Fall falscher Verknüpfung einer empirisch einzelnen Anschauung mit einem durch Erinnerung und Sage verallgemeinerten, idealisirten Bilde einer Einzelperson und nützlich zur näheren Bestimmung unseres Satzes, daß die Schöpfung des Ideals ausgehen müsse von der Findung eines naturschönen Gegenstandes (§. 393); denn wenn es sich von einem großen historischen Stoff aus der Vergangenheit handelt und Porträts von den darin auftretenden Personen nicht erhalten sind, so kann dieser Satz nur bedeuten, daß das Bild desselben in der Form der Ueberliefe- rung (§. 386) vor die Phantasie tretend sie begeistere, Erscheinungen aus der Gegenwart und wirklichen Anschauung können dabei nur nachträglich, sofern sie dem in der Phantasie frei aufgetauchten Bilde entsprechen, als nachhelfende Momente benützt werden, überhaupt aber geht es nicht wohl an, Charaktere aus der Vergangenheit oder alten Sage, von denen kein Bild- niß fixirt ist, vereinzelt und ohne Handlung als Porträt darzustellen. Gewöhnlich jedoch zeigt ein unter Abhängigkeit vom Modell entstandenes Kunstwerk den entgegengesetzten Mangel: der Künstler sieht dem Modell nur allgemeine Formen ab und bringt ein abstractes Bild ohne Indivi- dualität zu Stande, ja sogar das Nationale verwischt sich und die Act- zeichnungen aller europäischen Akademieen gleichen sich auffallend (vergl. Rumohr a. a. O. Th. I. S. 69). Dieß hat seinen Grund in der Ertödtung aller Zufälligkeit, also auch Individualität durch die Absichtlichkeit der Stellung des Models und in dem das allgemeine Schema der Formen und Bewegungen aus dem Individuellen kalt heraussuchenden Auge des in solcher Weise abhängigen Künstlers. Der Ausdruck der Gespanntheit, Affectation und Abspannung kommt hinzu und gibt einem so entstandenen Bilde den Charakter der Gliederpuppe. Darum ist aber nicht alle Benützung des Modells verwerflich; es stände auch schlimm, wenn es so wäre, da nicht abzusehen ist, woher dann der Künstler, namentlich bei der Dar- stellung des Nackten der moderne, die Mittel nehmen sollte, sich das Unbestimmte der blos innern Vorstellung zu ergänzen. Es muß etwas dem Aehnliches, was wir vom Porträtmaler gefordert haben, nur weiter und tiefer bei dem höheren Kunstwerke, mit dem Modell geschehen und der §. stellt dieß fest, indem er die Bedingung setzt, daß die allgemeine und die ausdrücklich einzelne Beobachtung des Lebens in der Wärme seiner sich nicht belauscht wissenden Zufälligkeit und das lebendige Ideal im Geiste des Künstlers als tragende und organisirende Kraft das Modell frei verarbeiten müße, so daß es, in den lebendigen Fluß der innern bildenden Thätigkeit gezogen, der darzustellenden Erscheinung seine Natur- bestimmtheit und Lebenswärme abgibt, während das im störenden Sinn Zufällige seiner Individualität und ebenso der todte Schematismus seiner Gezwungenheit von jenem innern Bilde wie von einem Feuer verzehrt
Vischer's Aesthetik. 3. Band. 6
Fall falſcher Verknüpfung einer empiriſch einzelnen Anſchauung mit einem durch Erinnerung und Sage verallgemeinerten, idealiſirten Bilde einer Einzelperſon und nützlich zur näheren Beſtimmung unſeres Satzes, daß die Schöpfung des Ideals ausgehen müſſe von der Findung eines naturſchönen Gegenſtandes (§. 393); denn wenn es ſich von einem großen hiſtoriſchen Stoff aus der Vergangenheit handelt und Porträts von den darin auftretenden Perſonen nicht erhalten ſind, ſo kann dieſer Satz nur bedeuten, daß das Bild desſelben in der Form der Ueberliefe- rung (§. 386) vor die Phantaſie tretend ſie begeiſtere, Erſcheinungen aus der Gegenwart und wirklichen Anſchauung können dabei nur nachträglich, ſofern ſie dem in der Phantaſie frei aufgetauchten Bilde entſprechen, als nachhelfende Momente benützt werden, überhaupt aber geht es nicht wohl an, Charaktere aus der Vergangenheit oder alten Sage, von denen kein Bild- niß fixirt iſt, vereinzelt und ohne Handlung als Porträt darzuſtellen. Gewöhnlich jedoch zeigt ein unter Abhängigkeit vom Modell entſtandenes Kunſtwerk den entgegengeſetzten Mangel: der Künſtler ſieht dem Modell nur allgemeine Formen ab und bringt ein abſtractes Bild ohne Indivi- dualität zu Stande, ja ſogar das Nationale verwiſcht ſich und die Act- zeichnungen aller europäiſchen Akademieen gleichen ſich auffallend (vergl. Rumohr a. a. O. Th. I. S. 69). Dieß hat ſeinen Grund in der Ertödtung aller Zufälligkeit, alſo auch Individualität durch die Abſichtlichkeit der Stellung des Models und in dem das allgemeine Schema der Formen und Bewegungen aus dem Individuellen kalt herausſuchenden Auge des in ſolcher Weiſe abhängigen Künſtlers. Der Ausdruck der Geſpanntheit, Affectation und Abſpannung kommt hinzu und gibt einem ſo entſtandenen Bilde den Charakter der Gliederpuppe. Darum iſt aber nicht alle Benützung des Modells verwerflich; es ſtände auch ſchlimm, wenn es ſo wäre, da nicht abzuſehen iſt, woher dann der Künſtler, namentlich bei der Dar- ſtellung des Nackten der moderne, die Mittel nehmen ſollte, ſich das Unbeſtimmte der blos innern Vorſtellung zu ergänzen. Es muß etwas dem Aehnliches, was wir vom Porträtmaler gefordert haben, nur weiter und tiefer bei dem höheren Kunſtwerke, mit dem Modell geſchehen und der §. ſtellt dieß feſt, indem er die Bedingung ſetzt, daß die allgemeine und die ausdrücklich einzelne Beobachtung des Lebens in der Wärme ſeiner ſich nicht belauſcht wiſſenden Zufälligkeit und das lebendige Ideal im Geiſte des Künſtlers als tragende und organiſirende Kraft das Modell frei verarbeiten müße, ſo daß es, in den lebendigen Fluß der innern bildenden Thätigkeit gezogen, der darzuſtellenden Erſcheinung ſeine Natur- beſtimmtheit und Lebenswärme abgibt, während das im ſtörenden Sinn Zufällige ſeiner Individualität und ebenſo der todte Schematismus ſeiner Gezwungenheit von jenem innern Bilde wie von einem Feuer verzehrt
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 6
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Fall falſcher Verknüpfung einer empiriſch einzelnen Anſchauung mit einem
durch Erinnerung und Sage verallgemeinerten, idealiſirten Bilde einer
Einzelperſon und nützlich zur näheren Beſtimmung unſeres Satzes,
daß die Schöpfung des Ideals ausgehen müſſe von der Findung eines
naturſchönen Gegenſtandes (§. 393); denn wenn es ſich von einem
großen hiſtoriſchen Stoff aus der Vergangenheit handelt und Porträts
von den darin auftretenden Perſonen nicht erhalten ſind, ſo kann dieſer
Satz nur bedeuten, daß das Bild desſelben in der Form der Ueberliefe-
rung (§. 386) vor die Phantaſie tretend ſie begeiſtere, Erſcheinungen aus
der Gegenwart und wirklichen Anſchauung können dabei nur nachträglich,
ſofern ſie dem in der Phantaſie frei aufgetauchten Bilde entſprechen, als
nachhelfende Momente benützt werden, überhaupt aber geht es nicht wohl
an, Charaktere aus der Vergangenheit oder alten Sage, von denen kein Bild-
niß fixirt iſt, vereinzelt und ohne Handlung als Porträt darzuſtellen.
Gewöhnlich jedoch zeigt ein unter Abhängigkeit vom Modell entſtandenes
Kunſtwerk den entgegengeſetzten Mangel: der Künſtler ſieht dem Modell
nur allgemeine Formen ab und bringt ein abſtractes Bild ohne Indivi-
dualität zu Stande, ja ſogar das Nationale verwiſcht ſich und die Act-
zeichnungen aller europäiſchen Akademieen gleichen ſich auffallend (vergl.
Rumohr a. a. O. Th. I. S. 69). Dieß hat ſeinen Grund in der Ertödtung
aller Zufälligkeit, alſo auch Individualität durch die Abſichtlichkeit der
Stellung des Models und in dem das allgemeine Schema der Formen
und Bewegungen aus dem Individuellen kalt herausſuchenden Auge des
in ſolcher Weiſe abhängigen Künſtlers. Der Ausdruck der Geſpanntheit,
Affectation und Abſpannung kommt hinzu und gibt einem ſo entſtandenen
Bilde den Charakter der Gliederpuppe. Darum iſt aber nicht alle
Benützung des Modells verwerflich; es ſtände auch ſchlimm, wenn es ſo
wäre, da nicht abzuſehen iſt, woher dann der Künſtler, namentlich bei der Dar-
ſtellung des Nackten der moderne, die Mittel nehmen ſollte, ſich das
Unbeſtimmte der blos innern Vorſtellung zu ergänzen. Es muß etwas
dem Aehnliches, was wir vom Porträtmaler gefordert haben, nur weiter
und tiefer bei dem höheren Kunſtwerke, mit dem Modell geſchehen und
der §. ſtellt dieß feſt, indem er die Bedingung ſetzt, daß die allgemeine
und die ausdrücklich einzelne Beobachtung des Lebens in der Wärme
ſeiner ſich nicht belauſcht wiſſenden Zufälligkeit und das lebendige Ideal
im Geiſte des Künſtlers als tragende und organiſirende Kraft das
Modell frei verarbeiten müße, ſo daß es, in den lebendigen Fluß der innern
bildenden Thätigkeit gezogen, der darzuſtellenden Erſcheinung ſeine Natur-
beſtimmtheit und Lebenswärme abgibt, während das im ſtörenden Sinn
Zufällige ſeiner Individualität und ebenſo der todte Schematismus ſeiner
Gezwungenheit von jenem innern Bilde wie von einem Feuer verzehrt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/93>, abgerufen am 16.02.2025.
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