und Bänder mit Mäander-Tänien (kopfſchmuck-artigen
Wirkereien), Perlenſchnüren, an ihrer Unterſeite mit ſtarken geflochtenen
Gurtbändern verziert ſind. In dieſen Ornamenten findet denn Bötticher
die künſtleriſche Reminiſcenz der Zeltdecke; Sempers Erklärung aller
Ornamentirung der Verſchlüſſe aus der urſprünglichen Kunſt der Matten-
flechter und Teppichwirker iſt ſchon zu §. 573 angeführt. Die innere Decke
ſoll durch den Schmuck eines Sternes auf den einzelnen Deckplatten an das
Himmelsgewölbe erinnern: der ideale Raum wiederholt in ſich auch das
Bild des Himmels im natürlichen. Das Dach zieren die aufgeſchlagenen,
Blumen darſtellenden Stirn- und Firſtziegel, die waſſerausſpeienden Löwen-
köpfe, den Giebel die Akroterien (große Blumen, Greife u. dgl.), welche
das letzte Ausathmen der Höhe-Richtung verſinnlichen. Die Löwenköpfe
gehören als thieriſche Formen ſchon in das Feld der eigentlichen Plaſtik.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/130>, abgerufen am 16.07.2024.
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